Das Mirakel

Paul Scheerbart

Revolutionäre Theater-Bibliothek


Das Mirakel

Eine dramatische Szene

Inszenierung und Kostümierung sind ganz den Darstellenden überlassen.

Er: Ah – bist Du’s?
Sie: Ja – ich bin’s?
Er: Ich wundre mich garnicht. Es kommt mir ganz natürlich vor, dass ich Dich hier sehe. Ja – so hatte ichs mir immer gedacht – so mussten wir uns mal wiedersehen.
Sie: Freust du Dich darüber?
Er: Ja – es sieht so zufällig aus.
Sie: Das ist es auch.
Er: Es sind bald fünfzehn Jahre, dass wir uns nicht gesehen haben.
Sie: Hast Du mich nicht vergessen?
Er: Warum fragst Du das? Du weisst doch, dass ich täglich an Dich gedacht habe – die ganzen fünfzehn Jahre hindurch.
Sie: Ich weiss es.
Er: Ich glaube, dass Du das weisst.
Sie: Wie geht es Dir?
Er: Danke für gütige Nachfrage. Es geht mir gottsjämmerlich.
Sie: Armer Freund!
Er: Ach, bitte – bedaure mich nicht so; arm ist nur der, der sich dafür hält – und dafür halt ich mich nun ganz und gar nicht.
Sie: Sprich Dich ganz aus. Erzähle mir Alles. Ich höre Dich so gern.
Er: Jawohl – das will ich tun. Aber es wird nicht sehr chronologisch hergehen.
Sie: Rede nur – ich höre jedes Wort.
Er:

Du lieber Himmel! Was ist da eigentlich viel zu erzählen? Anfangs brannte die Begeisterung für die Kunst lichterloh wie eine chinesische Brandstiftung – und dann lag eines Tages blos noch eine qualmende Gegend vor uns; der ganze Feuerschwung war eben flöten gegangen. Und dann wurde die Geschichte immer stumpfsinniger. Und heute ists kaum noch zum Aushalten.

Sie: Das ist die Geschichte der letzten fünfzehn Jahre, nicht wahr?
Er: Fast ist mir so, als wär’s auch meine eigene Lebensgeschichte. Jedenfalls habe ich in mir nicht mehr eine Spur von Hoffnungsfreudigkeit. Ich glaube nicht mehr daran, dass es jemals besser werden könnte.
Sie: Gehst Du nicht zu weit? Du konntest immer nicht Mass halten. Es gibt doch noch so viele Lichtseiten in unsrem Leben.
Er:

Es giebt ohne Frage Momente im Leben, in denen man sich wohl fühlt. Ja – wohl, wer wollte das leugnen! Aber die Stimmungen, in denen wir unsern ganzen Lebensquark für einen grossen Lebensdreck erklären müssen, kommen mit permanenter Bosheit immer häufiger wieder. Und schliesslich schmeissen diese Desperationsmomente alle Gemütlichkeit zum Fenster hinaus. Es ist wirklich nicht mehr zum Aushalten.

Sie: Sollte man’s mit etwas Geduld nicht doch noch so weit bringen, dass uns Alles wieder gut erscheint? Ich glaube, man muss nur etwas warten lernen.
Er: Da hast Du ein schönes Oel ins Feuer gegossen. Ja! Ja! Warten wirs nur ab! Als wenn ich das Warten noch nicht gelernt hätte! Mir kam unsre Erde schon immer wie ein grosser Wartesaal vor. Jawohl! Ein Wartesaal! Horch nur! Gehts noch nicht bald los? Was ist das denn heute wieder? Sie: Aber sei doch nicht so bitter.
Na horch doch! Vielleicht passiert da drüben was, dass wir weiter können. Oder sollten wir eingeschneit sein? Ach, das ist ja langweilig. Garnichts passiert, und Garnichts geht los! Wir sitzen da wie die Aeppelhöker und warten. Na – warten wir, bis wir schwarz werden! Vielleicht wird uns dann noch mal -sagtest Du was?
Sie:  Du musst sehr viel gelitten haben. Komm her zu mir; ich hab auch sehr viel gelitten – lange fünfzehn Jahre hindurch.
Er:

