Der Kaiser von Utopia

30. Die Rechtszentrale

no images were found

»Nanu«, sagte der Herr Bartmann in der Rechtszentrale am Schwantuflusse, »was wollen Sie denn von mir?«
Der Angeredete, ein alter Kontrollbeamter, zog eine Photographie aus der Westentasche und zeigte sie dem Herrn Bartmann und sagte lächelnd:
»Das sind Sie, nicht wahr, Herr Bartmann? Sie haben gestern Abend in einem Bierkeller, der nur achtzig Meilen von der Rechtszentrale entfernt ist, eine Bierrede gehalten und sich in dieser sehr abfällig über das Kaiserreich Utopia geäußert. Die Rede ist durch Automat aufgenommen mitsamt Ihrer Photographie und heute Morgen durch Rohrpost hierhergelangt. Sie, Herr Bartmann, sind mit Luftwagen hierhergekommen und augenscheinlich ein sogenannter Fremder. Alles, was Recht ist, aber das können Sie nicht verlangen, daß man in Utopia schlecht über Utopia reden darf – und somit wollte ich Sie bitten, mich zu meinem Betriebsdirektor zu begleiten.«
Herr Bartmann kraute sich hinter den Ohren, ihm wurde schwül zu Mute, er stotterte und sah sich nach seinem Luftwagen um. Aber der Kontrollbeamte meinte lächelnd:
»Es ist ja nichts Gefährliches. Strafen tun wir ja nicht in Utopia. Aber die Sache muß zur Diskussion gestellt werden. Ihre Rede hat interessiert. Durch solche Reden können Sie in Utopia berühmt werden.«
»Ich danke schön für den Ruhm!« rief der Herr Bartmann wütend aus.
»Danken Sie nicht zu früh«, versetzte der Beamte, »der Ruhm ist doch eine vortreffliche Ware.«
Sie standen am Ufer des Schwantuflusses, in der Mitte des Flusses stand auf einer länglich ellipsenförmigen Insel der Hauptturm der Rechtszentrale, und an jedem Ufer standen je drei Nebentürme der Rechtszentrale. Und diese sieben, hundert Stock hohen Türme waren durch Tausende von Brücken mit Fahrstühlen unter einander verbunden.
Und da fuhr denn der Herr Bartmann mit dem alten Kontrollbeamten sehr bald auf diesen Brücken herum, und die beiden Herren unterhielten sich über die Bedeutung der sieben Türme; der Beamte sprach nicht ohne Wichtigtuerei:
»In diesen sieben Türmen werden nur Manuskripte fabriziert; jeder Rechtsfall wird hier zu Papier gebracht, die Druckereien befinden sich auf den Hügeln ringsum, hinter denen sich, wie Sie sehen, die Stadt ausbreitet. Augenblicklich wird am meisten über unsern Kaiser Philander geschrieben, der sich ja, wie Sie wissen, in Schilda befindet und Garnichts von sich hören läßt.«
Der Herr Bartmann kraute sich abermals hinter den Ohren und sagte seufzend:
»Die Geschichte kann ja gut werden.«
»Haben Sie blos keine Furcht«, erwiderte lächelnd der Beamte, »in Utopia geht – Alles, was Recht ist – Alles mit rechten Dingen zu, und keinem Menschen wird ein Haar gekrümmt.«
Danach stellte der Beamte den Herrn Bartmann seinem Betriebsdirektor vor, der in einem Prachtsaale saß und gemütlich seine Zigarre rauchte.
Als nun der Herr Bartmann dem Herrn Betriebsdirektor allein gegenüber saß in einem köstlichen Ebenholzstuhle mit Emailmalereien, da fragte der Direktor seinen Gast höflich, während er ihm eine Zigarre anbot: »Wollen Sie das gestern Gesagte in allen Teilen aufrechterhalten?«
Herr Bartmann nickte und las sich noch einmal seine Rede durch und nickte wieder.
Da wurden denn sofort dreißig Regierungslitteraten vom Inhalte der Rede in Kenntnis gesetzt.
Und der Direktor plauderte danach mit seinem Gaste, als wäre Garnichts vorgefallen.
31. Kaiser Moritz der Blamierte
Der Zeremonieenmeister Kawatko sprach in der Versammlung des Staatsrates zu Ulaleipu das Folgende:
»Eine Kraftprobe, meine Herren, hat unser Staatsgebäude glänzend bestanden. Bereits vier Wochen sind es her, daß unser Kaiser Philander der Siebente die Regierungsgeschäfte in die Hände des Oberbürgermeisters von Schilda gelegt hat. Und diese recht kecke Handlungsweise hat den Utopianern bislang nicht ein Haar gekrümmt; wir können mit Zuversicht in die Zukunft blicken.«
Der Kaiser vereinigte in seiner Person die Macht von fünfzig Stimmen, die hundert Mitglieder hatten dagegen nur hundert Stimmen; wollte also der Kaiser etwas durchsetzen, so mußte er mindestens fünf und zwanzig Mitglieder des Staatsrates auf seiner Seite haben. Hatte der Kaiser nicht fünf und zwanzig Mitglieder des Staatsrates auf seiner Seite, so blieb dem Kaiser nur ein Appell ans Volk über.
Der stellvertretende Kaiser Moritz wollte nun zunächst die wirtschaftliche Stellung der Bewohner Schildas durch eine allgemeine Landessteuer befestigen. Da kam er aber beim Staatsrate schön an, kein Mitglied des Staatsrates trat auf die Seite des stellvertretenden Kaisers; Herr Malke, der Historiker, erklärte feierlich:
»Da es eine historische Tatsache ist, daß sich die Schildaer von der großen Staatsreligion der Utopianer lossagten, so sind die Schildaer auch von den wirtschaftlichen Wohltaten des utopianischen Staates abgeschnitten worden; die Utopianer helfen den Schildaern nicht, wenn es ihnen schlecht geht. Und somit erklären wir, daß eine Staatssteuer zu Gunsten der Stadt Schilda nicht von uns genehmigt wird.«
Der Kaiser Moritz appellierte sofort ans Volk – aber in fünf Broschüren wurde einstimmig die Idee des neuen Kaisers für undurchführbar erklärt – der Stellvertretende wurde ganz kalt daran erinnert, daß sich die Utopianer niemals verachten und dabei gleichzeitig anpumpen ließen.
Und der neue Oberbürgermeister von Schilda, den Alle für den Kaiser Philander hielten und der doch bloß der Herr Sebastian war, erklärte feierlich, daß die Schildaer nicht nötig hätten, die Utopianer anzubetteln. Und danach schenkte der neue Oberbürgermeister der Stadt Schilda zehn Tausend Reichstaler, und der Kaiser Moritz war der Blamierte.
Und ganz Utopia lachte über die erste Regierungshandlung des stellvertretenden Kaisers; der Moritz ärgerte sich.

