Platzende Kometen

Paul Scheerbart 

Das Lachen ist verboten


Platzende Kometen

aus: Immer mutig aus: Das Lachen ist Verboten


Was ist das? Es wird immer dunkler und so schwül. Blitze zucken, aber es donnert nicht. Jetzt pfeift es oben —  so gellend wie Lokomotiven, die Angst haben vorm Tunnel. Und nun fliegen Hagelstücke runter, große Hagelstücke und kleine Hagelstücke. Sie sind nicht rund, sie sind zackig und kantig wie schlecht gehauener Zucker, Aber Zucker ist das nicht —  es schmeckt kühl und herzhaft. Und jetzt rauscht es oben in den Wolken. Die Wolken jagen blitzschnell vorbei. Ein Sturm wirbelt durchs Land. Die Bäume brechen ab, die Dachziegel fliegen mit Blumentöpfen, Menschenhüten und flatternden Krähen weit weg —  ins freie Feld. Es hagelt dabei und regnet. Der Regen schmeckt so kühl und herzhaft wie die Hagelstücke. Da steckt was Seltsames drin in diesem Hagel und in diesem Regen. Die Gelehrten fahren mit ihren Galakutschen aufs Rathaus und halten dort lange Reden; alle Gelehrten haben Hagelstüdke in der Hand, einige haben noch Flaschen mit dem neuen Regenwasser. Die Gelehrten reden ausgezeichnet, und währenddem hagelt’s und regnet’s draußen immer stärker. Und der Sturm heult —  heult. Im Rathause erklären die klugen Gelehrten, daß das kein gewöhnlicher Hagel sei —  auch kein gewöhnlicher Regen. Und sie kosten alle von den Hagelstücken und trinken das Regen—  wasser. Und sie sagen, da sei ein neuer Stoff drin —  im Himmel müsse ein Komet geplatzt sein —  es müsse ganz bestimmt ein Komet gewesen sein. Kometensalz ist der neue Stoff, Er wirkt nur so komisch. Wer das neue Salz gekostet hat, dem zieht so was Weiches durch alle Glieder, und die Gedanken werden so einfach. Das Kometensalz ist verführerisch wie Alkohol.

Das Kometensalz brennt aber nicht hinten im Munde und unten im Leibe, reizt nicht auf —  es macht genügsam —  still. Die Menschen, die das Salz im Magen haben, können bald ihre Gedanken nicht mehr sammeln. Es ist den Menschen, als ginge alles fort. Und dann bleiben die Menschen stehen und gehen nicht weiter, ihre Glieder werden steif und hart wie Holz, und der erhobene Arm will nicht mehr runter; die Hand, die den Hut zum Grüßen zog, bleibt mit dem Hute oben in der Luft. Allmählich verhallt der Sturm, und das Wetter wird wieder besser. Beim hellen Sonnenschein merkt man aber erst den Umfang der ganzen Geschichte. Zehn nasse Soldaten auf dem Übungsplatze vor der Kaserne stehen auf einem Beine kerzengerade, doch das andere hochgehobene Bein geht nicht runter. Eine Bäckersfrau stößt dem einen Soldaten in die Seite, und alle Zehn fallen um wie hölzerne Soldaten aus einer Spielschachtel. Die Luft ist wieder still, Und die Menschen lecken an dem Kometensalz, das massenhaft die Erde bedeckt. Die Tiere lecken auch an dem Kometensalz. Und dann bleiben die Menschen und die Tiere nach und nach sämtlich auf der Straße und in den Häusern in seltsamen Stellungen stehen, sitzen, oder, liegen. Den Hunden bleibt das Maul offen. Die Vögel überschlagen sich in der Luft, fallen mit steifen Flügeln auf die Salzhaufen und rühren sich nicht mehr. Ein Leichenzug steht vor einer Kirche und kann nicht weiter, Die Bäume werden ebenfalls starr. Die Trauerbirken und die Trauerweiden verharren in Windstellung —  mit weit weggewehten Ästen —  als wütete noch immer der große Sturm. Und die Luft ist doch so still. Und die Menschen und Tiere sind auch so still, als wüßten sie gar—  nichts mehr zu sagen. Ein Schutzmann sitzt auf einer Parkbank unbeweglich mit einem Strolch zusammen —  sie sehen sich unablässig an. Ein Regiment dekorierter Nachtwächter befindet sich vor dem Rathause in konstanter Prisentierstellung. Die Kinder sind in der Schule nicht mehr zu hören —  so ruhig sind sie. Und im Rathause sitzen die Gelehrten wie Wachspuppen da. Der Bürgermeister, der das Salz nicht anrührte, schleppt sich müde nach Hause, trinkt im SorgenstuhI vor seinem Schreibtisch ein Glas Wasser und sieht am Ofen seine Frau —  sie ist unbeweglich wie ein abgeschiedener Geist. Der Bürgermeister fa6t sich an den Kopf und ruftplötzlich angstvoll: „Franziska! Das ist die neue Zeit!“ Aber er kann den Mund nicht mehr zumachen —  das Salz hat auch ihn gepackt —  es war im Wasserglase. Das furchtbare Kometensalz ist überall! In der Residenz sitzt der König auf seinem Throne und hält immerfort das Zepter —  regiert aber nicht —  denn alIe seine Untertanen sind so steif wie er selbst. Jedoch keinem der Gelähmten geht das Bewußtsein aus; das Gehirn arbeitet bloß etwas langsamer. Die Augen behalten ihre Kraft. Die Ohren hören; es ist nur nicht viel zu hören, Lauter Salzsäulen an allen Ecken und mitten im Wege! Lebende Salzsäulen! Sie sitzen, als wenn sie unablässig nachdächten —  stehen, als hätten sie was vergessen —  liegen, als wären sie dabei, was Feines zu dichten —  und rühren kein Glied. Die Oberfläche der ganzen Erde ist ganz starr geworden. Und nach sieben Tagen wird’s am Himmel abermals finster. Und abermals kommt ein Sturm. Und der Sturm wirbelt die Tiere und Menschen durcheinander wie weIke Blätter. Schornsteinfeger fallen von den Dächern; Arbeiter und SoIdaten, Frauen und Kinder rollen in den Gassen wie Tonnen herun, wobei die Glieder abbrechen, ohne zu bluten. Und dann wird’s wieder still. Und allmählich verändert sich alles. Langsam fallen die Häuser ein. Die Äste der Bäume fallen ab wie Eiszapfen. Säulen platzen, Denkmäler und Türme brechen krachend entzwei.

Und dann sickert ein dunkler Staub auf die Erde hernieder. Der dunkle Staub bedeckt alles —  Auch die Wasser und die Meere. Ein andrer Komet muß wohl geplatzt sein. Der bestaubte Erdball dreht sich weiter.


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