Menschenblut
Paul Scheerbart
Meine Tinte ist meine Tinte!
Menschenblut
Soziale Fabel
aus: das Lachen ist verboten
aus: Meine Tinte ist meine Tinte!
aus: Na prost!
Ein ziemlich jugendlicher Floh saß einmal in seinem Lehnstuhl und las in der Chronik des alten Großvaters. Da sprang die Mutter des jungen Mannes durch’s Fenster in’s Zimmer hinein. Der Mutter Leib war ganz voll Menschenblut.
«Junge, höre mal! Wie viel Menschenblut hast du heute schon getrunken?» Also rief die Mutter.
Der im Lehnstuhl sitzende Sohn klappte die Chronik des Großvaters ärgerlich zu, erhob sich, starrte die Mama kalt lächelnd an und meinte kurz: «Was geht dich das Menschenblut an, das ich trinken will oder getrunken habe — was geht dich das an?»
«Na ja, du bist immer der feine Herr — wo wirst du dich quälen — deine alte Mutter hat sich’s den ganzen Tag über sauer werden lassen… Glaubst du, es ist ein Spaß, immerfort bei den Menschen zu sein?»
«Nein — nein — deswegen saß ich auch hier und las», rief lachend der junge Floh — — — — — — — doch ihn dürstete, und er ließ sich von seiner Mutter den Weg zum nächsten Menschenbeine zeigen…
«Schläft der Mensch auch?» fragte der junge Mann.
«Jawohl, er schläft!» versetzte grimmig die vom Menschenblut ganz aufgequollene Mutter.
«Ohne Blut geht’s doch nicht ab», sagten Beide, wie sie weit voneinander waren.
«Ohne Blut geht’s doch nicht ab…»
na prost:
Schallendes Gelächter!
Jetzt haben die Herren wieder Sonne in der Brust.
Und Brüllmeyer erklärt:
«Das ist die nichtsnutzige Erwerbssucht! Die ist aber im Interesse der Fortentwicklung viel wichtiger als die leichtlebige Genuß— und Verschwendungssucht.»
«Hör‘ auf!» schreit ihn da der Kusander an, «du kannst dich mit deiner moralischen Anwandlung einpökeln lassen. Uns wird die Erwerbssucht Nichts mehr nützen. Laß endlich deine ewige Erklärerei. Das ist ja auf die Dauer nicht zum Aushalten. Ohne Erklärungen muß man die Kunstwerke auch genießen können! Trink und halt’s Maul! Na prost!»
Die Drei saufen wie die Igel.
Brüllmeyer macht wilde Witze, um seine Schmerzen zu verjagen. Er ist eine verrenkte, aber keine gebrochene Natur. Er philosophiert furchtbar witzig über die absolute Notwendigkeit der Schmerzen. Man hütet sich wohlweislich, ihm zu widersprechen. Er redet schließlich mehr, als er trinkt.
* * *
Passko wird mit der Zeit immer rationalistischer; er mahnt ständig zur Verständigkeit.
Kusander wird immer spöttischer und Brüllmeyer immer phantastischer; es bildet sich bei diesem auch ein sehr kühner ästhetischer Fanatismus aus.
Alle Drei sehen sich aber bald so ähnlich, daß, wenn die Flasche unbekannte Gäste bekäme, eine Verwechslung der Personen nicht ausgeschlossen wäre. Ihre gelbe Hautfarbe ist blasser geworden. Die schief geschlitzten Augen brennen noch immer wie schwarze Diamanten. Der Schnurrbart hängt allen Dreien nach Jahrtausende alter chinesischer Sitte schlapp runter und ist ganz weiß — auch bei den Jüngeren. Das kurz geschorene Haupthaar ist ebenfalls weiß; Schreck und Angst machen am schnellsten alt.
Die fein gebogenen Nasenrücken der drei Gelehrten sind jedoch — und das ist sehr eigentümlich — so schmal geworden, daß man mit diesen Nasen seinen Bleistift anspitzen könnte.
Die Drei haben selbstverständlich durch den ‹Gürtel der Enthaltsamkeit› ihren Geschlechtstrieb vollkommen getötet — wie man einst im alten Deutschland einen Zahnnerv tötete. Das Töten des Geschlechtstriebes war in javanischen Gelehrtenkreisen einfach Modesache. Der Gürtel ist übrigens dem menschlichen Körper und Geiste ebenso wenig schädlich wie das Katergift.
Wie ‹gewöhnliche› Menschen denken und empfinden die Geister der Achtkantigen natürlich nicht mehr.
Als Brüllmeyer die ersten Gehversuche macht, beginnt das Blau des Himmels, das immer wie ein Schleier wirkte, langsam zu verfliegen.
Und bald sieht der Himmel so bunt gestreift aus wie am Anfange der Fahrt.
Zur Feier seiner Genesung gibt Brüllmeyer eine gemütliche Geschichte zum Besten.
Mit hoch erhobenem Zeigefinger und funkelnden Brillantenaugen kommt’s fein — ein bißchen springend und hüpfend — heraus:
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