 


31. Kaiser Moritz der Blamierte

no images were found

Der Zeremonieenmeister Kawatko sprach in der Versammlung des Staatsrates zu Ulaleipu das Folgende:
»Eine Kraftprobe, meine Herren, hat unser Staatsgebäude glänzend bestanden. Bereits vier Wochen sind es her, daß unser Kaiser Philander der Siebente die Regierungsgeschäfte in die Hände des Oberbürgermeisters von Schilda gelegt hat. Und diese recht kecke Handlungsweise hat den Utopianern bislang nicht ein Haar gekrümmt; wir können mit Zuversicht in die Zukunft blicken.«
Der Kaiser vereinigte in seiner Person die Macht von fünfzig Stimmen, die hundert Mitglieder hatten dagegen nur hundert Stimmen; wollte also der Kaiser etwas durchsetzen, so mußte er mindestens fünf und zwanzig Mitglieder des Staatsrates auf seiner Seite haben. Hatte der Kaiser nicht fünf und zwanzig Mitglieder des Staatsrates auf seiner Seite, so blieb dem Kaiser nur ein Appell ans Volk über.
Der stellvertretende Kaiser Moritz wollte nun zunächst die wirtschaftliche Stellung der Bewohner Schildas durch eine allgemeine Landessteuer befestigen. Da kam er aber beim Staatsrate schön an, kein Mitglied des Staatsrates trat auf die Seite des stellvertretenden Kaisers; Herr Malke, der Historiker, erklärte feierlich:
»Da es eine historische Tatsache ist, daß sich die Schildaer von der großen Staatsreligion der Utopianer lossagten, so sind die Schildaer auch von den wirtschaftlichen Wohltaten des utopianischen Staates abgeschnitten worden; die Utopianer helfen den Schildaern nicht, wenn es ihnen schlecht geht. Und somit erklären wir, daß eine Staatssteuer zu Gunsten der Stadt Schilda nicht von uns genehmigt wird.«
Der Kaiser Moritz appellierte sofort ans Volk – aber in fünf Broschüren wurde einstimmig die Idee des neuen Kaisers für undurchführbar erklärt – der Stellvertretende wurde ganz kalt daran erinnert, daß sich die Utopianer niemals verachten und dabei gleichzeitig anpumpen ließen.
Und der neue Oberbürgermeister von Schilda, den Alle für den Kaiser Philander hielten und der doch bloß der Herr Sebastian war, erklärte feierlich, daß die Schildaer nicht nötig hätten, die Utopianer anzubetteln. Und danach schenkte der neue Oberbürgermeister der Stadt Schilda zehn Tausend Reichstaler, und der Kaiser Moritz war der Blamierte.
Und ganz Utopia lachte über die erste Regierungshandlung des stellvertretenden Kaisers; der Moritz ärgerte sich.

