Der Kaiser von Utopia

40. Der ungeduldige Staatsrat

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Die Mitglieder des Staatsrates waren nun auch sämtlich zur Sturmküste gekommen, um das große Naturwunder anzustaunen; das Meer trat immer weiter zurück, und die Schlammberge des Sumpfes blieben in ständiger Bewegung, und von Männern der Wissenschaft wurde immer wieder die Frage erwogen, ob neue Ausbrüche des Erdinnern zu erwarten seien.
Der Utopianer bemächtigte sich eine immer heftigere Erregung, und von vielen Seiten wurde nach dem alten Kaiser Philander verlangt, der doch sonst bei viel weniger wichtigen Gelegenheiten niemals mit interessanten Meinungsäußerungen zurückgehalten hatte.
Und der Staatsrat beschloß dementsprechend, sehr ungeduldig zu tun und beim Kaiser Philander in Schilda anzufragen, was jetzt geschehen solle.
Diese Anfrage schien ganz natürlich, da der Kaiser Moritz in sehr mißgelaunter Stimmung nach Ulaleipu zurückgefahren war.
Aber aus Schilda kam nur ein kurzes Telegramm des folgenden Inhalts:
»Der Kaiser Philander hat wirklich keine Zeit, sich mit Naturereignissen, an denen er nichts ändern kann, zu beschäftigen. Danken wir dem Geiste, der Alles lenkt, für das größere Naturereignis, das darin besteht, daß allen Utopianern kein Haar dabei gekrümmt worden ist. Hoffen wir, daß die Utopianer auch für die Folge gesund bleiben. Man beachte, daß Sumpfgegenden stets ungesunde Dünste ausströmen, und demnach verhindre man, daß die Neugierigen zu lange an der Sturmküste verweilen.«
Dieses Telegramm trug keine Unterschrift und zur Beruhigung der Gemüter nicht viel bei; die Bemerkung von der ungesunden Sumpfluft wurde vielfach erörtert, und der Staatsrat sauste schleunigst mit den elektrischen Hofwagen nach der Hauptstadt des Landes, allwo er auch fürderhin äußerlich sehr ungeduldig tat, ohne es innerlich zu sein, da die Tatenlosigkeit des Kaisers in Schilda allen Mitgliedern des Staatsrats sehr wohltuend vorkam.

 


41. Der kaltgestellte Humorist

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Der Kaiser Moritz schrieb währenddem an Frau Lotte Wiedewitt, Gemahlin des Kaisers von Utopia, den nachstehenden Brief:
»Liebes Lottchen! Jetzt bin ich schon volle acht Wochen Kaiser, und Du denkst sicherlich, ich schwimme hier in der reinsten Glückseligkeit. Das ist aber nicht der Fall. Ich finde mich in meiner neuen Stellung einfach nicht zurecht. Die Leute sind hier zu ernst. Ich hoffte, für die Stadt Schilda etwas Vernünftiges tun zu können – das ist mir aber, wie du wohl erfahren hast, total mißglückt. Nun sind mir noch manche launige Einfälle gekommen – aber der gute Staatsrat kam meinen launigen Einfällen nicht freundlich entgegen. Ich bin in Schilda zu Hause und nicht im ernsten Ulaleipu. Hier ist Alles sehr prächtig und sehr praktisch eingerichtet. Staatsverbesserungen kann ich also nicht vornehmen. Und für Staatsverulkungen hat man hier keinen Sinn. Ich habe hier das Lachen verlernt. Ich bin kaltgestellt. Ich pfeife im Grunde genommen auf allen Luxus und auf alle Bequemlichkeiten ganz energisch. Schließlich ist auch dieses Wohlleben nur eine Beengung der Gedanken. Und darum sehne ich mich nach Dir, liebes Lottchen. Du mußt mir das Lachen wieder beibringen. Der Sumpf an der Sturmküste hat hier die Situation noch ernster gemacht. Die Erhebung des Meeres muß ja wohl kolossal ausgesehen haben; die kinematographischen Bilder wirken ja einfach niederschmetternd.
Was soll ich aber, der ich doch eigentlich Moritz Wiedewitt heiße, dazu sagen? Ich wundre mich nur, daß man bei all der Aufregung und bei den Erderschütterungen so viel photographieren konnte. Ich habe so die Ahnung, als könnte uns der große Sumpf ein großes Unglück bringen. Und darum komm schnell her. Du bist mir jetzt wichtiger als ganz Utopia. Ich bin wirklich in sorgenvoller Stimmung und ganz wider meinen Willen zu ernst geworden. Setz Dich gleich in den nächsten Zug und komme her. Telegraphiere und komme! Ich bin Dein lieber Moritz
Kaiser von Utopia und Trauerklops.«
Und die Lotte Wiedewitt telegraphierte und kam.

