Der Gierige

Paul Scheerbart

Meine Tinte ist meine Tinte!


Der Gierige

aus: Meine Tinte ist meine Tinte! 
aus: Na prost!

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Weit fort —  woanders —  in einem hellgrünen Himmel, der nicht von Sonnen durchstrahlt wird —  in einem hellgrünen Himmel, dessen Äther von selbst leuchtet —  mit magischem Licht —  —  dort in diesem hellgrünen Licht hauste der gierige Drache Heisomkrállu.

Er hatte tausend Arme und tausend Beine.

An den langen langen Armen, die sich wie Riesenschlangen durch die Lüfte wanden, konnte man Krallen sehen, die mit ihren unzähligen Gliedern ganze Welten umklammern und zerdrücken konnten. Und die tausend Füße sahen fast ebenso aus; nur waren die Fußkrallen noch viel größer als die Handkrallen.

Sieben riesige greuliche Drachenköpfe mit gierig blitzenden Augen ragten in der Mitte aus dem ungeheuren sehnigen Drachenrumpfe hervor. Der Rumpf saß inmitten der langen Schlangenarme und der langen Schlangenbeine —  wie eine Riesenspinne in ihrem Riesennetz.

Heisomkrállu sauste durch die grüne Luft und packte Alles, was ihm nahekam. Mit seinen riesigen Krallen, die sich fortwährend gierig nach allen Seiten ausreckten, faßte der Drache Alles, was ihm in den Weg lief —  Sterne, Welten, Ungeheuer —  Alles —  Alles. Unersättlich war Heisomkrállu. Und was er mit seinen Krallen faßte, zerging in seinen Krallen, als wenn er mit den Krallen fräße.

Die Krallen wurden immer größer.

Unaufhörlich zitterte das gierige Ungeheuer. Nichts entging dem entsetzlichen, schwarz und gelb gefleckten Krallentier. Die schauerlich großen Muskeln und Sehnen waren immer geschwollen und mit überirdischer Kraft gespannt.

Nichts entging dem Gierigen. Er nahm Alles in sich auf. Dem gelb und schwarz gefleckten Ungeheuer konnte Niemand widerstehen.

 

Doch da saß auf einem weiten hohen Berge mitten unter hellroten Rosen ein schönes Riesenweib mit menschlichen Gliedern. Das saß da und malte und dachte und träumte und schuf Gebilde aus glänzendem Gestein; im Hintergrunde lag still ein prunkender Palast. Die schöne Frau malte grad‘ und sah Heisomkrállu gar nicht kommen…

Der Drache sieht’s, und wilder glühen ihm die wilden Augen. So gierig ward er noch nie.

Das Weib wollt‘ er natürlich auch gleich wieder umkrallen. Und alle seine Krallen griffen zusammen mit einem fürchterlichen Ruck in den Berg, in die hellroten Rosen und in die schöne Frau hinein; sie umklammerten auch alles das, was die schöne Frau geschaffen hatte.

Noch ein Ruck —  und Alles zerbrach in den Krallen —  Frau, Berg, Rosen, Gemälde —  Alles zerbrach —  und der Drache schwoll auf —  noch riesenhafter als bisher.

Dann aber ging durch seine sieben Köpfe ein Traum. Er fühlte plötzlich seine Muskeln nicht mehr kräftig gespannt —  sie wurden schlaff. Die Glieder schienen dem Gierigen zu schwinden. Er blickte hinunter —  und sah —  ja was sah er da?

Er sah zwei menschliche Beine unter sich —  einen menschlichen Leib, auch menschliche Arme und Hände —  und ringsum blühten hellrote Rosen —  und Kunstwerke standen überall —  sehr herrliche Kunstwerke…

Heisomkrállu sah, daß er jenes Weib geworden, das er eben noch gierig umklammert und durch seine Krallen mit Haut und Haar in sich aufgenommen hatte.

Vom gierigen Drachen war im hellgrünen Himmel Nichts mehr zu sehen.

Heisomkrállu war nicht mehr gierig, er hatte plötzlich seine ganze Gier vergessen, er war ganz und gar verwandelt und ein schönes, menschlich gebildetes Riesenweib geworden.

Der hellgrüne Himmel leuchtete, die hellroten Rosen dufteten, und das Wesen, das einst Heisomkrállu genannt wurde, streckte sich selig mit seinen menschlichen Gliedern ganz lang aus —  unter die hellroten Rosenbäume… sah den herrlichen Himmel und träumte —  träumte…… was jenes Wesen träumte, weiß man heute nicht mehr.


ps_152   Der Neugierige


 Na Prost:

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Und auch diese schöne Geschichte erklären die Geister der achtkantigen Flasche nicht so, daß man sagen könnte, die Drei seien wieder mal einer Meinung.

«Dieser Heisomkrállu», meint der Brüllmeyer, «kann nur der Kapitalismus sein. Das Weib ist die Kunst. Sobald der große Millionär auch die Kunst an sich ziehen will, wird er selber zum Künstler, die Vampir— Gestalt des Millionärs verschwindet und seine Millionen gehen auch zum Teufel. Träumer, die was besitzen, verlieren bald ihren Reichtum, denn die Kunst hat einen guten Magen. Wir haben hier also die Vernichtung des Kapitalismus durch die träumerische Kunst.»

«Nicht übel!» ruft nun der Passko, «aber viel zu einfach dieses Mal. Ich bin sonst auch für naturgemäß sich ergebende Erklärungen —  jedoch in diesem Falle liegt die Sache ein bißchen verwickelter. Das Gedicht ist sicherlich fünfzehn bis zwanzig Jahrhunderte jünger als die andern. Heisomkrállu ist nach meinem Dafürhalten das Slaventum —  das Weib aber die Germania. In dem Augenblick, in dem die Germanen von den Slaven besiegt wurden, wurden die Slaven zu Germanen. Die alte Geschichte von der Unbesiegbarkeit des großen Geistes! Dieser Gierige ist ein politisches Gedicht ersten Ranges.»