 


32. Das Künstlerfest

no images were found

Die bildenden Künstler des Kaiserreichs Utopia hatten in den letzten Jahrzehnten eine große Vorliebe für die Kunstarten vergangener Epochen gezeigt und dementsprechend verschiedene alte Städte wieder so rekonstruiert, daß man hinter ihren Mauern glauben konnte, noch in einer alten lange vergangenen Vorzeit zu leben; es hatten sich auch viele Utopianer gefunden, die diese alten Städte im Kostüm der alten Zeiten bewohnten und dabei auch die Sitten dieser alten Zeiten so getreu wie möglich kopierten.
Diese antiquarische Geschmacksrichtung hatte aber auch ihr Gegenspiel erzeugt, und somit gabs auch sehr viele Maler, Bildhauer und besonders Architekten, die den lebhaften Wunsch besaßen, in einer Zukunftszeit zu leben.
Diese Zukunftszeit sollte sich ganz besonders durch transportable Häuser – und demnach auch durch transportable Städte auszeichnen. Naturgemäß konnte man so kostspielige Zukunftspläne nicht gleich in die reale Welt übersetzen. Es wurde daher beschlossen, zunächst ein Künstlerfest mit transportablen kleinen Restaurants zu arrangieren. Zwanzig sehr umfangreiche Fesselballons sollten die Restaurants in die Lüfte hinaufheben und da immer wieder in interessanter Gruppierung auf- und absteigen und so die Reize der transportablen Architektur zur Anschauung bringen.
Der Plan kam zur Ausführung, und die Künstler waren einfach entzückt – besonders in den warmen Sommernächten, wenn unten und oben tausend bunte elektrische Scheinwerfer die Luftstadt durchleuchteten.
Ganz Utopia interessierte sich für dieses Künstlerfest sehr lebhaft, und die Zahl der photographischen Aufnahmen von den einzelnen Luftrestaurants aus und auch solche vom Erdboden aus belief sich in den ersten vierzehn Tagen auf ungefähr siebzig Millionen; die antiquarische Richtung verlor der neuen Luftrichtung gegenüber immer mehr an Boden, und alle Welt war erstaunt und entzückt über die lebhafte Tätigkeit der utopianischen Künstlerwelt.
Nur dem Herrn Bartmann gefiel diese neue Richtung in der Kunst keineswegs, und seine abfällige Kritik erregte in den Künstlerkreisen nicht geringes Aufsehen. Seine heftige Rede im Bierkeller über die utopianische Schlaffheit und Faulheit hatte bereits ein großes Kopfschütteln überall erzeugt, die Künstler aber hielten es jetzt für angezeigt, diesem merkwürdigen Quengler ganz energisch entgegenzutreten.
Und es kam zwischen den ersten Architekten des Landes und dem Herrn Bartmann zu einer heftigen Auseinandersetzung – und natürlich hoch oben in den Lüften tausend Meter über dem Festplatze mitten in der Nacht, als die Scheinwerfer herumflirrten – wie die brennenden Blitzstrahlen von Riesendiamanten.
»Eine sehr äußerliche Kunstrichtung«, sagte der Herr Bartmann, » eine reindekorative Kunstrichtung – eine Raumkunst, aber keine Traumkunst. Wenn wir auch dadurch unsrer Erscheinungswelt immer wieder neue Seiten abgewinnen und wenn wir auch dadurch in mancher Beziehung sehr neue und sehr wertvolle Anregungen empfangen – verinnerlicht wird dadurch die Kunst keineswegs – sie wird im Gegenteil immer mehr veräußerlicht durch derartige Spielereien.«
