Der Kaiser von Utopia

20. Lotte Wiedewitt

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Herr Moritz Wiedewitt kümmerte sich aber um den großartigen Sonnenuntergang ganz und garnicht, ließ die ihm verliehene Kaiserkrone im Hofzuge sorgfältig verpacken und machte dann in Schilda Einkäufe, wobei er sich mit Wohlgefallen immerzu »Grandiosität« titulieren ließ.
Der Interimskaiser kam dann in bester Stimmung nach Hause, um endlich Abendbrot zu essen, aber die Lotte hatte bereits von der Ratssitzung gehört und zu Allem ganz ratlos mit dem Kopfe geschüttelt; sie konnte es einfach nicht glauben, daß ihr Moritz für ein Jahr nach Ulaleipu gehen sollte und dort Kaiser sein – nein, das konnte sie nicht glauben; sie vermutete, daß dahinter blos wieder ein abenteuerlicher unnützer Narrenstreich stäke.
Und als nun der Moritz endlich nach Hause kam, empfing ihn seine Frau mit einer Gardinenpredigt, die sich gewaschen hatte.
»Was soll denn das nun wieder? Leben wir hier denn wirklich im Tollhaus? Bin ich dazu mit Dir nach Schilda gezogen, um hier bloß mit Dir tolle Streiche anzugeben? Haben wir nicht schon genug mit unsrer Wirtschaft zu tun ? Geht hier zu Hause alles drunter und drüber? Wir haben nicht das Nötigste – und zu dummen Streichen ist immer das Geld da? Du wolltest doch noch die eingelaufenen Briefe beantworten – und jetzt willst Du wieder Kaiser werden? Schämst Du Dich denn garnicht? Ich habe nichts Vernünftiges anzuziehen – und Du denkst Dir bloß windige Geschichten aus. An unser Wäschespind solltest Du doch denken – der Tischler macht es nicht fertig – und Du hast mir doch versprochen, das olle Spind noch in diesem Monat fertig zu machen, damit ich endlich weiß, wo ich mit den paar plundrigen Sachen hinkann. Aber statt zu arbeiten, willst Du Kaiser werden. Es ist unerhört. Du solltest Dich doch vor den Nachbarn schämen.«
Und dann schimpfte die Lotte, daß die Wände dröhnten, damit es alle Nachbarn hören konnten, was fürn verrückter Kerl dieser Moritz war.
Aber da riß auch dem Moritz die Geduld, und er brüllte:
»Mach das Abendbrot fertig. In einer Stunde muß ich nach Ulaleipu fahren.«
»Fällt mir nicht ein!« schrie die Lotte, »mach Dir Dein Abendbrot allein. Ich bin lange genug Dein Pachulke gewesen. Ich will jetzt ein anderes Leben genießen.«
Da wurde der Interimskaiser so wütend, daß er eine Porzellanvase ergriff und sie auf den Fußboden schleuderte, daß die Porzellanstücke zum dreieckigen Fenster hinausflogen.
»Bin ich denn verdammt«, rief er grimmig, »ewig und immer mit diesem verrückten Weibe zu leben? So bleib Du hier – ich fahre allein nach Ulaleipu.«
»Fahre, wohin Du fahren willst«, sagte die Lotte, »ich werde wissen, was ich zu tun habe.«
Moritz wollte wieder einlenken, aber die Lotte schmiß die Türe hinter sich zu und riegelte ab.
Da nahm der Interimskaiser Hut und Stock und ging in den goldenen Löwen, aß sein Abendbrot unter Zähneknirschen, verabschiedete sich von Käseberg, Moellerkuchen und einigen Ratsherren in sehr kurzen eiligen Worten und fuhr, als es dunkel geworden war, mit dem Hofzuge nach Ulaleipu – den ganzen Hofzug ließ Herr Wiedewitt illuminieren – auch oben über den Waggondächern – mit roten, blauen und grünen Flammen – und elektrische Scheinwerfer ließ er aufleuchten, daß der Zug wie ein Lichtgespenst durch die Nacht dahinsauste.