Gelitten! Ja was heisst das? Augenblicklich versteh ich garnicht, was das heisst: gelitten haben! Aber das weiss ich, dass dieses Erdenleben voll Stumpfsinn ist – und dass ich bersten möchte vor Wut. Ich habe den Krieg satt. Mir ist dieses Jammerleben zum Halse rausgewachsen. Es ist eine freche Beleidigung meiner Persönlichkeit, dass ich genötigt wurde, in diesem erbärmlichen Jahrhundert zu leben, in dem überall lange und dicke Stiesel wie Soldaten in Reih und Glied dastehen und die Mäuler aufgesperrt halten. Die Kerls sind ja noch viel dümmer als die Schweine. Und in diesen Viehställen soll man leben – unter Lebewesen, die sich ihr Gehirn abgeradelt haben und ihr Lumpendasein für ein Heldendasein halten. Das ist ja Alles zum Platzen! Das Ridiküle erstickt uns! Und jetzt schreien die Kerls noch! Halt Dir die Ohren zu! Halt Dir die Ohren zu!

Sie: Sei still! Schrei nicht so! Es tut mir so weh!
Er:    .

Grade! Jetzt will ich grade schreien – ich auch! Glaubst Du, ich hätte Lust, ewig und immer gemütlich zu sein? In diesen letzten fünfzehn Jahren hab ich mir das abgewöhnt -abgewöhnt! Als wir uns damals vor fünfzehn Jahren trennten, da sah’s anfangs noch so aus, als könnte bald mal was anders werden. Man hatte noch die Kraft und die Lust, an eine bessere Zeit zu glauben. Diese Kraft und diese Lust ist uns ausgepumpt worden. Es ging immer weiter bergab. Das Menschenpack wurde täglich dümmer und täglich gemeiner – bis schliesslich die – erbärmlichste Gesinnung zum guten Tone gehörte. Jawohl – so ist es. Und da soll man nicht schreien? Ich möchte gleich drein schlagen und Alles auseinander reissen. Es ist einfach schamlose freche alberne Stieselei – überall – obenauf. Und da soll man nicht dreinschlagen? Hippla! Wo blieb doch die Begeisterung für die Kunst? Für Mord und Dodschlag kann ich mich begeistern – für was Andres nicht. Ins Gesicht schlagen möcht ichJedem, der mir in die Quere kommt. Das Gehirn aushacken! Messer zwischen die Rippen! Mord! Brand! Nieder! Das Gesicht entzweireissen! Zerkratzen! Immerzu ins Gesicht schlagen – in die menschliche Visage! Ins Gehirn hakken! Messer in die Rippen dieser verfluchten Stiesel! Diese Stiesel! Diese Bestien! Messer! Fleischer werden – Menschen-schlachter! Verfluchte Gemeinheit!