Da gabs nun spitze Worte auf beiden Seiten, und der Herr Bartmann hatte einen schweren Stand; die Künstler setzten ihm klipp und klar auseinander, daß man der Kunst den Boden unter den Füßen fortzöge, wenn man die Kunst von der äußerlichen Erscheinungswelt trennen wollte.
Herr Bartmann aber erklärte nachdrücklich: »Wenn wir in einer äußerlichen Erscheinung das innere Leben herauszufühlen versuchen, so können wir sehr viel herausziehen; lassen wir aber immer wieder neue äußerliche Erscheinungen auf uns wirken, so werden wir nicht die Zeit finden, jeder einzelnen äußerlichen Erscheinung ins Innere zu schauen, und wir werden bald das Innere ganz über dem Äußeren vergessen. Sie wissen, meine Herren, daß ich nicht behaupte, wir könnten überirdische Geister irgendwo entdecken – Sie wissen, wie ich das Innere meine – Sie geben mir immer wieder zu, daß die Fülle der Erinnerungen und der unwillkürlich erzeugten Nebenvorstellungen jedes äußerliche Bild vertieft, verfeinert und zu einem sehr empfindlichen Darstellungsgegenstande macht. Würde sichs nicht empfehlen, dieser intimen Kunstrichtung mal mehr Raum zu schaffen? Durch Ihre Luftschlösser machen Sie alle intimen Bestrebungen einfach tot – Sie zerstreuen, statt zu konzentrieren – Sie geben nicht dadurch den grandiosen Eindruck des intensiven Naturlebens.«
Da widersprach man natürlich sehr heftig und erklärte, daß siebzig Millionen Photographieen von all den verschiedenen Luftsituationen uns doch wohl die Fülle des Lebendigen recht lebhaft verkörpern und daß es doch gradezu toll wäre, in dieser Luftkunst nicht die genügende Sensibilität zu erblicken.
»Nein, nein!« rief aber wieder der Herr Bartmann, »Sie töten damit die Sensibilität. Sie bringen nicht das fieberhafte grandiose Weltleben dadurch zur Empfindung. Auf diese Weise kommen Sie nicht hinter die Erscheinungswelt – nicht in das große ungeheuerliche innere Leben der Natur hinein. Sie müssen das Leben – das ungeheuerliche Leben erfassen – das Leben, das uns in den Sonnenprotuberanzen und in den allmächtigen Ätherschwingungen des Mikrokosmos entgegenrauscht – das müssen Sie erfassen – Sie müssen lebendiger Alles sehen – lebendiger!«
Herr Bartmann zitterte dabei, und seine Zuhörer traten seitwärts und erklärten ihn für übernervös und beschlossen ihn durch List in eine Besserungsanstalt zu schicken, in der überreizte Nerven durch einfache Tätigkeit und feine Ablenkung wieder normal werden.
Und die Künstler erklärten dem Herrn Bartmann, daß er sich wohl selber noch nicht ganz verstände; er müsse jedenfalls auf einem stillen Landsitze seinen Nerven eine Erholung gönnen. Und sie schlugen ihm vor, den Direktor einer Besserungsanstalt aufzusuchen, der grade für intime Kunst sehr viel übrig hätte.
Der Bartmann trank aus Ärger mehr als sonst und erklärte feierlich, daß ihn bisher noch nicht ein einziger Utopianer verstanden hätte – nicht ein einziger.