 


21. Der verzweifelte Staatsrat

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Die Rechtszentrale in den sieben Türmen am Schwantufluß hatte sich natürlich sofort der ganzen Kaiser-Angelegenheit bemächtigt, und fast in jeder Tagesstunde liefen ein paar Broschüren beim Staatsrat in Ulaleipu ein. Und in den Broschüren wurde des Kaisers Tat hochherzig und bewunderungswürdig genannt, und nur zwei oder drei Autoren hatten die Tat des Kaisers, der, um die Abtrünnigen in der Stadt Schilda zurückzuführen in den alleinseligmachenden Schoß des Volksgeistes, Oberbürgermeister von Schilda geworden war, für eine nicht ganz der Rechtsauffassung Aller entsprechende Tat befunden.
Dagegen war der Staatsrat überall sehr schlecht weggekommen, indem man in den Broschüren durchweg behauptete, daß auch ein Mitglied des Staatsrates Oberbürgermeister von Schilda hätte werden können.
Daß der Oberbürgermeister Wiedewitt zum Interimskaiser ausgerufen worden war, das wurde durchweg dem Staatsrate in die Schuhe geschoben; der hätte für eine geeignetere Stellvertretung bei Zeiten tätig sein müssen.
Daß der Kaiser den Oberbürgermeister zum Stellvertreter gewählt, das wurde dem Kaiser garnicht übelgenommen; er sei durch den Staatsrat schwer gereizt worden.
Kurzum: der Staatsrat hatte Alles auszubaden. Und es war nur natürlich, daß er sich in gradezu grenzenloser Verzweiflungsstimmung befand.
In vierzehn Tagen waren sieben und achtzig Broschüren über den merkwürdigen Vorfall erschienen.
Es gab nur einen Trost für den Staatsrat: in keiner Broschüre wurde zugegeben, daß das neue Regiment eine einschneidende Veränderung im Staatshaushalte zur Folge haben könnte – es gingen sogar einige Autoren am Schwantuflusse so weit, die ganze Angelegenheit als nicht sehr wichtig hinzustellen – das beweise schon, sagten sie, die kleine Anzahl der Broschüren (blos 87), während doch im letzten Jahre 43 andere Rechtsfälle mehr als 150 Broschüren zur Folge gehabt hätten.
Aber der Staatsrat war in Verzweiflungsstimmung.

 


22. Der Leuchtturm

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Der Kaiser Philander wurde als Herr Bartmann in den Lotsenzimmern des großen Leuchtturms sehr freundlich empfangen; der Leuchtturm hieß der große der großen Molen und des umfangreichen Unterbaues wegen; in den Lotsenzimmern hörte man die donnernde Brandung nur wie ein fernes Geräusch, da überall doppelte Doppelfenster angebracht waren.
Hinter das Leben der Utopianer wollte der Kaiser kommen, und es schien ihm nun als erste Aufgabe, an verschiedenen Punkten seines Reiches festzustellen, wie die vielen Wohlfahrtseinrichtungen auf die Utopianer wirkten – ob sie noch immer als wohltuend empfunden wurden – und ob sie ausreichten, das Leben in Utopia als einigermaßen glücklich erscheinen zu lassen.
Die Bequemlichkeitseinrichtungen hatten den denkbar größten Grad von Vollkommenheit erreicht, und nun fragte der Kaiser zunächst, so als wenn er bloß Studien halber reise, wie die Lotsen über die Bequemlichkeit dächten.
Und da sagte denn ein Alter gleich sehr unwirsch:
»Lieber Herr, die Bequemlichkeit ist für unsern Stand eine recht bedenkliche Sache; früher gingen die jungen Leute mit Vergnügen ins Rettungsboot – heute muß man schon Zwangsregeln gebrauchen – die Jugend wird durch gutes Essen und Trinken – durch Fahrstühle, vortreffliche Betten und all den übrigen neuzeitlichen Luxus so verwöhnt, daß wir viele Bequemlichkeitsdinge wieder hinausbringen mußten; die gute alte Zeit hatte doch mit ihrer einfachen Lebensart sehr viele Vorzüge.«
Der Kaiser war ganz sprachlos, aber er sah ein, daß der Alte wohl Veranlassung hatte, zu klagen – die andern Lotsen stimmten dem Alten sämtlich bei.
Es wurde Grog getrunken, und der Herr Bartmann ließ sich Seegeschichten erzählen, sprach nicht viel und dachte sich sein Teil; er wollte noch über die vorzügliche Rechtspflege in Utopia sprechen – aber ihm schnürte was die Kehle zu, und er ging bald in sein Zimmer und versuchte zu schlafen.
Mit dem Schlafe ging es aber nicht – es war nur ein halber Schlaf – aus dem Meere, das brauste und krachte, stiegen immer wieder bleiche Gestalten heraus, die immerzu leise flüsterten – und das klang wie eine Anklage – und schließlich wie ein Fluch auf die Bequemlichkeit der verwöhnten Utopianer.
»Wären die Lotsen«, sagte eine Gestalt dicht neben dem Bette des Kaisers, »nicht so saumselig gewesen – ich wäre noch am Leben.«
Der Kaiser steckte seine Kerze an und rieb sich die Augen, er war ganz allein.
Unten tobte die Brandung des Meeres wie in weiter Ferne – murmelnd.
Und der Orkan brauste vor den Fenstern, daß ein leises Pfeifen und Knallen zu hören war.
Die Fenster klirrten.
Der Kaiser schlief ein.
Die Kerze beleuchtete das Gesicht des Schlafenden, in dem die scharfen feinen Züge mit dunklen Schatten erschienen; das Profil des Gesichtes lag als Schattenbild an der Wand.

