Das Gift

Paul Scheerbart

Revolutionäre Theater-Bibliothek


Das Gift

Eine Mondschein-Komödie

Personen:


Der moderne Zeitgeist, ein altes Gespenst
Rinaldo, sein unnatürlicher Sohn, ein junges Gespenst
Clemens, ein Pessimist
Clementine, seine seelenvergnügte Braut, gen. Tine

Die Handlung spielt in einer Laube und in deren Umgebung
zur Zeit des Vollmondes

In der Mitte der Bühne eine Laube, deren nach vorn offene, nur durch ein Geländer abgeschlossene Seite dicht vor der Lampenreihe, sodass vor dieser kein Durchgang bleibt. Die beiden Seitenwände der Laube ganz mit Weinlauo oder mit anderen grösseren Blättern. In der hinteren Laubenwand eine Türöffnung. An den Seitenwänden der Laube Bänke, dazwischen ein länglicher Tisch mit der schmalen Seite nach vorn. Rechts und links von der Laube Rieswege, Beete, Rasen und Gebüsche.
Mitten aufm Tisch sitzt in weisse Tücher gehüllt der kleine Rinaldo mit weissem Kalabreser im Abruzzengeschmack. Von links kommt der moderne Zeitgeist – auch weiss – aber mit Laken überm Kopf – in gebückter Haltung auf langen Hirtenstab gestützt – sehr oft-krankhaft hüstelnd.

 