 


33. Die Besserungsanstalt

no images were found

Am nächsten Tage ließ sich der Herr Bartmann überreden, den Direktor der Besserungsanstalt aufzusuchen. Doch wie erschrak er da, als er einsah, daß da seine Nerven gebessert werden sollten.
Ih – da wurde der Herr Bartmann mächtig fuchtig und schimpfte auf die Künstler, was Zeug und Leder hielt.
»Hier sollen«, rief er aus, »die faulen Utopianer noch fauler werden! Wer ein bißchen lebhafter ist, der wird in eine Nervenbesserungsanstalt geschickt, damit er die verdammte Lebhaftigkeit wieder verliert.«
Der Prior eines Klosters war grade zugegen, als der Herr Bartmann über die Natur der Besserungsanstalt ins Klare kam; der sehr liebenswürdige und sehr gebildete Prior bat den Herrn Bartmann, doch mit ihm in sein Kloster zu kommen – da könnten sie ja über das Leben und über das Sterben das Längere und Weitere reden.
Und der Herr Bartmann steckte sich eine Zigarre an, pfiff sechs Mal ganz lange in einem hohen Tone und folgte der Einladung.

 


34. Das Kloster

no images were found

Zwei Tage weilte der Herr Bartmann in dem alten Kloster, das mitten in einem großen großen Garten lag. Der Prior des Klosters, der den Herrn Bartmann hierhergeführt, saß am Abend des zweiten Tages in seinem Bibliothekszimmer und schaute hinaus in die blühende Sommerpracht – Berge, Hügel, Felsen und Täler waren architektonisch reichgegliedert und boten mit ihren Blumenmassen ein sehr buntes und doch sehr stilles Bild; von den Maschinen, die bei der Gartenkultur verwendet wurden und die Handarbeit des Menschen fast gänzlich überflüssig machten, sah man nichts – aber die Bewohner des Klosters, nur Männer, gingen in den Laubengängen und über die Parkterrassen vereinzelt oder zu zweien.
Das Kloster übte keinerlei Zwang auf seine Bewohner aus; wer nicht mehr bleiben wollte, verließ das Kloster, und die da blieben, konnten tun und lassen, was sie mochten; nur bestimmte Vorschriften, die lediglich einer gegenseitigen gesellschaftlichen Rücksichtnahme entsprachen, mußten innegehalten werden; aufgenommen wurden in dem Kloster allerdings nur diejenigen, die von den Verwaltungsdirektoren auserwählt waren.
Und der Herr Bartmann kam zu dem Prior in sein Bibliothekszimmer, und dieser erklärte nun seinem Gast dieses:
»Es ist nicht richtig, wenn Sie, Herr Bartmann, überall in der Natur nur das ungeheure lebhafte Leben sehen wollen – die Natur zeigt uns auch ebenso viel Sterben, das lebhaft nicht genannt werden kann.«
Und die beiden Herren blickten lange hinaus in die friedliche Blumenlandschaft, die nicht lebhaft schien und auch nicht das Gegenteil vorstellte.
Der Herr Bartmann steckte sich wieder mal eine Zigarre an und dachte nach und sagte leise:
»Ich meine auch das Leben nicht so einfach, wie wirs auf der Erde mit unsern Augen zu sehen gewohnt sind. Wenn ich vom Leben in der Natur sprach, so wollte ich da das Wort Leben so aufgefaßt wissen, daß es auch das Sterben in sich einschließt.«
»Schon gut«, erwiderte der Prior, »indessen möchte ich doch bemerken, daß Sie grade überall eine sehr hochgespannte Lebhaftigkeit zu sehen wünschen, und dieser möchte ich eine weiche müde Schläfrigkeit gegenüberstellen. Diese Schläfrigkeit, Schlaffheit – diese große Stille ist doch auch in der Natur und ist doch auch sehr wohltuend. Und ich glaube, Sie können sagen, daß Sie die Aktivität suchen und ich die Passivität. Aber wenn ich als Geistlicher denke, so nehme ich die eine Seite der Natur ebenso gerne hin wie die andre. Das ist eben der priesterliche Standpunkt, der nicht zwischen den Dingen sondern über ihnen ist – so wie die Priester eigentlich über dem Kaiser und über dem Staatsrat stehen.«
Herr Bartmann war versucht, zu bemerken, daß er als Kaiser auch über den Priestern stehe – doch der Prior schien seine Gedanken zu erraten und sagte einfach:
»Wenn der Kaiser mit den Priestern Hand in Hand geht, dann steht er auch über den Priestern. Ob man dieses aber von unserem Kaiser Philander sagen kann, der sich jetzt in Schilda – grade in Schilda – augenscheinlich nur mit mathematischen Arbeiten befaßt – das erscheint mir noch sehr zweifelhaft.«
»Vom Sterben in der Natur«, sagte der Herr Bartmann, »habe ich als Mensch eigentlich keine Vorstellung, denn ich bin doch noch nicht gestorben – wenigstens weiß ich momentan noch nichts davon. Und deshalb halte ichs für notwendig, zunächst das Leben im Auge zu behalten.«
Der Prior lächelte und kam wieder auf die Passivität zu sprechen und meinte, der Herr Bartmann sollte mal sehen, auch der Passivität feinere Seiten abzugewinnen.
Herr Bartmann versprachs, aber die Geschichte lag ihm noch nicht, und er sehnte sich jetzt grade sehr nach einer sehr lebhaften Lebensfrische, und deshalb fuhr er in seinem Sebastianischen Luftwagen am nächsten Morgen zum nächsten Verkehrszentrum.

