Herr Kammerdiener Kneetschke

Paul Scheerbart

Revolutionäre Theater-Bibliothek


Herr Kammerdiener Kneetschke

Eine Kammerdiener— Tragödie in fünf Aufzügen

Uraufführung: 1. Dezember 1905, Saal der »Gesellschaft der Freunde« Berlin, Potsdamer Straße 9


Motto: Üb immer Treu und Redlichkeit!

 


Personen:

 

Fürst Wladimir Zabórrek, ein Bräutigam
Graf Hellmuth Patzig, ein Schwiegerpapa
Gräfin Meta Patzig, eine Schwiegermama
Gräfin Kathi Patzig, eine jugendliche Braut
Großvater Patzig, ein Geist mit weißem Vollbart
Kneetschke, ein herrschaftlicher Kammerdiener
Ein Postbote in Kürassier— Uniform
Verwandte des Brautpaares (Onkel, Tanten, Basen etc.)
und ganz gewöhnliche Domestiken, die nichts zu sagen haben.

Die Handlung spielt in der nächsten Zukunft auf den Brettern der »blauen« Bühne.


Vorwort zur Blauen Bühne

Zur Herstellung der blauen Bühne sind erforderlich: drei höhere Wandschirme, die mit Tuch oder Papier von preußischblauer Farbe überzogen sind. Zwei dieser Wandschirme werden rechts und links rechtwinklig zur Lampenreihe aufgestellt, der dritte Wandschirm bildet rechtwinklig zu den beiden anderen den Hintergrund —  doch so, daß hinten rechts und links in der Seitenwand ein meterbreiter Durchgang bleibt. Die Kostüme sind mit Ausnahme des Postboten und des Großvaters im Hofgeschmacke des achtzehnten Jahrhunderts zu halten —  doch mit Freiheit und mit Vermeidung der blauen Farbe —  nur die Zopfperrücke muß hellblau sein. Den Vorhang bilden zwei hellblaue Gardinen, die in den ersten Aufzügen von zwei Kavalieren des achtzehnten Jahrhunderts mit weißen Zopfperrücken feierlich und graziös mit Degensalut und ähnlichen Scherzen auseinander und auch zuzuziehen sind.


Erster Aufzug

(Vor der Mitte jeder Wand steht ein Stuhl.)

Kneetschke: Ah, sieh da! Der Postbote! Na? Immer noch die Hand am Schwert?

Postbote: Zu Befehl! Wohnt hier Herr Knutschke?

Kneetschke: Nein, mein Lieber! Der Herr wohnt hier nicht.

Postbote: Ach so! Wollte sagen: Knietschke! Wohnt hier Herr Knietschke?

Kneetschke: Nein, mein Lieber. Der Herr wohnt auch nicht in diesem Palaste.

Postbote: (holt seine Brille vor und liest die Adresse einer Postkarte ganz genau) Natürlich! Das heißt Kneetschke! Wohnt der Herr Kneetschke vielleicht hier?

Kneetschke: Herr Kneetschke bin ich selbst.

Postbote: Hier ist eine Postkarte für Euer Gnaden.

Kneetschke: Wie? Für mich? Das wagen Sie?

Postbote: Ja, was ist denn dabei?

Kneetschke: Mein Lieber, ich bin wohl gewöhnt, eingeschriebene Briefe in Empfang zu nehmen, gelegentlich nehme ich auch einfache Briefe an, wenn ich von ihrem Inhalt vorher in Kenntnis gesetzt wurde —  aber offene Postkarten, mein Lieber, sind für mich nicht da. Gehen Sie fort! (ab nach links.)

Postbote: Das muß ja ein sehr vornehmer Herr sein. Na —  ich lege die Karte in die Mitte des Palastes (er tuts und geht säbelrasselnd hinten rechts ab).

(Gräfin Kathi Patzig kommt mit zwei weiblichen Domestiken von hinten links auf die Bühne. Die Drei haben große Strohhüte auf dem Kopfe und Sonnenschirme in der Hand, die im Folgenden zugemacht werden.)

Kathi: Ach, wenn der Frühling kommt, dann ist Europa so schön —  so sehr sehr schön. Und ich liebe die Schönheit.

Die beiden Domestiken: (die Postkarte auf dem Fußboden erblickend) Ah!

Kathi: Na?

Die beiden Domestiken: (Auf die Karte mit dem Sonnenschirm weisend) Da!

