Eine moderne Kasandra
Paul Scheerbart
Meine Tinte ist meine Tinte
Eine moderne Kasandra
Eine Zukunftsgeschichte
aus: Meine Tinte ist meine Tinte!
Mit einem bekannten Historiker, der ein deutscher Professor ist, ging ich neulich zu einer unbekannten, aber sehr interessanten Kartenlegerin.
Wir lachten natürlich sehr viel, als wir hingingen, und ich glaubte natürlich nicht, daß wir viel Neues erfahren würden.
Mein Professor war jedoch ganz anderer Ansicht; er sagte mir ganz ernst: »Der große Napoleon ging auch einmal zu einer Kartenlegerin. Und ich bin durchaus der Meinung, daß manche Menschen die Fähigkeit haben, herankommende Dinge früher zu wittern. Die Hunde merken auch sehr viele Dinge früher als wir. Warum sollen nicht manche Menschen Hundenasen haben? Die Kartenlegerin, zu der wir gehen, hat nach meiner Meinung auch eine Hundenase. Passen Sie nur auf, was Sie sagen wird!«
Danach wurden wir von der Kartenlegerin, einer sehr einfach aussehenden älteren Dame, empfangen. Wir erzählten ihr, daß wir gerne die Zukunft Europas kennenlernen möchten. Und die Dame lächelte und sagte ruhig:
»Der Herr Professor ist ein Historiker und weiß ganz genau, daß die Revolution im Jahre 1789 nicht ohne Folgen für Europa blieb; ganz Europa wurde durch die französische Revolution >umgewälzt<; wir bekamen stehende Heere, konstitutionelle Verfassungen, die großstädtischen Einrichtungen und viele andere Dinge, die einfache Folgeerscheinungen der französischen Revolution waren.«
Der Professor unterbrach die Dame und sagte: »Wir wollen aber gar nicht hören, was nach der französischen Revolution kam. Wir wollen hören, was nach der russischen Revolution kommen wird.«
»Ich weiß natürlich nicht«, erwiderte die Kartenlegerin, »ob mein Zustand heute eine Beantwortung Ihrer Frage möglich machen wird. Aber ich werde Ihnen sagen, was ich denke — vielleicht wird es dann im Laufe des Gesprächs möglich, etwas Bedeutungsvolles zu sagen. Sie, Herr Professor, können mich gelegentlich unterbrechen — Sie wissen ja, wann Sie’s dürfen und wann nicht. Ihren Freund muß ich aber bitten, zu schweigen.«
»Das wird mir zwar«, versetzte ich rasch, »sicherlich sehr schwerfallen. Aber ich werde trotzdem schweigen. Ich schwöre, daß ich kein Wort sagen werde — was auch kommen mag.«
Die Dame begann darauf zu sprechen, wie nun folgt:
»Wer könnte daran zweifeln, daß die russische Revolution für die Entwicklung Europas im zwanzigsten Jahrhundert das wichtigste Ereignis ist? Wer könnte daran zweifeln? Es ist ja so selbstverständlich, daß die russischen Revolutionsideen auch in den übrigen Staaten Europas wirksam werden. Und dasjenige, was in Rußland geschieht, wird sehr bald in den Hintergrund gedrängt werden durch das, was bei uns geschieht. Es läßt sich gar nicht leugnen, daß die Erschütterungen der westlichen Staaten Europas viel schlimmere Folgen haben müssen. Eine Bombe, die in Berlin oder in Wien geworfen wird, dürfte viel mehr zerschlagen, als eine Bombe im phlegmatischen Staatskörper Rußlands zerschlagen kann. Und darum haben wir zunächst zu untersuchen, ob es den russischen Revolutionären angenehm sein muß, wenn das westliche Europa auch in hellen Flammen steht. Und diese Frage haben wir schlankweg zu bejahen; den russischen Revolutionsführern, die natürlich wirklich existieren, muß sehr viel daran liegen, auch im westlichen Europa anarchistische Zustände zu schaffen, da diese auf Rußland ganz energisch zurückwirken müssen. Außerdem haben alle Fanatiker stets das Bestreben gehabt, ihre Ideen so weit wie möglich zu verbreiten. Und es wäre einfach lächerlich, wenn man annehmen möchte, die russischen Fanatiker, die doch schockweise in Rußland und London da sind, könnten von der allgemeinen Regel eine Ausnahme machen.«
Der Professor der Geschichte sagte darauf: »Bis hierhin könnte ich auch gesprochen haben. Nun möchte ich aber doch Dinge hören, die mir mehr sagen, als ich mir sagen kann. Vielleicht schweigen wir ein paar Minuten.«
Die Kartenlegerin stand hiernach auf und setzte sich im Hintergrunde des Zimmers in der Nähe des Fensters auf einen Holzstuhl.