 


42. Der Astronom

Als die Lotte nun nach Ulaleipu fuhr, war der Herr Bartmann auf der großen Sternwarte im alten Schneegebirge und hatte dort die Sturmküste und den beweglichen Sumpf beinahe schon vergessen; Herr Bartmann sprach fast den ganzen Tag mit dem Astronomen Haberland; diese beiden Herren schienen ganz unzertrennlich zu sein.
Herr Haberland entwickelte dem Herrn Bartmann Theorieen über die Natur der menschlichen Sinnesvorstellungen und über die verschiedenen Arten des Denkens:
»Denken ist«, sagte Herr Haberland, »natürlich nur ein Verknüpfen von Sinnesvorstellungen; der Philosoph verknüpft zumeist nur Formeln, die die Gestalt von Worten annehmen, der bildende Künstler verknüpft die Augenvorstellungen, aber der Gärtner verknüpft bereits Geruchsvorstellungen – und der Koch Geschmacksvorstellungen. Die beiden Letzteren pflegen ihre Gedankentätigkeit nicht mit vollem Bewußtsein auszuüben, aber ihre Gedankentätigkeit läßt sich trotzdem nachweisen. Nun läßt sich aber die Gedankentätigkeit des Gärtners und des Kochs, wenn auch in sehr geringem Maße doch bei jedem Menschen nachweisen. Das Denken mit den andern Sinnen, die nicht Auge und Ohr sind, nennen wir gemeinhin unbewußtes Denken – man sollte sagen: schwer kontrollierbares Denken. Dieses spielt im sogenannten Traumzustande die Hauptrolle. Aber der sogenannte Traumzustand spielt wieder in unsrem Leben die Hauptrolle; der wachende Zustand, in dem nur Auge und Ohr in Gedankentätigkeit befindlich sind, könnte beinahe als Ausnahmezustand betrachtet werden. Sie werden mir das, Herr Bartmann, schnell unterschreiben, wenn Sie eingesehen haben, daß das, was Sie hinter jedem Augeneindruck suchen – eigentlich nur auf die Fixierung der unbewußten Geruchs-Geschmacks-Gefühlsempfindungen ausgeht. Die unbewußte Verknüpfung dieser Empfindungen sowohl unter einander wie auch mit dem Augeneindruck – macht diesen intim. Die sogenannte Gehirntätigkeit, die von den andern Sinnen ausgeht, macht die bewußte Tätigkeit des Auges erst interessant, bedeutsam, reich, geheimnisvoll, großartig, intensiv und glitzernd. Und somit wissen Sie jetzt, Herr Bartmann, was Sie eigentlich wollen und suchen: die Mittätigkeit der andern Sinne wollen Sie ins Bewußte hinaufziehen.«

 