Kathi: Ja! Holt sofort meinen Papa und meinen —  Wladimir. (Die beiden Domestiken hinten rechts und links ab.) Haha! Hinter der Karte steckt ein Geheimnis! Schnell! (sie hebt die Karte auf und liest:) Herrn Kneetschke hier. Viktoria— Straße 17. Mein lieber Kneetschke! Sie sind der größte Esel von ganz Europa! Und es imponiert mir, daß sie all die vielen andern Esel Europas so überragen. Mit Ihnen ist ein Geschäft zu machen. Ich besitze eine Menagerie lebendiger Monstrositäten —  darf ich Sie für diese Menagerie als Riesenesel engagieren? Sie erhalten monatlich tausend Mark Gage und freies Futter. Ich bin Ihr Freund Michel Männlich.

(Kathi ringt die Hände und verbirgt die Karte in ihrem Sonnenschirm, während hinten rechts der Papa und links der Wladimir erscheinen.)

Papa und Wladimir: (zu gleicher Zeit sehr laut) Kathi!

Kathi: (läßt vor Schreck den Sonnenschirm fallen) Wladimir!

Wladimir: (fängt die Kathi in seinen Armen auf) Was fehlt Dir? Was hast Du da in den Sonnenschirm gesteckt?

Kathi: Es ist ein Geheimnis.

Papa: (die Karte aus dem Sonnenschirm hervorziehend) Da werden wir gleich dahinterkommen.

Wladimir: Setze Dich nur, mein liebes Bräutchen. (führt sie zum hinteren Wandstuhl, auf dem sie sich langsam niederläßt.)

Papa: Das ist eine Gemeinheit! Der arme Kneetschke!

Wladimir: (eilt auf den Papa zu, nimmt ihm die Karte aus der Hand, liest und lacht —  und lacht so heftig, daß er sich auf den linken Wandstuhl setzen muß. Der Papa setzt sich auf den rechten.)

Papa: (ernst) Kathi, hol den Kneetschke her!

Wladimir: (nachdem die Kathi fortgegangen ist) Lieber Papa, Sie wollen doch nicht jetzt mit dem Kneetschke über diese Karte sprechen, nicht wahr?

Papa: Nein, ich will mit ihm nur über die Verlobungskarten sprechen.

Wladimir: Schön! und diese Postkarte überlassen Sie mir, nicht wahr?

Papa: Jawohl! Lach bloß nicht so viel, mir ist bei allen unsern Geldsorgen durchaus nicht lächerlich zu Mute.

Wladimir: Mir eigentlich auch nicht.

Papa: Hm (Kneetschke kommt von links und verbeugt sich feierlich —  erst vor dem Grafen und dann vor dem Fürsten.) Kneetschke die Verlobungskarten sollen gedruckt werden —  und zwar auf neuen Hundertmarkscheinen mit Goldlettern: Kathi Patzig und Wladimir Zabórrek Brautpaar. Weiter nichts. Besorgen Sie das.

Kneetschke: Gnädigster Herr Graf, Ihr seliger Herr Großpapa ließ Verlobungskarten stets auf Tausendmarkscheinen drucken. Davon dürfen wir nicht abgehen.

Wladimir: Ach! Das wird schön.

Papa: Mein lieber Kneetschke! Wir haben fünf hundert Verlobungsanzeigen zu versenden —  so viel Tausendmarkscheine hab ich nicht.

Kneetschke: Dann dürfte eben die Verlobung nicht stattfinden.

Wladimir: Kneetschke! Sie sind wohl verrückt geworden!

Kneetschke: Durchlaucht! Mir geht die Ehre der Familie Patzig über Alles —  sie ist mir auch mehr wert als mein bißchen Verstand.

Wladimir: (springt auf und gibt dem Kneetschke die bewußte Postkarte) Da les‘ Er mal das!

Kneetschke: (liest und taumelt langsam rückwärts —  bis er auf den hinteren Wandstuhl fällt) Oh! Oh! Oh!

Wladimir: (setzt sich wieder auf den linken Wandstuhl und lächelt)

Papa: So! So! So!

(Mit einem Ruck erheben sich dann alle Drei und stehen steif da —  Kneetschke hebt seine beiden Fäuste hoch zum Himmel empor, Wladimir faltet über seinem Haupte seine Hände —  und der Papa spreizt die zehn Finger seiner beiden Hände weit und ausdrucksvoll auseinander.)

Gardine!


Zweiter Aufzug

(Jetzt stehen zwei Stühle vor jeder Wand. In der Mitte jeder Wand hängt ein ovales Familienbild.)