 


35. Das grosse Hotel

no images were found

Zum Abschiede hatte der Prior noch seinem Gaste feierlichst gesagt: »Vergessen Sie aber nicht, daß die übergroße Lebensfülle für uns nur die eine Seite der Natur darstellt. Ebenso energisch erscheint sie uns auch im Vergehenlassen.«
»Hoho!« versetzte da der Herr Bartmann, »die Natur ist also immer überall sehr energisch! Selbst die Selbstmordstimmungen sind wie alle Mordstimmungen immer sehr energisch.«
»Fragt sich noch!« rief der Prior, aber da fuhr der Herr Bartmann schon fort und war zur Mittagszeit im größten Hotel von ganz Utopia in einem Verkehrszentrum, das an Lebhaftigkeit nichts zu wünschen übrig ließ.
Hier machte der Herr Bartmann eine Reihe neuer Bekanntschaften und mußte erfahren, daß seine Reden im Luftrestaurant auf dem großen Künstlerfest sehr ungenau kolportiert waren; die Künstler hatten dem Herr Bartmann Dinge in den Mund gelegt, die er niemals geäußert hatte – bald sollte er ein Geisterseher sein – und bald eine Mönchsnatur. Aber grade diese Reden, die Alles entstellten und nach verschiedenen Seiten hin aufbauschten, machten den Herrn Bartmann zu einer berühmten Persönlichkeit, die von Neugierigen sehr bald überlaufen wurde.
Eines Morgens machte sich aber im Hotel eine große Unruhe bemerkbar; die Zeitungen brachten merkwürdige Nachrichten von der Sturmküste, dort sollte das Meer immerfort die Farbe wechseln und sehr unruhig sein, ohne daß ein Sturm ausbrach.
Der Herr Bartmann wollte mit seinem Luftwagen hinfahren, doch der Führer des Wagens weigerte sich, da die Sturmküste von allen Luftfahrzeugen der Stürme wegen gemieden wurde.
Und so fuhr der Herr Bartmann mit einem der schnellen elektrischen Züge auf einer Seilbahn zur Sturmküste, und viele Gäste des Hotels fuhren ebenfalls dorthin.

 