 


23. Die Zeitungen

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Am nächsten Morgen saß der Herr Bartmann im Lesezimmer der Lotsen und las die neuesten Zeitungen.
Das Lesezimmer machte den Eindruck eines Bibliothekssaales, und die Möbel ließen an Behaglichkeit und künstlerischem Schliff nichts zu wünschen übrig; jede Ecke und jede Kante war anders und voll intimster Reize, sodaß man sich auf jedem Stuhle so recht zu Hause fühlte – Alles glänzte wie neu und wirkte doch gleichzeitig wieder so alt wie eine alte Handschrift.
Ein Lotse, der dienstlich abgerufen wurde, rief ärgerlich:
»Grade jetzt! Bei diesen Zeitungsberichten über Schilda!«
Aber er ging, und der Kaiser las weiter von Schilda – im »Alten Staatsblatt« stand u. A.:
»Es läßt sich immerhin die Frage aufwerfen, ob der Kaiser von Utopia berechtigt war, für ein ganzes Jahr seine hohe Stellung aufzugeben, blos um die verirrten Schildbürger wieder auf den rechten Pfad zu bringen. Der Kaiser ist nicht nur dazu da, im Volke ein juristisches Gleichgewicht herzustellen; die fünfzig Stimmen, die er allein den hundert Stimmen seines Staatsrates gegenüber zu stellen vermag, sind nicht blos für die Rechtsfragen da; er soll auch – und dazu ist er in erster Linie hochstehender Volkskaiser – in allen Lebensfragen seines Volkes eine entscheidende Führerrolle in Anspruch nehmen, er soll dem Volke neue Bahnen eröffnen und immerdar tätig sein zum allgemeinen Wohle – er soll auch ein Anreger sein . . .«
Herr Bartmann lächelte und las in einer anderen Zeitung:
»Die anregende Haltung des Kaisers, die vom alten Staatsblatte so angelegentlich empfohlen wird, wird der Kaiser als Oberbürgermeister von Schilda am allerbesten zur Geltung bringen; es ist doch nur natürlich, daß grade die etwas komische und durchaus peinliche Lage der Schildbürger zu sozialen Anregungen grade genug Veranlassung gibt; in seiner neuen Position als Oberbürgermeister wird der Kaiser sicherlich eine große Anzahl von Verhältnissen, die der Verbesserung bedürfen, kennen lernen. Und Schilda ist uns Allen ein Dorn im Auge. Schilda muß verbessert werden. Und die Dinge, die in Schilda verbesserungsbedürftig erscheinen, werden ihre Schatten über das ganze Kaiserreich werfen. Warten wir ab, was der Kaiser in Schilda tut.«
Herr Bartmann sah jetzt sehr ernst aus, und es ging ein feierlicher Zug über sein Gesicht, und er dachte an die Schatten der vergangenen Nacht – die Kerze hatte große Schatten oben an die Zimmerdecke gebracht, und die bleichen Gestalten des Meeres gingen durch die Schatten an der Zimmerdecke durch.
Und des Kaisers Züge wurden plötzlich hart; er stand auf und ging mit festen Schritten hinaus – auf die Galerie – dort hörte er das Meer ganz laut hinaufdröhnen – und unten schäumten an den Klippen die hohen Wellen.

