Die kleine Fliege

Paul Scheerbart

Meine Tinte ist meine Tinte!


Die kleine Fliege

Winteridyll

aus: Meine Tinte ist meine Tinte!
aus: Na prost!


Da sitzt sie —  die kleine Fliege —  mit ihren sechs Beinen —  ganz gemütlich —  auf Großmutters weißer Haube.

Es ist eine kleine schwarze Fliege —  die Fliege, die auf Großmutters Haube sitzt.

Das ganze Zimmer ist so still, und die Großmutter denkt an die gute alte Zeit.

Und die kleine Fliege fliegt auf, im Zimmer herum, stößt sich an der großen Lampe, spiegelt sich im alten Spiegel, umbrummt die Nippes auf der Kommode, setzt sich auf den Rand des Goldfischglases und reibt sich mit den Vorderfüßen den kleinen Kopf.

Großmutter trinkt Kaffee —  sie nimmt ein Stück Zucker und taucht es in den Kaffee hinein —  da kommt die kleine Fliege, fliegt geradezu auf den Zucker los, setzt sich auf ihm fest —  und beginnt zu saugen.

Großmutter sieht’s, schmunzelt —  und hält die Hand ganz still —  um die Fliege nicht zu stören.

Großmutter mag auch nicht gestört werden.

ps_152   Geistertanz


 Na Prost:

 


Kusander und Passko sehen den verschmitzt lächelnden Brüllmeyer erwartungsvoll an und fragen gleichzeitig:

«Soll das auch was bedeuten?»

«Natürlich!» erwidert der Gefragte, und dann beginnt er zu erklären:

«Dies ist ein ganz gefährlicher Scherz —  gradezu staatsgefährlich! Die Großmutter ist nämlich der Staat, der in tiefster Gemütsruhe einen kleinen Tyrannen duldet, ihm sogar Süßigkeiten gibt, wenn er sonst nicht unbequem wird und nicht viele oder fast gar keine Kameraden besitzt. Das habt ihr wohl nicht vermutet, daß sich ein alter europäischer König hinter der Fliege verbirgt —  nicht wahr?»

«Nein!» erklären da die Andern und schütteln nachdenklich den Kopf.

Kusander aber meint nach einer kleinen Weile:

«Ich glaube, daß die Könige der damaligen Zeit nicht nötig hatten, sich über so unverständliche Anspielungen aufzuregen.»

Passko sagt dazu:«Die Dichter, die nur so zarte Scherze sich erlaubten, müssen an Verfolgungswahn gelitten haben —  oder die damalige Zeit stand tatsächlich unter gemeingefährlicher polizeilicher Kontrolle.»

Und die Drei freuen sich, daß sie zehntausend Jahre später geboren sind und so viel Glück auf ihrer Weltfahrt hatten.

Brüllmeyer nimmt aber die Gelegenheit wahr und hält wieder einen seiner weit ausgreifenden Vorträge über die philosophenlose Zeit des alten deutschen Reichs.

«Damals!» spricht er wehmütig, «waren die öffentlichen Zustände wahrhaftig ganz gemeingefährliche. Die großen Geister der Zeit litten sämtlich an hochgradiger alkoholistischer Überreiztheit, denn sie hatten das ‹Katergift› noch nicht erfunden. Auch die unerquicklichen Verhältnisse, die durch die Auswüchse einer barbarischen Monogamie erzeugt wurden, brachten so manchen albernen Jammer in die Welt, denn den ‹Gürtel der Enthaltsamkeit› hatten sie ebenfalls noch nicht erfunden. Damals war ja noch nicht einmal der Harem nach Europa importiert. Verrückte und teilweise gräßliche Deliriumszustände alkoholistischer und erotischer Natur standen demnach auf der Tagesordnung. Und so gelangte die Polizei zu immer größerer Macht. Ganz Europa litt ja an chronischer Verrücktheit. Es ist durch das Zeugnis glaubwürdiger Zeitgenossen vollkommen erwiesen, daß kein einziges öffentliches Gebäude —  auch das kleinste nicht —  ohne polizeiliche Erlaubnis gebaut werden durfte. Und die Polizei verlangte, daß jedes Haus und jede Bude bei etwaigen Straßenkämpfen den Polizisten einen Stützpunkt böte. Ja —  der ganze Volks— Militarismus war eigentlich nur für die Polizei da. Selbst die unterirdischen Bahnen, die man in den entsetzlich ungesunden Großstädten baute, waren im Grunde genommen nur zu Polizeizwecken da. Ist es nicht merkwürdig, daß die Völker Europas über alle diese Dinge noch lachen konnten?»

Den Gelehrten treten dicke Tränen in’s Auge.

Um die Zeit noch greller zu beleuchten, holt Brüllmeyer ein außerordentlich klar gehaltenes Spottgedicht hervor:


ps_160   Nacht und Purpur

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Revision 03-01-2023

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