36. Das unruhige Meer

no images were found

An der Sturmküste, die aus gewaltigen, ganz steil zum Meere abfallenden Felsen bestand, war die Luft ganz still und sehr warm.
Das Meer zeigte, obgleich der ganze Himmel dunkelblau und ohne Wolken war, überall bunte Stellen, als wären große Teermassen hineingeworfen. Und dazu schäumten die Wellen ganz unregelmäßig, und einzelne Wellenberge erhoben sich plötzlich zu ungewöhnlicher Höhe. Und dazu gurgelte es überall, und ein seltsames Brausen ertönte, das offenbar nicht von den Wogenkämmen ausging.
Am Ufer waren Alle darüber einig, daß ein unterseeisches Ereignis vor sich gehe. Die Logierhäuser auf der Höhe der Strandfelsen wurden verlassen, da man mit vulkanischen Erschütterungen rechnen mußte. In jeder Minute kamen immer mehr Utopianer zur Sturmküste, und die Seilbahnen zeigten bald lange Reihen von elektrischen Wagen, die stehen blieben und von den Reisenden nicht verlassen wurden.
Als es Nacht geworden, machte das Meer einen unheimlichen Eindruck; bis auf Meilen hinaus flackerten immerzu bunte Stellen auf, und das Getöse ward immer stärker, als stürme ein furchtbarer Orkan über die Wasser. Und dabei blieb doch die Luft ganz still, und das wirkte so furchtbar unheimlich, daß viele Utopianer vorzogen, so schnell wie möglich wieder abzufahren.
Herr Bartmann wurde um Mitternacht von dem Herrn Citronenthal angesprochen, der in Begleitung des alten Herrn mit der Schnupftabaksdose auch zur Sturmküste geeilt war. Die drei Herren unterhielten sich sehr lebhaft über das bevorstehende Naturereignis, und der Herr Citronenthal sagte:
»Herr Bartmann, man spricht ja jetzt überall von Ihnen. Man bringt das unruhige Meer mit Ihren Äußerungen über intime Kunst zusammen. Sie wollten immer, daß die Utopianer das sähen, was hinter oder unter unsrer Erscheinungswelt liegt. Jetzt sind wir gezwungen, an das zu denken, was überall dahinter wirkt und darunter lebt.«
»Nicht doch!« versetzte Herr Bartmann, »so habe ichs nicht gemeint.«
Doch er kam nicht weiter: es zeigten sich plötzlich hellgrüne Streifen auf dem Meere, die strahlenförmig von einem Punkte wie Radspeichen ausgingen. Und dabei wurde das Meer zwischen den grünen Streifen dunkelviolett, und die dunkelvioletten Teile des Meeres bekamen zinnoberrote Flecke, die jedoch sehr rasch immer wieder verschwanden und an anderen Punkten auftauchten.
Ganz entsetzlich kams aber jetzt allen Utopianern vor, als das Meer immer ruhiger wurde, so daß schließlich das ganze Meerbrausen verstummte und dafür nur ein unheimliches unterseeisches Gurgeln hörbar blieb.

 


37. Das unterseeische Ereignis

no images were found

Die grünen Streifen verloren allmählich ihre grade Form und zogen sich bald im Zickzack durch das Meer, das immer heftiger zu leuchten begann und dann in unbeschreiblichen Farbenspielen aufflammte, daß den Utopianern fast die Augen geblendet wurden.
Und die Sterne verblaßten am Himmel.
Das Morgengrauen machte auch die Farbenspiele im Wasser blasser.
Und plötzlich brach ein Sturm los, daß den Utopianern die Kopfbedeckungen wegflogen.
Und in dem Punkte, von dem die grünen Streifen ausgegangen waren, stieg eine Wassersäule in die Luft, leuchtete ganz hellgrün und erreichte eine furchtbare Höhe.
Und aus der Spitze der grünen Säule flogen rotglühende Kugeln heraus in den Himmel hinauf.
Und danach schien sich das Meer aufzuheben, und es entstand in ein paar Sekunden eine zweite ungeheuerliche Wassersäule, die mindestens drei Meilen breit war – und nun auch eine ungeheure Höhe erreichte – und danach in weißen Strudeln zusammenstürzte.
Dabei brach der Sturm so heftig los, und gleichzeitig erzitterte der Felsenboden so furchtbar, daß alle Utopianer zu Boden stürzten.
Als die Gefallenen sich wieder aufrichteten, sahen sie das Meer nur als ungeheure Schaummasse, aus der immer wieder farbige Wolken herausqualmten, sodaß Allen Hören und Sehen verging.
Und dieses großartige Schauspiel hielt bis zum Sonnenuntergange an.
Und der Utopianer bemächtigte sich eine unbeschreibliche Erregung, die sich in ganz widersinnigen Vermutungen Luft machte.
So kam es, daß sich plötzlich die Nachricht verbreitete, dieses unterseeische Ereignis wäre ein von den Barbaren arrangierter Minenangriff – – und der Bartmann müßte Näheres darüber wissen.
Geheimpolizisten hatten auch zufällig den Bartmann entdeckt und ihn in heftigster Form zur Rede gestellt, und dabei sah Bartmann den Oberlotsen vom großen Leuchtturm vor sich, und der Oberlotse rief:
»Sie haben, mein Herr, vor einigen Wochen auf unserem Leuchtturm Längeres und Breiteres darüber geredet, was hinter der Erscheinungswelt zu suchen sei. Sie sind in verdächtiger Weise mit einem Luftwagen grade zum äußersten Leuchtturm gekommen, um wahrscheinlich zu spionieren.«
»Das ist ja lächerlich!« schrie der Bartmann.
Und er war nahe daran, zu erklären:
»Ich bin Euer Kaiser, Philander der Siebente!«
Daran wurde er aber durch das furchtbare Getöse, das jetzt mit erneuter Kraft losbrach und abermals alle Utopianer zu Boden warf, verhindert.