Kneetschke: Gnädigste Gräfin Kathi! ich beschwöre Sie —  schieben Sie die Verlobung auf! Ein Fürst, der seine Verlobungsanzeigen nicht einmal auf Tausendmarkscheinen drucken lassen kann, ist es nicht wert, von einer geborenen Patzig geliebt zu werden.

Kathi: Kneetschke, Sie machen mich unglücklich!

Kneetschke: Lassen Sie nur, das vergeht wieder.

Kathi: (mit dem Fuße aufstampfend) Wenn Sie lieber vergehen möchten!

Mama: (von links mit wallenden Locken) Aber Kathi! Kathi! Wie kannst Du nur den Fußboden so behandeln?

Kneetschke: Komtesse ist verliebt.

Mama: Schweigen Sie, Kneetschke!

Papa: (von rechts im Dreispitz) Was ist denn hier los? Gibts auch hier einen Aufruhr? Sind denn die Rebellen überall?

Kathi: Ach Papa! Dieser verrückte Kneetschke will mich bereden —  ach —  meinem Wladimir untreu zu werden (weint schluchzend mit’m Taschentuch.)

Mama: (kreischend) Was? Will dieser Kneetschke Dich heiraten? Sollst Du Frau Kneetschke werden?

Papa: Aber Gemahlin! Werde doch nicht lächerlich. So ists doch nicht gemeint. Kneetschke holen Sie den Fürsten!

(Kneetschke ab.)

Kathi: Papa das sage ich Dir jetzt in allem Ernste: ich bleibe meinem Wladimir treu und wenn die ganze Welt in Stücke gehen sollte.

Papa: Kinder, beruhigt Euch bloß! (er legt seinen Dreispitz auf den vorderen Stuhl rechts.)

Mama: Da soll ja der Teufel ruhig bleiben! Wer kann denn das aushalten? Ich habe mir die größte Mühe gegeben, die Verlobung endlich zu Stande zu bringen —  und jetzt soll mir ein Kammerdiener alle meine feinen Netze zerreißen?

Papa: Meta, beruhige Dich bloß!

Kathi: Das ist ja herzzerreißend.

Papa: Kinder, beruhigt Euch bloß!

Wladimir: (auch im Dreispitz) Ja, Kinder, beruhigt Euch bloß! Die Rebellen haben sich auch beruhigt —  und Euer Kneetschke wird auch beruhigt werden. (er legt den Dreispitz auf den vorderen Stuhl links.)

Papa: Wladimir, nimm nur erst Platz! Bitte, neben Deinem Dreispitz! Ich tus auch! Frauenzimmer, setzt Euch da hinten hin und seid mal ein bischen still. (alle Vier setzen sich.)

Mama: Ach, Wladimir, ich bin so unglücklich.

Kathi: Ach, Wladimir, ich bleibe Dir treu —  wie es auch kommen mag —  es ist mir Alles ganz egal.

Mama: Mein mutiges Kind!

Papa: Nun seid doch endlich mal still und laßt den Wladimir mal reden.

Wladimir: Die Sache ist doch so einfach: Wir lassen, um Euern Kneetschke zu beruhigen —  damit er nicht Radau schlägt —  einfach falsche Tausendmarkscheine anfertigen. Da diese mit der Anzeige bedruckt werden —  und damit ist doch jede Gefahr ausgeschlossen.

Kathi: Na natürlich! Oh, wie einfach!

Mama: Wladimir, Du bist ein Genie!

Papa: Die Sache ist tatsächlich vom juristischen Standpunkte aus unantastbar. Die falschen Tausendmarkscheine können von uns zu Verlobungszwecken wohl gebraucht werden.

Kathi: Aber Kneetschke darf davon nichts erfahren. Pst!

Wladimir: (leise) Selbstverständlich! Zum Danke für meine gute Idee müßt Ihr jetzt auch ein bißchen Menuett mit mir tanzen.

Kathi: (leise) Mit Wonne.

Mama: (ganz leise) Aber wir haben ja keine Musik!

Papa: (auch ganz leise) Das ist ja gerade das Beruhigende an diesem Menuett.

(Die Vier tanzen Menuett ganz leise ohne Musik. Und die Gardinen werden vorsichtig ganz leise zugezogen.)