Es war ganz still im Zimmer. Die Uhr schlug elf. Und wir schwiegen und sagten nichts. Dann aber sprach plötzlich die Kartenlegerin mit völlig veränderter Stimme: »Ich sehe Entsetzliches! Schauerliche Leichenzüge kommen vorbei! Und die Menschen, die noch leben bleiben, haben blasse Gesichter und große, weit aufgerissene Augen. Es wird mir alles immer deutlicher. Mir ist so, als höre ich leise Stimmen zu mir sprechen. Die eine Stimme spricht ganz deutlich zu mir: >Hätte man nun, sagt sie leise, >ein wenig früher daran gedacht. Wäre man nur nicht so furchtbar sorglos gewesen, dann wären die langen Leichenzüge nicht gekommen. Man hätte doch wissen müssen, daß das in Gefahr war — daß der ganzen Kultur doch die Rippen knacken müßten, wenn der Stoß kam. Aber die wahnsinnige Sorglosigkeit der Schlafwandler war nicht umzubringen. Jeder dachte nur an das Nächste — aber nicht an das Kommende. Und das Kommende mußte doch kommen —das wußten doch alle, die da waren. Man wußte doch auch, daß das ganze Militär machtlos war — man hätte doch viel mehr aufpassen müssen. Waren denn alle betäubt?< Es war den Leuten wohl unmöglich, die Glieder zu bewegen, wie’s uns oft im Traume unmöglich ist, wenn der Alp drückt. Aber was da aus der Erde hervorkommt — das ist noch entsetzlicher als alles! Das sind Wahnsinnige! Der Wahnsinn hat sie zu Tieren gemacht! Und dieser Wahnsinn greift immer weiter um sich! Alle werden wahnsinnig! Alle werden wahnsinnig! Helft mir! Helft mir!«
Der Professor sprang schnell auf und hielt die Kartenlegerin fest, sonst wäre sie auf den Fußboden gefallen.
Ich goß schnell ein wenig Wasser in ein Wasserglas und reichte es dem Professor, und der besprengte die Bewußtlose und brachte sie durch ein paar ruhig gesprochene Worte wieder zu sich. Und dann setzten wir uns alle drei wieder an den Tisch, der in der Mitte der Stube stand.
Und ich fragte danach leise: »Darf ich jetzt auch sprechen?«
Und man erlaubte es mir, und ich sprach: »Mir haben sich die Haare auf dem Kopfe gesträubt — und Fieberschauer haben mich geschüttelt. Ich glaube an das Entsetzliche — und auch an den darauffolgenden Massenwahnsinn. Und wenn ich sagen dürfte, was ich von diesen Visionen halte, so wäre ich vielleicht geneigt, diese Visionsgeschichte fortzusetzen.«
»Um Himmelswillen«, rief die Kartenlegerin, »das tun Sie ja nicht. Ein Gehirnschlag würde Ihrem Leben sofort ein Ende bereiten. Glauben Sie ja nicht, daß das Entsetzliche und Wahnsinnige so leicht zu ertragen ist. Die Bilder, die ich gesehen habe, waren schauderhaft. Seien Sie froh, daß Sie nicht gesehen haben, was ich sah. Ich wills’s auch nicht schildern. Verlangen Sie das nicht von mir. Es ging alles furchtbar schnell. Aber es wird mir doch unvergeßlich bleiben. So was haben alle Schauerromane der Welt noch niemals vorgeführt; es war alles viel schauerlicher. Und ein Leichengeruch dabei! Und dann das Wahnsinnige! Nein — nein! Ich bin Otters in Irrenhäusern gewesen. Aber so was habe ich nie gesehen. Verlangen Sie nicht, daß ich Ihnen die Gesichter schildere! Ich kann’s nicht. Mir wäre es sehr angenehm gewesen, wenn wir ganz verständig und verstan—dcsgeniäß über die Geschichte sprächen, damit ich wieder ruhiger werde. Wohl dem Menschen, der nicht so wie ich an Zukuiiftsvisionen leidet. Sie können mir glauben: es ist wahrhaftig kein Vergnügen,«
Und bei den letzten Worten lächelte die Dame, und der Professor räuspcrte sich und sagte dann mit ganz ruhiger Stimme: »Es ist auch nach der französischen Revolution so viel Entsetzliches gekommen. Der Schlußakkord im Jahre 1813 war sichertich entsetzlich genug; das Entsetzlichste geschah damals in Rußland, als dort Napoleons Heer zugrunde gjng.Jet/t dürfte die Geschichte nach der anderen Richtung hin austaufen —— und uns in Frankreich das Entsetzlichste bescheren.«