43. Der Nachthimmel

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Dem Herrn Bartmann fiels plötzlich wie Schuppen von den Augen; der Astronom Haberland kam ihm wie ein Erlöser vor. Und es währte lange, bis sich die Natur des Herrn Bartmann wieder konzentriert hatte; er kam sich so aufgelöst vor – er verglich sich mit einem Knoten, der von der Hand eines Zauberers ganz leicht auseinandergelöst wurde und nun als einfaches schlappes Tau daliegen muß und für Andre kein weiteres Interesse bietet.
Und der sonst so stolze Kaiser Philander verlor in ein paar Stunden sein ganzes Selbstbewußtsein, daß er dem Herrn Haberland mit einer Demut und Ehrfurcht begegnete, die etwas Kindliches hatte und sehr fein berührte.
Und so gingen die beiden Herren eines Abends im Schnee auf dem großen Balkon lebhaft gestikulierend auf und ab; sie hatten dicke Pelze und Pelzhandschuhe an und achteten nicht auf die rot glühenden Schneekuppen der großen Berge ringsum und auch nicht auf die Sterne des Himmels, die nacheinander sichtbar wurden und mächtig funkelten.
»Es handelt sich«, meinte Herr Haberland, »sicherlich immer wieder darum, die unbewußten Empfindungen und Vorstellungsverknüpfungen, die wir auch als Gedankenoperationen bezeichnen müssen, ins bewußte Augen- und Ohrenleben hineinzuziehen; wir müssen uns eben bemühen, immer mehr zu erwachen – um das aber zu können, müssen wir immer lebhafter die Traumzustände und die Tätigkeit der Sinne, die nicht Auge und Ohr sind, aus dem Dunkel der Nacht in die helle Beleuchtung rücken.«
Jetzt funkelte der Nachthimmel ganz hell, und die roten Gluten in den Berggipfeln wurden dunkler und dunkler, und der Herr Bartmann erwiderte erregt:
»Das ist die Beleuchtung dessen, was ich erstrebte; ich habe immer in unsicheren Konturen gefühlt, daß wir hinter die Sinneseindrücke kommen müßten; ich meinte natürlich nur: hinter die Augeneindrücke; die Ohreindrücke beachtete ich noch garnicht. Sie haben mir, Herr Haberland, das Allerwichtigste in meinem Leben gesagt; ich glaube tatsächlich, daß zunächst die Tätigkeit der anderen Sinne dem Augeneindruck einen Hintergrund gibt. Jawohl! Jawohl! Was für uns hinter dem einfachen Augeneindruck lauert – das sind immer die anderen Sinnesvorstellungen, die bei dem Augeneindruck mittätig sind, ohne daß wir ihre Mittätigkeit genau kontrollieren können. Aber nun die anderen Sinne! Glauben Sie nicht, daß wir noch andre Sinne haben können, von deren Dasein wir vorläufig noch keine genauere Vorstellung besitzen?«
Der Nachthimmel leuchtete, und der Herr Haberland erwiderte sehr schnell:
»Sie gehen zu schnell vor! Sie dürfen nicht vergessen, daß es die Idee unsres Schöpfers sein kann, uns allmählich immer wacher zu machen – aber nur allmählich – allmählich – damit wir auch Zeit haben, den ganzen Vorstellungsrausch, den uns das Weltleben bieten kann, in uns aufzunehmen. Es gehört was dazu, Herr Bartmann. Es wäre doch schlimm, wenn Alles so ohne Mühe ins bewußte kleine Augenleben umgesetzt werden könnte – wenn Alles so leicht kontrollierbar wäre – das würde uns doch keine Vorstellung von der Grandiosität des uns sich nähernden Weltlebens bieten.«
»Schon richtig«, erwiderte Herr Bartmann, »aber springen wir doch einmal. Gibt es im Traumzustande unbewußtes Weiterarbeiten der Sonne, so gibt es vielleicht im Todeszustande auch ein unbewußtes Weiterarbeiten der Sinne. Und vielleicht haben wir mal alle unsre Todeszustande ebenso gut in das Tageslicht des kleinen Auges hinüberzuziehen wie unsre Traumzustände. Können Sie sich unkontrollierbare Vorstellungsverknüpfungen im Todeszustande denken? Können Sie glauben, daß die Leiche eigentlich noch weiter lebt – ein anderes Leben?«
Die Sterne funkelten hoch über den beiden Herren, die mit ihren Pelzstiefeln durch den hohen Schnee stampften und sich dabei die Hände in den Pelzhandschuhen rieben, da es sehr kalt war. Und Herr Haberland sagte leise:
»Wie die Sterne leben, wissen wir auch nicht ordentlich. Aber daß sie leben, ist uns nicht zweifelhaft. Oh ja! Der Traumzustand, in dem wir uns befinden, ist für uns richtunggebend – das Leichenleben wird ein ähnliches sein wie das Leben im Traumzustande – ein entfernt ähnliches. Ich glaube, wir werden bald überzeugt sein, daß wir früher schon sehr oft gestorben sind. Ich glaube an eine Materialisation unsres Geistes – der könnte doch eine Ätherkomposition sein, die wir vorläufig mikroskopisch noch nicht wahrzunehmen vermögen. Manche Sterne kommen uns auch wie Leichen vor – wie Knochengerippe – und es ist doch nicht anzunehmen, daß sie tot sind. Ich glaube überhaupt nicht an den Tod.«