 


24. Der spassende Oberlotse

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Nach dem Mittagessen, das der Herr Bartmann an der großen Lotsentafel einnahm, gabs ein sehr gemütliches Plauderstündchen.
Herr Bartmann fragte nach den persönlichen Verhältnissen der einzelnen Herren und motivierte seine Fragen dadurch, daß er sich den Anschein gab, als reise er im Auftrage der großen Rechtszentrale am Schwantufluß. Und so bekam er sehr viele offene Antworten.
Doch die Antworten, die Herr Bartmann erhielt, genügten ihm immer noch nicht – er hätte hauptsächlich gerne eine Schilderung des Phantasielebens der Herren Lotsen gehabt und sprach demnach sehr oft und mit Wiederholungen von dem Inneren des Menschen – und daß der Mensch doch nicht blos ein äußeres Leben führe; er meinte:
»Die Natur, die uns umgibt, ist doch eigentlich nur ein großes Sinnbild für uns; was wir äußerlich in uns aufnehmen, wird zu Mist. Und wir selber werden auch etwas, was als Dünger verwendet werden kann. Unser äußeres Leben geht zu Grunde – aber Alles, was wir innerlich empfinden und verarbeiten – was wir, geleitet von dem großen Volksgeiste, als eine Lebenswelle schaffen – das geht nicht so zu Grunde wie das Äußerliche – ist nicht so flüchtig wie eine Meereswelle. Von dem, was die Herren innerlich in sich haben – von dem möcht ich gerne etwas wissen.«
»Nun«, meinte da der Oberlotse, »was werden wir in uns haben? Was wir gegessen haben, werden wir in uns haben.«
Da lachten Alle.
Aber der Kaiser lachte nicht; er verließ den großen Leuchtturm und begab sich in seinen Luftwaggon.

 


25. Silda und Ulaleipu

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Die Lotte Wiedewitt schrieb an ihren Gatten nach langen wirtschaftlichen Auseinandersetzungen am Schlusse ihres ersten Briefes:
»Soweit ist hier eigentlich wieder Alles beim Alten; die roten und gelben Tuchstreifen sind wieder fortgebracht, und Jeder macht hier wieder seine alten Dummheiten, manchmal auch neue dazu. Viel Gescheites kommt dabei nicht raus. Der Kaiser, der jetzt hier Deine Stellung einnimmt, läßt sich fast garnicht sehen; man sagt, er schreibe immerzu Rechnungen aus. Aber ich glaube das nicht. Schreib mir bald, wie es Dir geht in Deiner neuen Position. Es hat mir sehr leid getan, daß ich bei Deiner Abfahrt wieder so heftig wurde – aber Du warst doch die Veranlassung. Wir sind ja von all den vielen Sorgen so nervös geworden. Hoffentlich wird jetzt Alles besser; die Nachbarn glauben das auch. Schreibe bald! Viele Grüße aus Schilda!
Ich bin
Deine
Lotte.«
Der Kaiser, der ja nicht der Kaiser, sondern der Herr Sebastian war, schrieb natürlich keine gewöhnlichen Rechnungen aus – darin hatte die Lotte Wiedewitt ganz recht; der Herr Sebastian rechnete sehr viel hinter verschlossenen Türen – aber diese Rechnungen waren wissenschaftlicher Natur; der Herr Sebastian arbeitete an einer neuen Erfindung, die mit Kanonen einen Warentransport arrangieren sollte; die Waren sollten mit Kanonen geschossen werden, und es handelte sich darum, die Fangapparate so zu konstruieren, daß sie die Geschosse auch dann auffingen, wenn ein stärkerer Wind die Bahn ein wenig veränderte.
In Ulaleipu war man natürlich nicht wenig erstaunt, als man immer noch nichts von den Taten des neuen Oberbürgermeisters hörte; man zerbrach sich den Kopf über das zurückgezogene Leben des Kaisers, konnte aber nichts herausbekommen, da die Schildbürger ganz vernarrt in ihren kaiserlichen Oberbürgermeister waren und ihn ganz ungestört ließen – natürlich in der Annahme, daß ihr neues Oberhaupt nur über das Seelen- und Leibesheil der Schildbürger nachdächte; die Rechnungen des Herrn Sebastian kamen den Schildbürgern als nationalökonomische Rechnungen vor.
Auch der Herr Moritz Wiedewitt lebte in Ulaleipu in der ersten Zeit sehr zurückgezogen, und auch er arbeitete an großen Rechnungen; diese aber waren nationalökonomischer Natur und betrafen die Einnahmen und Ausgaben der Stadt Schilda.
Der Interimskaiser Moritz wollte seine Position zum Besten seiner Mitbürger ausnützen; er dachte aber keineswegs an die innerlichen Schäden der Einwohner Schildas – sondern an ihr äußerliches Leben, dem natürlich sehr viel abging, da Schilda wirtschaftlich vom Kaiserreich Utopia abgelöst war und keinen Anteil mehr haben sollte an all den vielen Wohlfahrtseinrichtungen des Kaiserreichs.
Der Staatsrat kam oft zusammen, und die öfteren Zusammenkünfte brachten allmählich eine heitere Stimmung hervor; man beglückwünschte sich, daß wenigstens kein Unsinn gemacht wurde – weder in Schilda noch in Ulaleipu.
Die Bewohner der Residenz schienen äußerlich von dem Thronwechsel kaum Notiz zu nehmen; die Staatsverhältnisse waren ja nach allen Richtungen so gesichert, daß einschneidende Veränderungen nicht denkbar schienen; doch die Neugierde wuchs – und man war denn doch allgemein gespannt, was nun werden würde.
Man glaubte schon, der Kaiser würde in Schilda allmählich wieder den alten Volksglauben aufrichten, aber die Priester schüttelten dazu den Kopf und erklärten, daß sie doch ganz allein berufen wären, einen derartigen Umschwung in der religiösen Lebensauffassung zu bewirken.
Andrerseits betonte man des Öfteren die verbohrte Hartnäckigkeit der Schildbürger, die ein für alle Mal erklärt hatten, daß sie sich aus dem Volksgeiste nichts machten und durchaus ihr eigenes Leben unabhängig vom Volksgeiste führen wollten.
Und das war in Schilda immer noch so.
Und die Neugierde wuchs auch in Schilda.
Man wachte auch in Schilda jeden Morgen mit dem Gedanken auf: »Was wird geschehen?«
Aber es geschah nichts.
Die Zeitungen schwiegen sich aus oder setzten leere Vermutungen in die Welt.
Der Herr von Moellerkuchen sagte schließlich zu seiner Frau:
»Wenn jetzt nicht bald ein Erlaß kommt, so befürchte ich, daß Alles beim Alten bleibt.«
Herr von Moellerkuchens Frau hielt das nicht für so unwahrscheinlich.