 


38. Die Kriegsingenieure

no images were found

Glücklicher Weise waren achtzig Kriegsingenieure zur Stelle, die von dem Verdachte erfuhren und sofort den Bartmann aus seiner schlimmen Lage befreiten; sie erklärten einstimmig, daß hier von Minenarbeit und Barbarentaten keine Rede sein könnte.
Bartmann aber war selbstverständlich der Mann des Tages geworden, und die Utopianer brachten jetzt die Bartmannschen Äußerungen über das, was hinter und unter der Erscheinung lebte, mit dem unterseeischen Ereignis in andrer Weise zusammen, und es machte sich überall die Meinung geltend, daß sich in diesem Bartmann doch wohl ein großes Ahnungsvermögen ausgebildet haben müßte. Währenddem erklärten die Kriegsingenieure heftig, daß sie für den Schutz des Kaiserreichs volle Garantieen böten; sämtliche Grenzbefestigungen seien im besten Stande und an Barbarenangriffe könne garnicht gedacht werden.
Nun waren aber mit der Grenzenbeschützung nur tausend Kriegsingenieure betraut; diese hatten aber so vollendete Maschinen in ihrer Hand, daß sie leicht nachweisen konnten, wie gut Utopia geschützt sei.
Ein Heer gabs in Utopia nicht; das ganze Grenzschutzwesen wurde von den tausend Kriegsingenieuren ganz allein geleitet.
Bartmann aber hörte, daß der Staatsrat zur Sturmküste kommen würde; und da zog ers doch vor, so schnell wie möglich davonzufahren, um nicht erkannt zu werden.
Die Schaumstrudel wurden nun allmählich weniger heftig; die Tätigkeit des unterseeischen Vulkans schien aufgehört zu haben. Und nach drei Tagen hörte man eines Morgens das Rauschen der Schaumstrudel langsam verklingen. Und als es nun heller Tag geworden war, sah man – statt des Meeres – einen großen Sumpf.

 


39. Der Sumpf

no images were found

Daß das Meer plötzlich verschwunden war, erzeugte nun selbstverständlich abermals eine gewaltige Aufregung im Kaiserreich Utopia. Und in kurzer Zeit kamen alle Utopianer, sobald sie nur die nötige Zeit hatten, zur Sturmküste, um sich das große Wunder anzusehen.
Der große Sumpf war es allerdings auch wert, angesehen zu werden, denn die Formationen, die er aufwies, hatten des Wunderbaren genug.
Zunächst machte sich der Sumpf durch unglaublich viele schillernde Farben bemerkbar, und dann veränderten sich die Schlammmassen immerzu – es schob und drängte sich das ganze Sumpfgebiet und blieb in ständiger Bewegung und erzeugte Hügel und Täler und kleine wandelnde Bergrücken, und besonders interessant waren plötzliche Trichterbildungen, die für kurze Zeit gestatteten, tief ins Innere zu blicken.
Aber die trichterförmigen Versenkungen verschwanden immer wieder, und die Mitglieder des Staatsrates und die Männer der Wissenschaft standen ganz ratlos vor diesem Schlammreich, und auch der Kaiser Moritz sagte blos:
»Das ist ein Sumpf, in dem wir Alle zu Grunde gehen könnten.«
Von dieser Bemerkung nahm man aber kaum Notiz.

 


image_pdfimage_print