Sie: 0 komm zu Dir! Komm! Lass! Deine Stirn! Deine Hände! Sei ruhig! Lass! Mein Freund!
Er: Entschuldige – dass ich – mich so – vergass! Erlaubst Du, dass ich – mir eine Zigarre anstecke? Das beruhigt immer – ein wenig. (Er tut es umständlich.)
Sie: Jetzt zittere ich.
Er: Lass nur! Das vergeht wieder! Rauchst Du auch?
Sie: ´Nein, ich danke.
Er: Ja!Ja!
Sie: Was möchtest Du?
Er: Hm! Es passiert nichts mehr auf dieser Erde; die Erde ist nur ein Vergnügungslokalfür die Rinder-und ihre Mütter.
Sie: Ich weiss nicht, ob Du das selber glaubst; Deine Heftigkeit hat mir doch verraten, dass Dich nicht Alles gleichgiltig lässt.
Er: Ich sagte auch nicht, dass ich stumpfsinnig geworden sei.
Sie: Bitte, Du sagtest ganz deutlich, dass Dir die Erde nichts mehr bieten könnte.
Er: Ach, sagte ich das?
Sie: Gewiss, Du sagtest, die Erde wäre nur für die Rinder und ihre Mütter.
Er: Das sagte ich allerdings.
Sie: Nun, siehst Du – und Du bist doch kein Rind – und eine Mutter bist Du doch auch nicht.
Er: Das ist klar. Du hattest immer eine leuchtende Rlarheit in Dir. Die hast Du behalten.
Sie: Hm! Nun weiter! Bist Du nun böse, dass Du für Nichts mehr empfänglich bist – oder bist Du böse, dass die Menschheit für Nichts mehr empfänglich ist?
Er: Zwei ganz klare Fragen. Sehr gut! Also halten wir Ich und Nichtich fein säuberlich auseinander.
Sie: Ich weiss nicht, ob das so wichtig ist.
Er: Doch! Die kalte Klarheit ist so beruhigend.
Sie: Das erscheint mir auch noch nicht so ganz sicher.
Er: Doch! Aber fassen wir die Sache nicht zu umständlich. Der allgemeine Zustand der Menschheit färbt eben ab; der Einzelne wird immer an tausend Fäden mitgezogen. Wenn eine Zeit stumpfsinnig ist, so wird der Einzelne schwerlich ein Mirakel von Bedeutsamkeit sein. Also brauchen wir eigentlich nicht so fein säuberlich zwischen Ich und Nichtich zu unterscheiden. Du hast ganz recht gehabt – die Sache ist nicht so wichtig. Der tele-pathische Einfluss der Massen auf den Einzelnen ist viel bedeutender als der Einfluss der Einzelnen auf die Massen. Dadurch wird aber meine Wut hinlänglich motiviert
Sie: Verzeih mir! Ich habe in einer kleinen Stadt gelebt – und nun kommt mir hier in den grösseren Verhältnissen Alles sehr gross vor.
Er: Du meinst: Der Stumpfsinn kommt Dir gross vor.
Sie: Nein – ich empfinde das nicht so.
Er: Langweilig, wenn Du das nicht so empfindest! Voriges Jahrhundert ging immer mehr bergab. Erst kam das Militär, dann kamen die vielen Maschinen mit den Grossstädten und mit den grossen Tageszeitungen – und so weiter! Glaubst Du, das wären keine Enthirnungsinstitute? Glaubst Du – die allzu starken Aufregungen stumpfen nicht ab? Du gibst das zu -schon gut! Am Schluss des Jahrhunderts gabs nun noch ein Dutzend Kriege, Ueber-Seepolitik, Athletik, Radelei und manches Andre! Das hat doch dem alten Kulturfass den Boden ausgeschlagen. Donnerwetter – das ist doch so! Und in einer solchen Zeit soll ein anständiger Mensch ruhig weiterleben, ohne verrückt zu werden? Sehr viel verlangt!
Sie: Du hast die Frauen vergessen.
Er: Verzeih – aber ich kann mir Frauen gegenüber die Galanterie nicht abgewöhnen.
Sie: Wie versteh ich das? Haben die Frauen auch beigetragen –
Er: Unsinn! Glaube doch so was nicht. Frauenbewegung immer blos natürliche Begleiterscheinung – ohne Faktorenwert. Lassen wir das. Denk nur über die telepathische Kraft der Massen nach. Du weisst auch, wir Beide haben in einem telepathischen Verhältnisse zu einander gestanden – in den langen fünfzehn Jahren –