Der moderne Zeitgeist:  (durch die linke Seitenwand der Laube blickend) Rinaldo, was machst Du denn da?
Rinaldo: Papa! Solange Du noch lebst, kann man überhaupt nicht viel machen. Du bist wahrhaftig der Lenker unsrer Zeit; Dein Mantel ist die Langeweile – und Dein Hirtenstab ist der grosse Stumpfsinn – der eine Welt verzaubert hat.
Der moderne Zeitgeist: Du infamer Junge, wirst Du sofort rauskommen?
Rinaldo: Aber Alterchen, warum denn? Ich denke hier grade über Deinen Mantel und über Deinen Hirtenstab nach.
Der moderne Zeitgeist: In dieser Laube wollen sich zwei Leute, denen unsre Zeit nicht mehr interessant genug vorkommt, das Leben nehmen.
Rinaldo: Ach, Du liebe Zeit! Auch das noch? Ich komme schon. Ich bewundere die Energie dieser Leute. (Er geht wackelnd hinaus zum Alten.)
Aber Väterchen, wenn ich mal an die Regierung komme, dann wirds anders. Ich mach den Leuten den Kopf so warm, dass sie sich gleich gegenseitig in die Haare kriegen sollen. Als Hirtenstab halte ich dann eine lange blutige Nase in der Hand und als Kopfbedeckung trage ich ein kleines Tollhaus. Ha! Ha! Ha! (Sie verschwinden links im Gebüsch – von rechts kommen Clemens und Clementine; mit Weinflaschen und Gläsern gehen sie in die Laube und setzen sich einander gegenüber – Tine links, Clemens rechts.)
Clemens: (giesst die Gläser voll) Jetzt wollen wir nicht lange fackeln. Ich halts nicht mehr aus. (sie trinken hastig) In einer solchen Zeit mögen Andre leben. Jetzt hab ich genug.
Tine: Ja, ich hab auch genug! Die Leute können ja heute nicht mal mehr lachen, (lacht kurz auf.) So dumm und weiter leben! Fällt mir nicht ein. Raus mit dem Gift! (zieht zwei Pulver aus der Tasche und schüttet sie in die Gläser – Clemens giesst Wein hinzu)
Clemens: Na – wohl bekomms! (sie stossen an)
Tine: Es lebe das Gift! Hurrah! (sie trinken und starren sich lange an.)
Clemens: Ich höre was! Es sind ganz ferne Töne! Mir ist so, als könnte ich was davon verstehen. Ich hörte Aehnliches schon in meiner Kindheit – oder in meinem früheren Leben einst! Ich werde noch ein paar Zeilen schreiben. (Er holt ein Notizbuch vor, reisst Seiten aus und beginnt zu schreiben.)
Rinaldo: Onkelchen, warte doch! Lass Deine Tine noch ein bischen liegen – sie wird schon wieder munter werden.
Clemens: Wer bist Du?
Rinaldo:  Ich bin ein Geist. Sei ganz still, sonst stech ich Dir die Augen aus. Bleib da stehen.
Clemens: Sprich – was willst Du?
Rinaldo:  Sieh mal! Deiner Tine ist mein alter Papa, der moderne Zeitgeist, erschienen, der jetzt noch auf der Erde die Köpfe der Menschen regiert. Deine Braut hatte unvorsichtig und malitiös von meinem Papa, dem modernen Zeitgeist, gesprochen – Du weisst ja: monumental! — und daher hat mein Papa Dein keckes Bräutchen so erschreckt, dass es ohnmächtig wurde – Du siehst ja!
Clemens: (lachend) Dein Papa regiert die Köpfe der Menschen?
Rinaldo:  Du, wenn Du noch ein Mal so frech lachen tust – mach ich Dich verrückt – dass Du auf allen Vieren herumlaufen musst – wie Hund und Katz.
Clemens: Was willst Du denn eigentlich?
Rinaldo: Ich will Dich blos ein bischen trösten; Du bist aber eine freche Kröte.
Clemens:  So sprich doch! (er setzt sich ihm gegenüber auf die rechte Bank.)
Rinaldo: Teuerster, Du hast ja so Recht: der Geist der Zeit ist heuer furchtbar stumpfsinnig und langweilig. Vergiss aber nicht, dass mein Papa schon sehr alt ist. Und wenn er – abgeschafft ist, so komme ich an die Regierung. Ich aber heisse Rinaldo nach dem grossen Räuberhauptmann Rinaldini, der einst in den Abruzzen hauste. Und Du kannst Dir daher leicht denken, wies unter meinem zarten Pfötchen hergehen wird. So viel Mordsradau mit Blut und Leichen solls geben, dass Ihr nicht mehr über Langeweile und Stumpfsinn klagen werdet. Sei also froh, dass mein Papa noch ein bischen lebt. Komm ich erst ran – ich, der Rinaldo – dann wirds eklig!
Clemens: Sprichst Du im Ernst? (lacht)
Rinaldo: Narr! Ich sprach lustig, und daher sprach ich im Ernst. Das ist so die Gepflogenheit der Geister. Stoss Dich nicht an unsrer Logik! Nimm Deine Geldbeutel in Acht! Schütze Dein Bräutchen! Wenn ich erst regiere, ist Alles in Gefahr. Dann ist der Stumpfsinn tot – und es lebt die grosse allgemeine Verrücktigkeit. Ich will der König der Tollen sein. Hüte Dich! Hüte Dein goldenes Schätzchen und auch das von Fleisch und Blut! Ha! Ha! Ha! (er verschwindet hinten im Gebüsch – Tine schlägt die Augen auf.)
Tine: Wer ging da fort?
Clemens: Rinaldo!
Tine:  Ach – die grosse weisse Gestalt? Hast Du sie auch gesehen? Ist sie weggegangen?
Clemens: Rinaldo war klein und hatte einen weissen Kalabreser auf.
Tine: Haben wir denn geträumt? Haben wir zuviel getrunken?
Clemens: Ich glaube, Du hast Rinaldos Vater gesehen.
Tine: Ich sah wirklich – ein weisses Gespenst.
Clemens: Komm, trink ein Glas Wein! (sie trinken.)
Tine: Willst Du nicht mehr sterben?
Clemens: Nein!
Tine: Ganz bestimmt nicht? Versprichst Du mir das?
Clemens: Ich versprech es Dir!
Tine: Clemens, Du machst mich so glücklich. Wirst Du jetzt all den Stumpfsinn und die Langweiligkeit ertragen können?
Clemens: Ja – denn es könnte wahrhaftig noch schlimmer kommen. ,
Tine: (stösst mit ihm an) Dir scheint ein guter Geist erschienen zu sein.
Clemens: Nein, es war ein böser – ein sehr böser G^ist!
Tine: Lassen wir die Geister! Wir leben ja noch als Menschen.
Clemens: Allerdings! Gestatte, dass ich rauche es sind so viele Mücken hier.

Er steckt sich eine Zigarre an und greift übern Tisch nach ihrer Hand- sie sehen sich lange an und trinken wieder- während der Vorhang langsam fällt.


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