Da stürzten dem Herrn Bartmann die Tränen aus den Augen und froren auf der Backe an.
Herr Haberland aber fuhr fort:
»Sehen Sie blos, wie prächtig über uns die Sterne funkeln und blitzen! Was die erst im Traumzustande und im sogenannten Todeszustande erleben müssen! Aber seien wir nicht neidisch! Wir können wahrlich schon genug mit unsern Sinnen empfinden – wachend sowohl – wie träumend. Jawohl! Wir müssen immer weiter aufwachen. Wir müssen auch das Totsein dem Lebendsein immer mehr zu nähern suchen. Vielleicht entdecken wir in uns noch Dinge, die wir in früheren Todeszuständen in uns aufgenommen haben – und vermögen sie, unserm Augen- und Ohrleben anzupassen. Oh, wir können tatsächlich noch viel lebendiger werden – dazu brauchen wir noch garnicht einmal neue Sinne in uns zu entdecken. Es läßt sich doch alles Mögliche für jeden Sinn vernehmlich gestalten. Was da ist, läßt sich auch für jeden Sinn empfindbar machen. Wenigstens sollte mans meinen. Daß das nicht so schnell geht, ist ganz vortrefflich – denn wir haben schon genug des Feinen, wenn wir nur Auge und Ohr genügend schärfen und die anderen Sinne nicht vergessen.«
»Könnten Sie«, bemerkte da Herr Bartmann, »wohl annehmen, daß diejenigen Leute, die sich nicht bemühen, aus ihrem Leben die denkbar größte Fülle eines sogenannten Weltlebens herauszuziehen – daß diejenigen Leute, die zu faul sind dazu, durch längere Todeszustände bestraft werden könnten – oder überhaupt von jedem ferneren Erwachen ausgeschlossen werden könnten?«
»Von jedem nicht«, versetzte Herr Haberland, »denn der Geist, der uns schuf und uns sicherlich immerzu führt, hat ganz bestimmt keine kleinlichen rachsüchtigen Gedanken. Er straft nur, wenn wir ihn nicht empfinden, durch trübe Stimmungen. Aber diese trüben Stimmungen sollen uns nur wieder veranlassen, seine Nähe zu suchen.«
»Also«, rief nun der Herr Bartmann, »ist es jedenfalls ganz richtig von mir gewesen, wenn ich immer sagte, man müsse das Leben überall heftiger sehen; ich wollte ja nur populär ausdrücken, daß wir immer wacher – immer wacher leben sollten.«
»Ja«, versetzte Herr Haberland, »nun stellen Sie sich aber vor, was mir eben einfällt: Sie müßten zu dem Kaiser Philander nach Schilda fahren und ihn wacher machen. Der Kaiser müßte für Ihren Belebungsplan gewonnen werden; er müßte, so wie Sie, Herr Bartmann, überall herumfahren und den Leuten klar machen, daß sie zuviel schlafen und zu wenig dabei die Traumzustände ins wache Augenleben übersetzen. Und sie müßten dem Kaiser Philander sagen: so schlaf doch nicht hier in Schilda – der große Sumpf an der Sturmküste ist in Bewegung. Wer weiß, was daraus wird! Schlaf nicht, Kaiser! Jetzt kannst Du zeigen, daß Du nicht blos zum Spaße Kaiser genannt wirst. Jetzt kannst Du zeigen, daß Du ein Führer der Geister bist – ein Gedankenleser! Einer, der auch des Volkes Gedanken lenkt – so ähnlich wie’s der große Geist tut, den wir Volksgeist nennen und als Gott verehren.«
Herr Bartmann blieb stehen. Die Sterne funkelten. Herr Haberland blieb auch stehen, und dann sagte der Herr Bartmann ganz leise und sich scheu umblickend:
»Kann uns hier Niemand hören? Können Sie mir schwören, über das, was ich Ihnen jetzt anvertrauen will, zu schweigen – unter allen Umständen?«
»Ich schwörs!« gab Herr Haberland leise zurück.
»Ich bin«, erwiderte da der Herr Bartmann noch leiser als vorhin, »selber der Kaiser Philander. Aber Sie dürfens Keinem sagen. In Schilda sitzt der Flugtechniker Sebastian und tut so, als wäre er Philander. Der Sebastian schweigt auch, und außer uns Dreien weiß Keiner von dieser Geschichte.«
Der Herr Haberland machte große Augen, sah den Kaiser fest an, reichte ihm die Hand und sagte einfach:
»Das freut mich! Das ist kaiserliche Art! So hätt ichs an Ihrer Stelle auch gemacht.«
Die Herren schüttelten sich die Hände in den Fausthandschuhen, und ein Unterbeamter steckte den Kopf zu einem naheliegenden Fenster hinaus und rief:
»Meine Herren, es sind 45 Grad Kälte! Sie müssen hereinkommen, sonst passiert Ihnen was.«
»Kommen Sie nach Ulaleipu?« fragte der Kaiser.
Aber der Herr Haberland schüttelte den Kopf und sagte leise:
»Ich bin hier dem Nachthimmel so nahe. Ich möchte nicht – wirklich nicht.«
Da gingen die beiden Herren Arm in Arm in die warmen Stuben hinein.