Sie: Es war eine Geisterehe. Ja – das wars.
Er: Sagen wir lieber: Gemütsehe! Das trifft wohl besser die Sache.
Sie: Ja! Und nun lass uns nur davon sprechen – nur davon. Ja? Ich bitte Dich!
Er: Ja – das gliedert sich hier vortrefflich ein.
Sie: Du, weisst Du auch, dass es mir garnichts Besonderes zu sein scheint, dass wir hier so zusammen sind? Es kommt mir so vor, als hättest Du all die langen Jahre so vor mir gesessen und so gesprochen, wie Du jetzt sprichst. Es ist mir auch so, als wenn ich Dich stets so gesehen hätte, obgleich Du ganz anders aussiehst wie damals – viel kräftiger und männlicher.
Er: Du darfst aber nicht so persönlich werden, sonst kommen wir von der Sache ab.
Sie: Von welcher Sache meinst Du?
Er: Ja – nun hast Du mich selber aus dem Text gebracht – wie wars denn zuletzt?
Sie: Ach, lass das doch!
Er: Nein, ich weiss schon – die Lebenslust des Einzelnen ist durch den Stumpfsinn des vorigen Jahrhunderts umgeblasen. Und nun dreht es sich darum, den Spiess umzukehren – der Einzelne muss sich gegen die telepathischen Einflüsse, die auf ihn von allen Seiten eindringen, zu wehren suchen.
Sie: Na – wie willst Du das machen?
Er: Das will ich grade von Dir erfahren. Du sagst, dass Du fünfzehn Jahre unter meinem telepathischen Einflusse gestan- den hättest – wie war Dir dabei? Erzähle mir was davon! Konntest Du Dich dagegen auflehnen? Konntest Du mich gelegentlich mal abschütteln? Dies ist sehr wichtig.
Sie: Ich hatte, wie Du weisst, immer eine grosse Freude daran, an Geister zu glauben. Und so liess ich mich denn ganz gehen und glaubte bald, immerzu von Geistern umgeben zu sein. Ich hielt mich für fähig, alle Geister an mich zu fesseln. Und so kam’s denn bald, dass ich Dich für tot hielt – dass ich glaubte, Du seiest auch ein Geist geworden. Das war eine sehr glückliche Zeit für mich. Ich rief Dich wie die anderen Geister – – -und dann glaubte ich, immerzu in Deiner Gesellschaft zu sein. Und Du warst täglich bei mir.
Er: Erfuhrst Du nicht, dass ich noch lebte?
Sie: Mehrere Male! Aber ich war so daran gewöhnt, Dich in meiner Nähe zu fühlen, dass ich gar nicht viel daran dachte, dass Du noch lebtest. Sieh, dieses Leben, in dem ich mir selber wie eine Abgeschiedene vorkam, machte mich so glücklich, dass ich wieder Lebenslust in mir verspürte. Du solltst auch an Geister glauben – und so leben.
Er: Halt! Die Idee ist tatsächlich nicht schlecht. Dann brauchte man sich um die sogenannten irdischen Angelegenheiten nicht weiter zu kümmern. Es könnte uns dann ganz gleichgiltig sein, ob unsre menschlichen Zeitgenossen an der Massenidiotie leiden – oder nicht. Man lebt halt blos mit Geistern zusammen. Furchtbar einfach!
Sie: Ich weiss nicht, ob Du mich verstehst – so, wie ich’s wohl haben möchte.
Er: Aber – ausgezeichnet versteh ich Dich! Ich hatts garnicht geglaubt. Was die Frauen alles fertig bringen! Seltsam! Beinah unheimlich! Du hast es wirklich verstanden, mir wieder etwas Lebenslust einzuflössen! Meine tiefste Hochachtung!
Sie: Ich freue mich.
Er: Ich bin Dir dankbar – sehr – sehr! Das werde ich Dir nie vergessen. Deine Worte haben etwas Erlösendes für mich gehabt. So was vergisst man nicht.
Sie: Ich aber habs jetzt garnicht mehr nötig, an Geister zu glauben. Du bist ja in Wirklichkeit bei mir. Und –