 


26. Der Antiquar

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Der Kaiser fuhr nun als Herr Bartmann mit fieberhafter Schnelligkeit durch sein Kaiserreich und studierte Land und Leute in der ihm eigentümlichen Art.
Der Herr Bartmann erregte überall ein beträchtliches Aufsehen, aber nicht des Sebastianischen Luftfahrzeuges wegen – Luftwagen gabs in Utopia recht viele – es war das Benehmen des Herrn Bartmann den Utopianern so auffällig; der fremde Herr fragte so viel, und das kam Allen so neu, ungewöhnlich und – auch ein bißchen anstößig vor.
Und die Antworten, die man dem Herrn Bartmann gab, klangen sehr bald recht spöttisch, sodaß der Fragesteller vorsichtig wurde und seine Taktik änderte; er sah ein, daß er sich verdächtig gemacht hatte und gab nun plötzlich vor, daß er eigentlich »Sammler« sei – aber nicht ein einseitiger Sammler, vielmehr einer mit sehr vielseitigen Interessen.
Und auf diese Weise machte er, ohne daß es auffiel, die Bekanntschaft des Herrn Citronenthal, der als berühmter Antiquar ein großes und dabei sehr intim gehaltenes Museum sein eigen nannte.
Und Herr Bartmann setzte Herrn Citronenthal sehr bald auseinander, was er eigentlich zu sammeln wünschte, und sprach demzufolge so:
»Ich möchte Raritäten geistiger Art sammeln – solche, die sich scharf abhoben vom Allgemeinen und eigensinnig ganz aparte Ziele verfolgten – Ziele, die es zu ihren Zeiten noch nicht gab – kurzum: die Phantasieprodukte der bizarrsten Naturen.«
»Aha!« versetzte rasch Herr Citronenthal, »wenn ich nicht irre, so wollen Sie die Ahnengalerie des modernen Schilda.«
Der Herr Bartmann errötete und fürchtete, sich verraten zu haben, und änderte deswegen abermals den Kurs und meinte ganz harmlos lächelnd:
»Nicht so! Nicht so! Ich möchte blos wissen, wie sich der Volksgeist, dem wir göttliche Verehrung entgegenbringen und gegen den ich gar keine Opposition wage, wie sich dieser Volksgeist in den feiner organisierten Vertretern des Volkes in früheren Zeiten offenbarte. Auf dieser Wißbegierde allein basiert meine ganze Sammelkunst. Mir ist so, als müßte ich etwas Altes sammeln, wenn ich die Quintessenz und das Allerfeinste der menschlichen Natur kennen lernen will.«
»Ganz auf dem richtigen Wege, Herr Bartmann«, versetzte der Antiquar einfach, »Sie wollen alte recht abenteuerliche Manuskripte – vielleicht Märchen oder sogenannte Utopien! Ganz richtig! So was kann man im Kaiserreich Utopia wohl sammeln. Ich habe sehr viel davon – auf kostbaren alten Blättern. Ja, das nennt man wohl Erinnerungskunst, was Sie da sammeln wollen. Im Alten steckt die ganze Seele der Menschheit. Zum Alten zieht es uns immer wieder hin, wenn wir in der Gegenwart nicht das finden, was unsrer Sehnsucht Genüge tut. Das weiß ein Antiquar, und ich verstehe Sie, Herr Bartmann, und schätze Sie.«
Der Antiquar blickte den Kaiser mit feuchten Augen lächelnd an, doch der sagte hastig:
»Wie wärs aber, wenn ich noch weiter gehen möchte? Kennen Sie nicht vielleicht Verhältnisse, in denen das Alte in die Gegenwart gesetzt ist und dort greifbar vor uns steht – und ganz lebendig ist? Sehen Sie, grade das Lebendige möchte ich – das Lebendige!«
Herr Citronenthal runzelte die Stirn, stand auf und ging auf seinen alten Teppichen ein paar Mal auf und ab und sagte dann bestimmt:
»Herr Bartmann, Sie sind doch kein echter Sammler. Aber ich kann Sie in einer befreundeten Familie einführen, wo Sie wohl das finden werden, was Sie suchen. Obschon ich gestehen muß, daß ich nicht ganz klar Ihre Ziele erkenne.«
»Wir werden uns schon allmählich verstehen!« sagte der Herr Bartmann.
Und sie gingen zusammen zu der dem Herrn Citronenthal befreundeten Familie.