 


44. Die beiden Frauen

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Die Kaiserin Caecilie empfing die Frau Lotte Wiedewitt, die als Gemahlin des stellvertretenden Kaisers sehr feierlich in Ulaleipu aufgenommen wurde, in ihrem Pelzzimmer. Und die beiden Frauen verstanden sich gleich so gut, daß der ganze Hofstaat der Kaiserin in ein großes Erstaunen geriet.
Und die Frau Caecilie sprach sehr bald mit der Frau Lotte über die Kinder, die beiden Frauen hatten beide keine Kinder, und das kam den Beiden sehr drollig vor.
Somit erschien es ganz natürlich, daß die Frau Caecilie mit der Frau Lotte sehr bald in die sieben großen Säle ging, in der die Kaiserin Kinderspielzeug gesammelt hatte.
Da war die Lotte Wiedewitt ganz überrascht von all dem Reichtum; da gab es unzählige Dampfschiffe und Luftschiffe, elektrisch betriebene Fabriken, große Bahnzüge, Theater, Bergwerke und illuminierte Parkanlagen – Alles im kleinsten Maßstabe. Und auch große Bauwerke in größerem Maßstabe – und besonders einige Puppengalerieen.
Und die Lotte hatte gleich eine Reihe von Vorschlägen für neues Spielzeug, und die Frau Caecilie ging auf alle Vorschläge der Lotte ein, sodaß die Kammerfrauen gleich am ersten Tage viele neue Dinge bestellen mußten.
Danach waren denn die beiden Frauen täglich in ihren Spielzeugsälen und vergaßen dabei die Angelegenheiten des Reiches ganz und gar, als wäre das garnicht vorhanden.