Dritter Aufzug

(Keine Stühle —  oben an den Wandschirmen Tannengirlanden mit großen roten und gelben Papierblumen. Weibliche und männliche Domestiken gehen und laufen über die Bühne mit Schüsseln, Tellern, Flaschen, Blumen, Kuchen und Körben. Einzelne Domestiken flüstern sich vorne was ins Ohr —  eilen aber bald wieder weg. Aus den Hinterzimmern hört man Gläserklirren und Hochrufen. Währenddem erscheint Kneetschke und schreitet nachdenkend, die Hand am Kinn, durch die Domestiken hindurch. Und dann erscheint, während die gewöhnlichen Domestiken verschwinden, das glückliche Brautpaar, ohne den Kneetschke, der vorne rechts stehen bleibt, zu bemerken.)

Wladimir: Willst Du sehen, wie die Tausendmarkscheine leuchten? (er holt ein paar Scheine aus der Brusttasche hervor und schwenkt sie in der Luft und erblickt dabei den Kneetschke.)

Kneetschke: Durchlaucht wollen entschuldigen, daß ich mich nicht früher bemerkbar machte —  aber ich dachte grade über das Leben nach —  ich bin ein ehrbarer Mann und kann mir dieses Nachdenken nicht abgewöhnen, da es doch so viele Dinge gibt, die sich mit der Ehrbarkeit eines festen Charakters nicht vertragen.

Wladimir: Kneetschke! Sind Sie Professor geworden?

Kneetschke: Durchlaucht! Ich bleibe, was ich bin —  bloß ein ehrbarer Mann —  und ein fester Charakter.

Kathi: Und Sie bleiben dafür auch ein langweiliger Peter; bleiben Sie da stehen —  wir gehen. (mit Wladimir scherzend hinten rechts ab)

Kneetschke: Ob das noch eine echte Patzig ist? Ich fürchte dieser Wind— Fürst, der mit seinen Tausendmarkscheinen so viel Wind machte, hat diese Patzig demoralisiert. Hm! Wie kann man nur mit so kostbaren Scheinen, die außerdem noch zu Verlobungszwecken verwendet werden sollen, so viel Wind machen? Wie kann man nur? Hm! Hm! (Papa und Mama kommen)

Papa: Ich fürchte, daß das Unglück nicht fern ist.

Mama: Ach! Wie hab ich mich erschrocken! Da steht ja der Kneetschke!

Kneetschke: Bitte um Verzeihung, Euer Gnaden! Ich gehe schon!

Papa: Bleiben Sie stehen. Haben Sie die Hundertmarkscheine zum Drucker getragen?

Kneetschke: Euer Gnaden mögen vergeben —  aber ich habe die Scheine nie bekommen.

Mama: Aber Hellmuth! Jetzt sprichst Du wieder von Hundertmarkscheinen? Was soll der Kneetschke bloß davon denken? Wladimir hat doch schon die Tausendmarkscheine —  besorgt.

Kneetschke: Ah! Der Fürst Wladimir Zabórrek hat die fünfhundert Tausendmarkscheine besorgt? Ja —  dann darf er sich mit ihnen auch Wind zufächeln —  das ist etwas Andres.

Papa: Was heißt das, Kneetschke?

Kneetschke: Durchlaucht waren vorhin hier und taten, wie ich sagte. Ich habs mit meinen eigenen Augen gesehen, als ich grade übers Leben nachdachte.

Brautpaar: (hinten links) Mama! Mama!

Mama: Ich komme ja schon! Was wollt Ihr denn von Mama? (hinten links ab)

Kneetschke: (erschreckend) Ah!

(Hinten rechts erscheint der Geist des Großvaters Patzig in langem Barte, geht langsam an der hintern Wand entlang und bleibt in der Mitte derselben stehen. Papa und Kneetschke taumeln nach rechts und links an die Seitenwände.)

Geist: Kneetschke! Behüten Sie die Ehre der Familie Patzig.

(Der Geist geht langsam weiter und verschwindet hinten links, und Kneetschke fällt auf die Erde, während der Papa die Hände vors Gesicht schlägt. Die Gardinen ziehen sich von selber zu.)


Vierter Aufzug

(Jede Wand ohne Girlanden mit verschiedenen symmetrisch aufgehängten Familienbildern —  hinten Sopha, Sophatisch, Fauteuils auf einem Teppich. Vorne rechts und links Tische, Schränkchen oder ähnliches. Der Postbote und der Kneetschke.)

Postbote: Ja —  wissen Herr Kneetschke schon, wer die Postkarte mit dem Esel geschrieben hat?

Kneetschke: Wer hat das getan?

Postbote: Werden Sie mich nicht verraten ?

Kneetschke: Nein! (gibt ihm einige Banknoten)

Postbote: Ich danke, mein Herr! Fürst Wladimir Zabórrek schrieb die Karte mit dem Esel.