»Kanu man nicht«, rief ich hastig, „irgend etwas tun, was die Wucht des Kommenden abschwächen könnte.«
»Was der Einzelne tun kann«, erwiderte darauf der Professor, »das ist so wenig, daß es gar nicht in Betracht kommt, wenn die großen Massen das große Wort führen. Sehr vernünftig wird uns dieses große Wort nicht vorkommen. Aber wir werden auch nicht in der Lage sein, das große Wort der Massen zu verbessern.«
»Das ist ja eben«, warf hier die Kartenlegerin ein, »das Kolossale an der Geschichte, daß eine telepathische Wirkung, die von Millionen ausgeht, eine niederschmetternde Kraft besitzt. Denken Sie an stürmische Volksversammlungen! Da ist schließlich nicht der kaltblütigste und intelligenteste Mensch imstande. Widerstand 7.u leisten. Dementsprechend geht es aber in aufgeregten Zeilen in lausendfach größcrem Maßstabc zu, da ja die Massen immer tausendmal größer sind,«
»Und«, fragte ich nun, »einen Widerstand hallen Sie für ganz unmöglich?«
»Für gänzlich unmöglich!« antwortete die Kartenlegerin ganz ruhig, »fragen Sie mal Japaner, ob in Japan einzelnen Leuten möglich gewesen ist, im Januar 1904 gegen den Krieg zu reden. In Japan haben wir das erste Beispiel eines modernen Massenwahnsinns beim Ausbruche des russischjapanischen Krieges. Und dieser Massenwahnsinn hat dem japanischen Volke die gewaltige Kraft gegeben. Dieser Massenwahnsinn hat sich allmählich auch auf die Russen übertragen; wir haben aber jetzt in Rußland einen revolutionärem Massenwahnsinn, während der japanische ein >militärischer< war. Und daraus können wir schließen, daß der Massenwahnsinn, der jetzt im westlichen Europa ausbricht, vielleicht nicht revolutionär und auch nicht militärisch sein könnte.«
»Wäre«, rief ich lachend, »ein künstlerischer Massenwahnsinn möglich?«
Da lachte der Professor auch und die Kartenlegerin mit, Und beide erklärten, daß man vorläufig wohl nichts Genaueres über den bevorstehenden Massenwahnsinn im westlichen Europa aussagen könnte.
Danach verabschiedeten wir uns.
Und mir tat es sehr leid, daß ich nichts Weiteres erfahren vermochte.
»Der künstlerische Massenwahnsinn«, sagte der Professor, »ist jedenfalls eine Sache, von der wir uns vorläufig wohl noch keine Vorstellung machen können.«
»Denken Sie doch«, rief ich heftig, »an die Zeit, in der ein Phidias lebte — oder an die, in der ein Michel Angelo lebte — oder an die, in der ein Peter Cornelius lebte. In diesen Zeiten waren die Volksmassen vom Kannstrausch ergriffen, solche Zeiten können doch wiederkommen. Man braucht ja dabei nicht gleich von einem Massenwahnsinn zu sprechen — man kann ja von einer Massenenergie sprechen.«
Da wurde der Professor recht nachdenklich, und er sagte nach einer Weile ganz ernst: »Sehen Sie, daß ich Recht hatte? Sehen Sie, daß es nicht so nutzlos ist, wenn man mal zu einer Kartenlegerin geht? Hoffen wir, daß sich in Europa demnächst eine künstlerische Massenenergie zeigt! Die können wir gebrauchen.«
Dem stimmte ich natürlich sehr lebhaft bei, und wir redeten über dieses Thema bis zum frühen Morgen, kamen währenddem auch mit verschiedenen Künstlern zusammen, denen wir unsere Zukunftsvisionen mitteilten. Aber diese Künstler schüttelten alle lächelnd den Kopf und wollten uns nicht glauben. Darüber ärgerten wir uns so, daß wir schließlich ganz bösartige Worte gebrauchten — gegen den Glaubensmangel in Künstlerkreisen..
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