 


45. Die Litteratur-Zentrale

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Auf Veranlassung des Herrn Haberland begab sich der Herr Bartmann in die Grottenschlucht, allwo die Litteratur-Zentrale des Kaiserreichs residierte.
Und die Anschauungen der Herren Bartmann und Haberland fanden dort großen Anklang; die Gedankentätigkeit der andern menschlichen Sinne, die nicht mit Auge und Ohr operierten, wurden in der Litteratur-Zentrale gleich sehr lebhaft beleuchtet; in ein paar Tagen waren ein paar Dutzend neue Bücher erschienen, die dem Thema alle möglichen Seiten abgewannen.
Der Herr Bartmann wurde jetzt so berühmt, daß er täglich gute drei Stunden mit seiner Korrespondenz zu tun hatte.
Und es war sehr merkwürdig, daß dem Herrn Bartmann ein so großes Interesse entgegengebracht wurde, da eine Flut von Broschüren und Büchern, die die Ereignisse an der Sturmküste behandelten, gleichzeitig herauskam.
Ganz Utopia kam immer mehr in Erregung, der Herr Bartmann hatte keine Veranlassung, sich über die Schlafmützigkeit der Utopianer zu beklagen; die sprachen jetzt sämtlich über die Untergründe der Erscheinungswelt so viel, daß es dem Herrn Bartmann oft ganz komisch vorkam. Aber der Herr Haberland schrieb:
»Die Naturereignisse, Herr Bartmann, kommen Ihren Bestrebungen so heftig entgegen, daß Sie sich recht zusammennehmen müssen.«
Und dieser Ermahnung war ganz am Platze, denn es passierte noch mehr.

 


46. Die Irrlichter

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Brodeln tats im bewegten Sumpf, und bunt schillernde Blasen bildeten sich, und die wurden ganz groß, und wenn sie mit lautem Knall platzten, dann schossen grüne und blaue Flammenkegel heraus, die sich oben verästelten und wie Blitze auseinander fuhren.
Und diese Flammenspiele wiederholten sich und wurden immer häufiger, und die Flammen wurden immer bunter; sie nahmen auch immer wieder andere Formen an – die Kegel sahen bald wie dicke Baumstämme und auch wie große phantastische Blumen aus.
Und des Nachts hüpften die Flammen wie Irrlichter auf dem Sumpfe herum.
Und dann erhielten die Flammen feste Formen, die auch am Tage sichtbar blieben.
Den Beobachtern an der Sturmküste kams oft so vor, als schwebten bunte Geistergestalten über dem Sumpfe, und es gab bald sehr viele Beobachter, die menschenähnliche Köpfe an den Flammen beobachtet haben wollten; doch die photographischen Aufnahmen zeigten nichts Deutliches, Köpfe ließen sich nicht erkennen.
Nach einigen Tagen aber erhoben sich sehr viele Flammen zu ganz ungewöhnlicher Höhe, und oben zergingen sie nicht, sie blieben in der Luft und schwebten höher.
Ein merkwürdiger scharfer Geruch ging von den Flammen aus, der Geruch ließ sich mit andern Gerüchen garnicht vergleichen, und man stritt sich bald lebhaft darüber, ob dieser Geruch mehr Wohlgeruch oder das Gegenteil sei; jedenfalls ließ sich der Geruch nicht lange ertragen, und die Beobachter mußten sich die Nase verbinden.
Dabei wurden die Farbenpracht und die Fülle der Formen immer reichhaltiger, und nachts ging von den Irrlichtern oft ein so intensiver Glanz aus, daß die Augen der Beobachter für Minuten der Sehkraft beraubt wurden, sodaß man sich allgemein der verschiedensten Schutzbrillen bediente.

 


47. Die ratlose Wissenschaft

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Selbstverständlich versammelten sich sofort nach Bekanntwerden des neuen Phänomens sämtliche Chemiker und sämtliche Naturwissenschaftler an der Sturmküste und beobachteten.
Aber sie konnten alle nicht klug werden aus diesen Irrlichtern; so was war noch niemals dagewesen im Lande Utopia.
Die Künstler und die Dichter, die natürlich auch von dem unnatürlichen Schauspiele angelockt wurden, freuten sich nur über die großartige Formen- und Farbenpracht, und wenn man des Nachts auf den Balkons der Logierhäuser zusammensaß, so kam es immer häufiger vor, daß man sich über die Naturwissenschaftler lustig machte, die einfach ratlos dem neuen Lichtphänomen gegenüberstanden und gar kein vernünftiges Wort der Erklärung zu finden vermochten.
»Es sind Geister!« sagten bald sehr viele Utopianer.
Doch davon wollten die Wissenschaftler nichts hören.