 


27. Die Familie

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Es lag etwas Weiches und etwas Schlichtes in dem kleinen Zimmer, das der Kaiser mit dem Antiquar betrat. Und weich und schlicht war auch die Art, in der die beiden Herren von der Familie in dem kleinen Zimmer empfangen wurden. Im Nebenzimmer hörte man leise Klavier spielen – alte sehr einfache Musik, die im Kaiserreich Utopia immer mehr in Vergessenheit geriet.
Der Hausherr hatte einen grauen Bart und sehr treuherzige Augen und langsame Bewegungen, und seine Frau war ganz ebenso.
Und man sprach von der alten Zeit, und die beiden Töchter des Hauses mußten alte Silbersachen und altes Porzellan – alte Ledersachen und alte Stickereien – alte Holzschnitzereien und alte Elfenbeinarbeiten – alte Bücher und alte Zeichnungen – herbeitragen und zeigen.
Und dabei unterhielt man sich mit dem Kaiser, als wär er ein alter Freund und schon mit allen alten Dingen so vertraut.
Und es gefiel dem Herrn Bartmann – Alles, was er sah, und auch Alles, was er hörte. Und er sprach mit der alten Dame des Hauses von der Seele der Menschheit – und daß die doch grade in den alten Sachen stäke.
»Aber auch«, meinte er, »hinter den alten Sachen steckt noch mehr, als man so sieht.«
Und das wurde lebhaft – auch von den beiden Töchtern – bejaht. Alle waren eifrig bemüht, zu beweisen, wie lebendig die alten Möbel und die alten Schmucksachen seien – man erklärte sich die alte intime Symbolornamentik, betonte die Wichtigkeit der immer wiederkehrenden Motive, lobte die alten gedämpften Farben, das Abgegriffene, das Altväterliche und besonders immer wieder die alten Ornamentmotive – die Rosetten, Kränze, Blumenschüsseln, die alten Schnörkel und die alten Kronen.
Und der Herr Bartmann hatte das Gefühl, als versinke er in all diesem Plunder, und als er beim Abendbrot bemerkte, daß er beinahe das Alte ganz lebendig vor sich fühle, und von den Eindrücken seiner Kindheit plauderte und diese mit all den alten Sachen in Verbindung brachte und immer wieder betonte, daß man so zwischen alten Sachen in einer ganz anderen Welt lebe und daß man diejenigen, die so zwischen alten Sachen in einer anderen Welt leben, ja nicht stören und sie durch nichts herausreißen dürfe – da glaubten Alle, daß Herr Bartmann das Ziel seiner Wünsche erreicht hätte.
Und die alte Dame des Hauses ließ den ältesten Wein bringen und dachte dabei gleichzeitig an ihre älteste Tochter – und hörte zuweilen garnicht ordentlich auf das, was gesagt wurde – und – und es schien dem Kaiser so, als versinke er in eine weiche schlichte alte Zeit – und das Klavierspiel der ältesten Tochter vermehrte dieses Gefühl des Versinkens immer mehr, sodaß der Gast ganz schweigsam wurde.
Wie aber der Herr Bartmann einen Augenblick mit Herrn Citronenthal allein war, warf er plötzlich hart den Kopf zurück und machte mit einem Ruck alle seine Glieder ganz straff und sagte leise aber bestimmt:
»Herr Citronenthal, jetzt müssen wir unbedingt ein Glas Bier zusammen trinken.«
Der Antiquar stimmte natürlich zu, und ihm war dabei so, als hörte er in der Ferne eine alte utopianische Hochzeitsmusik.
Es war aber eine Sinnestäuschung.
Zum Abschiede bat der Herr des Hauses seinen neuen Gast, doch eine alte Schnupftabaksdose – eine sehr feine Silberarbeit mit Email-Miniaturen – zum Andenken anzunehmen.
Und der Kaiser mußte das Geschenk schon annehmen, und er verabschiedete sich von den beiden Alten und den beiden Töchtern mit den dankbarsten Worten, sodaß die Vier garnicht ahnten, wie weit fort die Gedanken ihres Gastes waren.
Draußen zog der Kaiser die Stirn in der Mitte zusammen und rollte mit den Augen.

