Narr Nero

Paul Scheerbart

Meine Tinte ist meine Tinte!


Narr Nero

Eine wüste Nacht

aus: Meine Tinte ist meine Tinte! 
 aus: Immer mutig


»Steh auf! Steh auf!«
So gellt es mir in den Ohren, und ich öffne meine Augen und sehe einen alten dicken Mann neben meinem Bett auf dem Stuhl sitzen, auf dem meine Kleider liegen. Ich werde furchtbar wütend, denn ich lasse mir nichts gefallen — besonders nicht von einem alten dicken Mann. Der aber sieht meine Wut und spricht also: »Ich bin der alte Kaiser Nero und als alter Wüterich so ziemlich bekannt. Jetzt muß ich mir als Geist allnächtlich einen Kumpan zum Saufen holen. Und dieser Kumpan muß jedesmal der größte Wüterich seiner Zeit sein. Den ich suche, hab‘ ich gefunden. Reich mir Deine Hand.«
Ich schlage dem Herrn Nero sofort mit der Faust ins Gesicht.
Indessen — der Schlag geht durch, und mein Nero lächelt. Er steht auf, reicht mir höflich meine Unterhosen, hilft mir beim Anziehen dieser Unterhosen, fällt mir lachend um den Hals und schwebt mit mir durch die Zimmerdecke durch in die Sternennacht hinauf.
Unten seh‘ ich viele Laternen und dazwischen eine Schlägerei.
»Ich bin immer ein Narr gewesen«, raunt mir der Nero ins Ohr, »ich war ebenso wütend mein ganzes Leben hindurch wie die Leute, die sich da hauen.«
Wir fliegen weiter und sehen unter uns immerfort wütende Menschen, die sich hauen.
Viel Blut fließt, zerbrochene Glieder bersten, Hunde heulen, Schädel knacken, und Alles wird plötzlich mit Blut besudelt, daß mir übel wird.
»Was soll die Narrheit?« frage ich wild.
»Wie?« schreit da der Kaiser lachend, »merkst Du jetzt schon, daß die Wut eine Narrheit ist?«
Ich sage wütend: »Ja!«
Er schüttelt mich heftig und fliegt dann mit mir in einen Weinkeller.
Wir trinken natürlich und reden über die Welt und über die Seligkeit.
Wir trinken, bis wir unter den Tisch fallen.
Und plötzlich wird der Nero über mir schrecklich groß, und er wird immer größer — so groß wie die ganze Welt.
Und seine Stimme hör‘ ich erschallen wie Posaunen; sie sagt laut und klar: »Ich bin der Kaiser der Welt, und alle Menschen sollen so wütend werden wie ich. Doch ich bin auch ein Narr — und das sollen die Menschen auch werden. Sie sollen närrisch sein, wenn sie wütend sind.«
Und der Narr Nero tanzt wie ein Toller — und ich muß lachen.
Da tanzen wir zusammen.
Und all die Leute, die sich eben noch geschlagen haben, kommen herbei und müssen auch furchtbar lachen — denn wir tanzen mit neronischer närrischer Wut.
Und die wütenden Menschen singen dazu:
Nero! Nero!
Du bist unser großer Nero!
Nero! Nero!
Und Alle tanzen, um auch zu Narren zu werden.
Man bringt mich dann ganz sanft zu Bett — Narr Nero bringt mich zu Bett.
Narr Nero bringt auch die Andern ganz sanft zu Bett.
Nero! Nero!
Du bist unser großer Nero! Nero! Nero!
Das ist das neoneronische Wiegenlied!
Die wütenden Narren werden immer sanfter.
Schlummer!


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