 


48. Die Entdeckung des Herrn Schlackenborg

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Der Herr Schlackenborg, der Führer des Sebastianischen Luftwagens, hatte sich anfänglich nicht bewegen lassen, in der Nähe der Sturmküste zu fahren, und auch die andern Luftschiffe blieben weitab, da man neue Stürme mehr denn je zu fürchten begann.
Doch eines Nachts vermochte doch der Herr Bartmann seinen Steuermann, der Sturmküste etwas näher als sonst zu kommen.
Herr Bartmann und Herr Schlackenborg saßen im Luftschiffe zusammen und befanden sich gute zehn Meilen von der Sturmküste entfernt über dem Festlande; die Sterne funkelten heftig, und der Vollmond stand dicht über dem Meereshorizont ganz dunkelrot.
Da sahen die Luftfahrer plötzlich eine Reihe blauer Flammen – ungefähr acht bis zehn – wie blaue Fahnen, die im Sturme flattern und knattern, grade auf das Sebastianische Luftschiff zufliegen.
Herr Schlackenborg sah nach dem Kompaß – und siehe – die Nadel drehte sich plötzlich im Kreise – immer schneller – und das Luftfahrzeug fuhr trotz aller Steuer und obgleich es ganz windstill war, plötzlich mit einem Ruck seitwärts – und dann Zickzack, daß der Herr Schlackenborg sofort Befehl geben mußte, das Fahrzeug in die Tiefe zu bringen und unten die Berührung mit dem festen Boden zu suchen.
Als nun der Luftwagen mit seinen langen Beinen wieder auf der Erde stand, atmeten die drei Maschinisten erleichtert auf und wischten sich den Schweiß von der Stirn; so was war ihnen noch nicht vorgekommen.
Herr Bartmann war weniger erstaunt, da er sich bereits so an übernatürliche Dinge gewöhnt hatte, daß ihn das Ereignis garnicht aus der Fassung brachte.
»Sie sehen«, sagte er zu Herrn Schlackenborg, »was alles hinter der uns sichtbaren Erscheinungswelt vorgeht. Welches Leben! Welches rasende großartige Leben! Ich freue mich, daß es den Utopianern jetzt endlich klar wird, was alles hinter unsrer Erscheinungswelt lebt und sich bewegt und immer wieder neue Kräfte zeigt. Mich bringt das Neue nicht aus der Fassung, ich bin darauf vorbereitet gewesen und freue mich, daß es endlich so augenfällig wurde – nicht meinetwegen, aber der Utopianer wegen – denn für mich würden all diese Lichterscheinungen auch da sein, wenn sie auch nicht sichtbar würden.«
Die Maschinisten sagten Garnichts, aber sie telegraphierten das, was sie entdeckt, an die wissenschaftlichen Institute.
Und drei Stunden später waren alle Luftfahrer gewarnt.

 


49. Die Experimente

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Jetzt gings natürlich in den Kreisen der Wissenschaft sehr lebhaft zu; sofort wurden über der Sturmküste Fesselballons aufgelassen – anfänglich nur mit Kaninchen und Registrierapparaten bemannt – später erst wagten sich die Gelehrten selber in die Ballons.
Und da wurde denn Alles studiert; und die Experimente folgten einander in unsäglicher Hast – und die Entdeckungen ebenfalls; die Physiker und Chemiker gerieten ganz aus dem Häuschen ob all der neuen Wunder.
Und die Litteratur-Zentrale gab ganze Serien neuer Bücher heraus, die alle das Irrlichter-Phänomen behandelten; und der Laie konnte nicht mehr folgen – es war zu viel auf einmal.

 


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