 


28. Der Bierkeller

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Der Herr Citronenthal führte nun den Herrn Bartmann in das beste Restaurant der Stadt und stellte seinen Gast dort mehreren alten Herren vor, mit denen sich die Beiden in das prächtige Eichenzimmer zurückzogen. In dem Eichenzimmer war alles voll üppigster phantastischer Holzschnitzerei – selbst die Tischplatten zeigten Holzskulpturen in Flachrelief.
Herr Bartmann trank die ersten drei Glas Schwantubräu, ohne etwas zu sagen. Und der Antiquar kam auf die Familie zu sprechen, in der die Beiden Abendbrot gegessen hatten, und er sprach so von der Familie, daß der Herr Bartmann nicht umhin konnte, sein Schweigen aufzugeben.
»Halten Sie ein«, rief er plötzlich, »heute ist mir das Unglück des Kaiserreichs Utopia klar geworden; dieses ruhige prächtige Leben ist eben ganz dazu angetan, die Utopianer von oben bis unten zu verweichlichen; die Utopianer sind schlaff wie alte Waschlappen – und das ist ihr Unglück. Stellen Sie sich, meine Herren, das ungeheuerliche allmächtige Leben in der Natur vor! Da glüht und sprüht Alles durch einander, daß die Funken nur so prasseln. Die Welt da draußen ist voll Leben. Und das Leben, das wir in der Natur sehen, reißt uns in andre Sphären – wir müssen empfinden, daß hinter allen Bäumen und hinter allen Felsen noch mehr lebt – als das, war wir sehen. Und der große Volksgeist, den wir alle anbeten und der unser Dasein durchströmt – dieser große Volksgeist lebt eben so heftig wie die große Welt da draußen. Aber die Utopianer, die von diesem großen Geiste geführt werden, zeigen nicht, daß sie so leben wie der Geist, der sie führt; die Utopianer sind schlaff und faul, und all ihr Luxus und all ihre Kunst und all ihre Bequemlichkeit und all ihre prächtige Gerechtigkeitsliebe fördern den Utopianer nicht mehr – nein, all diese schönen Dinge machen den Utopianer schlaff, daß er nicht mehr ordentlich und rasch zu denken vermag und nicht mehr im Stande ist, das große Leben, das da draußen in der großen Welt lebt, mitzumachen. Der Utopianer kann heute nicht mehr das große fieberhaft mächtige Weltleben verstehen und mitempfinden und infolgedessen auch nicht mehr große Werke schaffen – nicht mehr Werke schaffen, die es wert sind, als Spiegelbild der Unendlichkeit, der Unermüdlichkeit und Unerschöpflichkeit zu gelten. Wann denken denn die Utopianer an das, was hinter allen Erscheinungen lebt? Wann denken denn die Utopianer in ihrem Leben – das große Leben sich zu gestalten – das große Leben, das der Geist, der uns führt und den wir Volksgeist zu nennen wagen, nachzuleben? Und ist diese Schlaffheit nicht empörend? Dieses faule Utopia ist es nicht wert, zu leben – wenn es nicht so leben will – wie der Große, der hinter uns steht, uns zu leben gebietet. Temperamentlos sind die Utopianer geworden. Ich wünsche Ihnen einen guten Abend, meine Herren.«
Sagt es und geht hinaus.
Und zwei und zwanzig Minuten später fährt der Kaiser von Utopia in seinem Sebastianischen Luftschiff hoch über seinem Kaiserreich durch die Nachtluft zu den funkelnden Sternen empor.