Er: Nicht doch! Du giebst Dich da einer Täuschung hin.
Sie: Wie denn? Bist Du nicht wirklich hier? Ist es nur eine Vision, dass ich Dich hier sehe?
Er: Selbstverständlich ist es eigentlich blos eine Vision. Das ist es.
Sie: Gib mir Deine Hand.
Er: Hier sind sie alle beide – nu?
Sie: Sie sind eigentlich nicht kalt und nicht warm. Ich weiss nicht – wie.
Er: Siehst Du! Dein Gefühl – Dein Tastsinn – kann Dir die Wirklichkeit meiner Anwesenheit nicht beweisen.
Sie: Ach, lassen wir doch die Geistergeschichte –
Er: Non, madame! Wäre ich für Dich wirklich eine Wirklichkeit, so würde mirs nicht möglich sein, an die Existenz der erlösenden Geister zu glauben – und dann hätten Deine Worte von dem neuen Leben, das uns die Gesellschaft von Geistern giebt, nicht mehr den erwähnten Erlösungswert.
Sie: Mein Gott! Willst du denn wirklich an Geister glauben? Das sind doch nur Phantasiegebilde. Man muss doch –
Er: Garnichts muss man. Hör zu, ich muss Dir wieder einen belehrenden Vortrag halten.
Sie: Vortragender Rat!
Er: Die Sache ist aber wichtig. Pass auf!
Sie: Weisst Du noch, von wem Du früher »Vortragender Rat« genannt wurdest?
Er: Bitte, bleibe bei der Sache und pass auf!
Sie: Diese Sachlichkeit! Ja – ja – ich bin ganz Ohr. Wirklich! Du musst blos nicht so finster aussehen.
Er: Donnerwetter! Nu höre!
Sie: Ich bin ganz Ohr!
Er: Horch!
Sie: Ja, ich horche!
Er: Horch!!
Sie: Ja – was ist Dir?
Er: Was war das? Hörtest Du nichts?
Sie:  Nein.
Er: So! Also – was wollte ich?
Sie: Mir einen Vortrag halten.
Er: Ja – gewiss! Also höre!
Sie: Ganz Ohr bin ich.
Er: Sieh, wir sind für einander blos Visionen. Was ich von Dir sehe, ist für mich nur ein Augeneindruck, und was ich von Dir höre – nur ein Ohreneindruck. Und was ich von Dir fühle –
Sie: Ich verstehe.
Er: Wenn Du das wirklich verständest, so würdest Du wissen –
Sie: Was?
Er: Dass Du nur ein Geschmackseindruck für mich wärst, wenn ich Dich aufessen würde.
Sie: Und wenn ich Dich –
Er: Du meinst: wenn Du mich küssen würdest!
Sie: Nun?
Er: Dann wärest Du für mich eine ganz triviale Dame, die von der Geisterwelt keine Ahnung hat.
Sie: Du bist hässlich.
Er: Das ist doch auch blos ein Sinneseindruck für Dich. Du musst Dir schon Mühe geben, die Grundmauer aller philosophischen Systeme ein wenig zu begreifen; Du musst blos begreifen, dass die Welt und Alles, was wir sinnlich bemerken, keine Realität besitzt – wir selber besitzen auch keine Realität für uns. Nein – nein! Das musst Du schon zugeben, sonst bist Du einfach ungebildet und nicht einmal wert, dass ich Dich totschlage.
Sie: Sei nicht so grausam
Er: Sei nicht so unaufmerksam und so kindlich wie ein Backfisch.
Sie: Ja – was wolltest Du nun eigentlich sagen? Du bist so umständlich.
Er: Sagen wollt‘ ich, dass wir eigentlich selber Geister sind, wenn wir auch noch sogenanntes Fleisch und Blut besitzen. Und darum glaube ich, dass wir auch Geister kennen lernen könnten, die kein Fleisch und Blut besitzen – Geister, die aus ändern Stoffen gemacht sind.
Sie: Und –
Er: Ja – siehst Du denn nicht ein, dass der Glaube an Geister garnicht eine törichte Sache ist? Du kennst die Geschichte von den Röntgenstrahlen – nicht wahr? Daran hätte auch kein Mensch früher geglaubt.
Sie: Du hast Recht – ich verstehe.
Er: Und es ist daher garnicht ausgeschlossen, dass wir plötzlich noch ganz andre Strahlen entdecken – mit denen wir Geister sehen können – überall.