Kneetschke: Ih!

Postbote: Ja!

Kneetschke: Eh!

Postbote: Adieh!

(Domestiken eilen durchs Zimmer und flüstern dem Kneetschke was ins Ohr. Ein Onkel und eine Tante der Patzigs erscheinen alsdann.)

Onkel: (setzt sich aufs Sopha) Kneetschke, Sie sind ein alter treuer Diener des Hauses Patzig.

Tante: (setzt sich auch aufs Sopha) Kneetschke, wir haben Ihnen deshalb eine Mitteilung zu machen.

Kneetschke: Euer Gnaden sein zu gütig.

Tante: Ja, das sind wir.

Onkel: Die Tausendmarkscheine, auf denen die Verlobungsanzeigen gedruckt worden sind —

Tante: sind —

Onkel: sind —

Kneetschke: sind?

Onkel: sind gefälscht.

Kneetschke: (sich krümmend) Oh! Oh! Ach, Du meine Güte! Hat mirs doch geahnt: Hat mirs doch geahnt! (er rennt umher in gekrümmter Haltung und bricht dann weinend auf einem Fauteuil zusammen)

Kathi: Guten Tag, lieber Onkel! Guten Tag, liebe Tante! Wie werden sich die Eltern freuen, Euch wiederzusehen! Gleich will ich die Mama suchen gehen. Ich komme sofort wieder. Kneetschke, suchen Sie den Papa. Schnell! Schnell! (ab links)

Kneetschke: (aufgestanden in straffer Haltung) Ich werde den Herrn Grafen aufsuchen (auch ab —  rechts)

Onkel: Der arme Kneetschke!

Tante: Die armen Patzigs!

Onkel: So sich blamieren!

Tante: Das beklagenswerte Brautpaar!

Onkel: (nimmt eine Prise Schnupftabak) Diese Falschmünzer! (niest)

Tante: Siehst Du? Das mußt Du beniesen.

Onkel: Das kam vom Priesen. (niest wieder)

Kneetschke: Der Herr Graf wird gleich kommen. Ich aber weiß, was hier zu tun ist.

Tante: Nun?

Kneetschke: Die Familie Patzig muß ihre Schuld —  sühnen.

Onkel: Wie?

Kneetschke: Dadurch, daß sämtliche Angehörige der Familie —  mit Ausnahme des Fürsten Zabórrek, der ja Gott sei Dank noch nicht zur Familie gehört, ihrem Leben —

Tante: Um Himmelswillen!

Onkel: Kneetschke!

Kneetschke: Ihrem Leben, sagte ich, mit Gewalt —

Tante: Kneetschke, nicht mit Gewalt!

Kneetschke: Gut —  also sagen wir durch —  Selbstmord —

Tante: Die Ärmsten! (weint mit Taschentuch. Der Onkel zieht auch sein Taschentuch des Schnupftabaks wegen)

Kneetschke: (mit fester, feierlicher Stimme) durch Selbstmord ein Ende bereiten.

Onkel: Das ist ja furchtbar!

Tante: Entsetzlich! (Alle Drei wischen sich die Augen, Kneetschke steht wieder im dritten Aufzuge von rechts.)

(Von der rechten Seite hinten erscheint Papa Patzig, von der linken Seite Mama Patzig —  beide ziehen auch ihre Taschentücher vor —  Onkel und Tante erheben sich. Eine peinliche Pause entsteht. Die beiden Gardinen werden jetzt eiligst hintereinander von einem der beiden Kavaliere zugezogen.)


Fünfter Aufzug

(Das Zimmer des vierten Aufzuges wird aufgeräumt. Die Fauteuils stehen in Unordnung an den Seiten, der Teppich ist aufgeschlagen, und Eimer, Besen, Schrubber, Schaufeln und Bürsten liegen überall herum. Weibliche und männliche Domestiken bürsten, fegen und putzen mit Eifer. Von rechts kommt Fürst Wladimir und Kneetschke in größter Wut auf die blaue Bühne.)

Wladimir: Das ist ja unerhört!

Kneetschke: Die Ehre der Familie Patzig geht mir über Alles.

Wladimir: Kneetschke, das ist eine Frechheit!

Kneetschke: Frechheit und Ehre sind zwei ganz verschiedene Begriffe.

Wladimir: Kneetschke, Sie sollten Rebellengeneral werden.

Kneetschke: Das wird nie geschehen!