 


29. Zwei Idylls

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In Schilda saß die Lotte Wiedewitt in ihrem Arbeitszimmer und war durchaus guten Mutes.
»Wir werden uns schon durchsetzen!« sagte sie des Öfteren vor sich hin, und dabei arbeitete sie fleißig an einer neuen Wandbekleidung; sie beschäftigte sich schon seit mehreren Monaten, da die Einkünfte auch im Oberbürgermeistershause sehr zu wünschen übrig ließen, mit kunstgewerblichen Arbeiten.
In dem dreieckigen Arbeitszimmer der Frau Oberbürgermeisterin lagen in großer Unordnung große Muscheln, präparierte Fischgräten, Korallen und andere feste Meeresgewächse in Menge herum und bildeten ein anmutiges Stilleben.
An den Spiegeln der Wände hingen sehr viele Fischgräten, die durch ein neues Verfahren steinhart und mit allen möglichen Farben schillernd bunt gemacht waren.
Jetzt aber arbeitete die fleißige Lotte an einer neuen Wandbekleidung, die auf Metallplatten bunte Muster aus Perlmutter, Bernstein und gepreßten Seegrasfabrikaten zeigten; die Seegrasfabrikate, die in ihren braunen Naturfarben gelassen waren und sich durch sehr zierliche Adern auszeichneten, bildeten die Hauptteile der Muster.
Die Lotte sah garnicht von ihrer Arbeit auf, dachte aber dabei immerfort an ihren Moritz, der jetzt Kaiser von Ulaleipu spielte und wenig von sich hören ließ.
»Er soll schon staunen, wenn er wiederkommt!« sagte sie dann leise, und sie lächelte dabei, und ihre strahlenden Augen schauten zum Fenster hinaus und sahen draußen auf der Straße die geheimen Regierungssekretäre von Moellerkuchen und Käseberg, die eifrig mit einander über die neuen Zustände sprachen und die Oberbürgermeisterin hochachtungsvoll begrüßten.
In Ulaleipu saß währenddessen die Kaiserin Caecilie in ihrem Ankleidezimmer und fragte ihre Zofe, ob denn noch immer nicht das Pelzzimmer gereinigt sei.
»Die Luftpumpen«, sagte die Zofe, »saugen noch immer den Staub auf, aber die Geschichte hat bald ihr Ziel erreicht.«
Und als das nun geschehen war, begab sich die Kaiserin in ihr Pelzzimmer und setzte sich vor das weite offene Fenster und blickte auf den schwarzen See hinab und zu den großen Bergen hinauf und hinüber zu den vielen Häusern der Residenz, die an den Bergabhängen bunt und vielkantig leuchteten wie Edelsteine.
Das Pelzzimmer bestand an den Wänden und an der Decke und auf dem Fußboden aus lauter kostbaren Pelzen, die immer durch Luftschläuche, die sich mechanisch von der Decke herunterbewegen konnten, vom Staube befreit wurden; die Schläuche hatten vorzüglich funktionierende Staubaufsaugungsapparate.
Die Kaiserin saß an ihrem offenen Fenster und dachte an ihren Gemahl, der Garnichts von sich hören ließ.
Aber sie war über das Schweigen ihres Gemahls keineswegs ungehalten; sie las nun in einem alten Märchenbuch, das in wolkig buntgefärbtem Pergamentbande auf einem geschnitzten Elfenbeintische vor der Kaiserin lag – das Folgende:
»Die Zwerge aber machten der Prinzessin ein Armband aus glühenden Steinen, die immer wieder in anderen Farben leuchteten und eine feine prickelnde Wärme ausströmten, ein kostbares Armband – und mit diesem Armband konnte die Prinzessin tausend Mal schöner die Geige spielen als alle ihre Musikanten.«
»Ähnliches«, sagte die Kaiserin für sich, »haben wir jetzt im Kaiserreich Utopia schon in Wirklichkeit.«
Der Mond ging auf und spiegelte sich im schwarzen See, und die Kaiserin ließ das Lesen sein und blickte hinüber zu den Häusern der Stadt, in denen jetzt die Abendlampen angezündet wurden.

 


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