Sie: Glaubst Du das?
Er: Ja, ich will daran glauben, dass man solche Strahlen entdecken wird. Das wäre doch mal ein Ereignis, das uns weiter brächte! Das würde doch mal unsre Zeitgenossen, die sich noch Menschen nennen, aufrütteln – rausreissen aus ihrem Dusel.
Sie: Wäre eine solche Entdeckung wirklich nach Deiner Meinung möglich?
Er: Ja!
  (Im Folgenden aufmerksam nach der Seite hinhorchend)
  Wer erkannt hat, dass weder er selbst – noch die Welt -ein Reales für ihn bildet – der muss auch für möglich halten -dass er andre Erscheinungsformen – vom Daseienden – als daseiend – mal bemerken könnte.
Sie: Was ist Dir?
Er: Es war wieder ein Ton in meinem Ohr — als wenn ich wirklich bereits was von der Geisterwelt bemerkte.
Sie: Du erschrickst mich.
Er: Dabei ist garnichts zum Erschrecken – Du weisst doch -ich halt’s für möglich. Hör doch!
Sie: Ich höre nichts.
Er: Mir ist so, als wenn wir dem grossen Ereignis sehr nahe sind. Ich bin wohl augenblicklich etwas überreizt. Die Zigarre war mir wahrscheinlich zu stark. Verzeih mir! Mich zieht etwas fort. Ich glaube, dass ich jetzt gehen muss. Es ist doch nicht unmöglich, dass die neuen Strahlen bereits entdeckt sind.
Sie: Du willst fort?
Er: Ja — ich muss! Jetzt fällt es mir wieder ganz leicht, auf das grosse Ereignis – zu warten. Jetzt glaube ich doch wenigstens, dass es wirklich zum Ereignis werden könnte. Und dass ich daran glaube, habe ich Dir zu verdanken – ja – Dir! Ich werds nie vergessen. Und Du wirst jetzt nicht mehr zweifeln, dass wir für einander auch blos Visionen sind – nicht wahr?
Sie: Nein.
Er: Du hast mir wieder Lebenslust gegeben. Du hast wieder Hoffnungen in mir geweckt. Ich habe wieder ein Vergnügen daran gefunden – zu warten – zu warten – auf das grosse Mirakel – das uns eine neue Welt erschliesst.
Sie: erschliesst.
Er: Und diese ganze Frische danke ich Dir – einer Frau! Ich werde nie mehr von den Frauen schlecht denken – sie geben uns so viel.
Sie: so viel!
Er: Ich danke Dir. Lebe wohl! Lebe wohl!
Sie: Lebe wohl!
  (Er geht langsam fort.)
  (Sie steht lange da und sieht ihm wie abwesend nach und bricht dann mit einem leisen Schrei zusammen.)
  (Nach einer kleinen Pause schrickt sie plötzlich auf und lauscht.)
Sie: (allein)
  Was war das? War das nicht seine Stimme? Ja – mein Gott – er war doch eben noch hier. War das ein Traum? Horch! Wieder ein Ton! Sind das die Geister? Hab ich wirklich eine Vision gehabt? Was früher nur eine Spielerei war, hat das plötzlich feste Gestalt bekommen? Bin ich wahnsinnig geworden? War er wirklich hier? Er sass doch da drüben! Dort liegt eine Zigarre!Das war seine Zigarre! Mein Gott – träume ich denn noch? Dann will ich ihn wiederhaben. Komm, mein Freund! Komm wieder zu mir her und erzähle mir! Erzähle mir von Geistern und fernen Welten, die ganz anders sind als unsere Welt, in der wir so viel leiden und so einsam sind.Horch nur, mein Freund!Horch nur!Die Geister kommen!Die Geister kommen!Du bist erlöst!Jetzt bin ich auch glücklich – ganz glücklich — da ich weiss —dass Du erlöst bist.
  (Lange Pause, in der sie mit geschlossenen Augen ein unsichtbares Wesen, das sie neben sich glaubt, immerzu streichelt und küsst.)
  (Stimmengewirr im Hintergrunde.)
Sie: Ha! Es kommen Menschen!
 

Schnell fällt der Vorhang


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Revision 30-12-2022

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