Wladimir: Es wäre aber im Interesse aller Familien, die mit den Patzigs verwandt sind, sehr erwünscht.

Kneetschke: Warum?

Wladimir: Weils immer gut ist, wenn der größte Esel —  unsere Feinde —  anführt.

Kneetschke: Mich werden Sie niemals anführen, Durchlaucht! Ich bin ein ehrenfester Mann.

Wladimir: Sie sind der größte Esel von ganz Europa.

Kneetschke: Immer noch besser als ein Falschmünzer —  und auch besser als diejenigen, die anonyme Karten schreiben.

Wladimir: Kneetschke, ich erwürge Dich, Du Hund.

Kathi: (von links) Wladimir! Wladimir! Lade bloß keinen Mord auf Dein Gewissen.

Wladimir: Kathi! (dreht sich rasch um und küßt sie)

Kathi: Übrigens, Kneetschke! Ich will Ihnen was sagen: nicht Wladimir hat die Karte mit dem Esel geschrieben —  ich wars.

Kneetschke: Ha! Das ist was Andres! Also eine echte Patzig hat sich herabgelassen, einem Kammerdiener —  eine —  offene —  Postkarte —  zu —  schreiben.

Kathi: Jawollja! Und jetzt denkt der Kammerdiener, eine echte Patzig wird sich seinetwegen das Leben nehmen. Zum Schießen!

Wladimir: Zum Totschießen! (Beide lachen. Kneetschke zieht sein Taschentuch)

Kneetschke: O Schmach! O Schande! (Die reinmachenden Domestiken verschwinden nach und nach —  nehmen aber nur Schrubber und Besen mit. Der Papa und die Mama kommen.)

Papa: Welch ein Lärm ist das hier wieder!

Mama: Dieser Kneetschke!

Kathi: Mama, ich soll mich durchaus totschießen!

Mama: Aber Kind, benimm Dich doch anständig.

Papa: Kneetschke, ich muß Ihnen jetzt in allem Ernste verbieten, diese Tausendmarkscheinaffäre auch noch fernerhin aufzubauschen.

Wladimir: Die Geschichte ist ja einfach lächerlich.

Papa: Selbstverständlich! Die Banknoten sind ja nicht für den öffentlichen Verkehr bestimmt. Ich habe mit meinem Rechtsanwalt darüber gesprochen —  und der Mann bekam einen Lachkrampf.

Kathi: Der Ärmste!

Mama: Ist er schon außer Gefahr?

Papa: Er liegt noch zu Bett

Wladimir: Kneetschke sollte sich auch zu Bett legen —  das wäre das Vernünftigste.

Kneetschke: Sie haben beinahe Recht, Durchlaucht! Aber ich brauche ein sehr großes Bett.

Wladimir: Was wollen Sie damit sagen?

Kneetschke: Die große Erde, auf der ich so lange lebte —  die soll mein Bett sein.

Mama: Nehm Er sich die Sache doch nicht so zu Herzen.

Kathi: Die Geschichte ist ja lächerlich.

Kneetschke: Wohl mag heutzutage die Ehrlichkeit eine lächerliche Sache geworden sein. Aber ich kann da nicht mehr mit. Der Betrug der Familie Patzig will doch —  eine Sühne haben.

Papa: Donnerwetter, Kneetschke! jetzt mach Er, daß Er fortkommt!

Kneetschke: Ja, das will ich! Und vielleicht ist mein Fortgang eine Sühne für die Schandtaten der Familie Patzig.

Wladimir: Verfluchter Hund! (will den Kneetschke schlagen, Kathi fällt ihm aber in den Arm)

Kneetschke: Europa, lebe wohl! (er stößt sich einen langen Dolch ins Herz und fällt zu Boden.)

(Die Mama und Kathi fallen in Ohnmacht, die beiden Männer wissen nicht, um wen sie sich zuerst bemühen sollen. Während dann Wladimir dem Kneetschke den Dolch aus der Wunde zieht, erscheint links der Geist des Großvaters Patzig mit einem Lorbeerkranz in der Hand, legt diesen auf das Haupt des Sterbenden und geht langsam rechts ab, während Wladimir und der Papa starr vor Entsetzen mit offenem Munde dem Gespenste nachstarren und die Frauen langsam aus ihrer Ohnmacht erwachen, ohne die Szene zu begreifen. Weibliche Domestiken ziehen vorne mit Hilfe von Schrubbern und Besen die Gardine zu, vor der langsam ein Tausendmarkschein aus der Höhe herunterfällt.)

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Revision 31-12-2022

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