Kusander lächelt und hebt nun also an:

«Zunächst ist es mir noch etwas zweifelhaft, ob wir ein Symbolikum vor uns haben. Wenn das aber der Fall sein sollte, so können wir im Heisomkrállu nur den großen Künstler erblicken, der immer größer wird, solange er Alles in sich aufnimmt, was ihm grade in den Weg läuft —  der aber sofort ein Andrer ist, sobald ihm mal ein Weib in den Weg läuft, das sich auch mit Kunstdingen befaßt; wenn der Künstler solch ein Weib aufgreift —  so wird er selber zum Weibe. Was später das alte Weib, das einstmals ein Künstler war, zusammenträumt, das weiß kein Mensch, denn es ist nicht sehr wichtig, da’s nicht mehr bedeutend sein kann. Die Geschichte dürfte auch heißen ‹Wie man ein altes Weib wird›. Dies ist die einzig mögliche Auflösung —  die beiden andern Auflösungen —  sind ein bißchen zu simpel —  nehmt es nicht übel!»

Wiederum großer Zank —  Einigkeit beim besten Willen nicht zu erzielen.

In eine große Betrunkenheit wird schließlich das archäologische Gespräch eingesargt.

Die Drei stoßen sich heftig die Köpfe, so daß sie beschließen, fürderhin nur ‹mit gut wattierten Mützen› zu trinken.

*     *     *

Die Herren haben natürlich nicht vergessen, ihren letzten Gläsern etwas Katergift beizumischen.

Das Katergift ist eine herrliche Erfindung, von der die alten Deutschen noch Nichts wußten.

Wie anders ist doch das Leben, wenn’s zehntausend Jahre später gelebt wird! Die alten Deutschen hätten sich gar nicht zurecht gefunden, wenn sie zu Kusanders Zeiten noch einmal aufgewacht wären……

Nachdem die drei betrunkenen Geister der achtkantigen Flasche wieder aufgewacht sind, fängt Brüllmeyer gleich ganz geistreich zu reden an —  der Kater ist eben vergiftet.

«Wir haben uns», beginnt der kühne Germanist, «noch nicht ordentlich in die Zeit, aus der die uns vorliegenden Dichtungen herauswuchsen, eingelebt. Nach meiner Überzeugung stammen die Geschichten sämtlich aus der Zeit nach Schopenhauer, in der es größere Philosophen nicht gab. Damals waren, wie wir ja wissen, die Dichter am Ruder, und die konnten zu einer ernsten Lebensauffassung gar nicht kommen, denn sie nahmen immerfort Alles komisch. Sie hatten natürlich vollauf Grund dazu. Schwärmende Ideale berauschten damals nicht das deutsche Volk. Man hatte sich Alles allmählich abgewöhnt und verzichtete nur noch —  lächelnd oder lachend, wie’s grade Mode war. Die trefflichen Persönlichkeiten hatten sich schon das Berühmtwerdenwollen abgewöhnt, denn an jedem Ruhme klebten so fürchterlich lächerliche Geschichten, daß den Vernünftigen der Geschmack am öffentlichen Leben ausging. Es muß eine höchst merkwürdige ‹Blüteperiode› damals gewesen sein. Man stelle sich nur ein Volk vor, das immerfort über Alles lacht! Zu komisch! Aus dieser komischen Zeit stammt aber mein Schatz. Das Einzige, was damals nicht komisch war, dürfte wohl nur die alkoholistische Überreiztheit gewesen sein, da ja das Katergift viel später entdeckt wurde. Wir haben dieses Alles bei unseren Erklärungsversuchen nicht außer Acht zu lassen. Wir haben die Dichtungen eines lachenden Volkes vor uns, und das Lachen ist oftmals bitter und höhnisch —  ja sogar grimmig!»

Dem Kusander kommt die philosophenlose Zeit nach Schopenhauer auch sehr merkwürdig vor, aber der ältere Germanist wehrt sich gegen die nach seiner Meinung viel zu bestimmt entwickelten Ansichten, von denen der kühne Brüllmeyer beherrscht wird.

«Es ist allerdings», gibt der Alte zuletzt zu, «sehr verführerisch, sich eine Zeit auszumalen, in der selbst das Beste auf die Zeitgenossen nur einen lächerlichen Eindruck machte. Es müssen ja damals unsäglich viele Zwerchfellerkrankungen vorgekommen sein. Aber —  ich will dir nicht widersprechen, lieber Brüllmeyer: wo die Dichter am Ruder sind, da gehts immer ein bißchen lustig zu. Wenn’s auch nicht ganz stimmt, was du sagtest —  allzu phantastisch kann ich dieses Mal deine Erörterungen nicht finden.»

«Verlieren wir uns nicht!» fällt der besonnene Passko ein, «wir haben vorläufig noch lange nicht bewiesen, daß die Dichtungen sämtlich der philosophenlosen Periode angehören. Jedenfalls ist es merkwürdig, daß Brüllmeyer bei sämtlichen Sachen nicht einen einzigen Dichternamen entdeckte. Die Dichter wollten absolut nicht genannt werden. Diese Namenlosigkeit läßt sich aber nur erklären, wenn wir annehmen, daß jede Geschichte einen satirischen Inhalt hat, in dem die politischen und sozialen Zeitzustände verhöhnt werden. Die Zeitzustände scheinen mir aber doch nicht lustiger gewesen zu sein als später —  oder früher.»

«Das hab ich auch nicht gesagt!» behauptet nun Brüllmeyer eifrig. Und er setzt dem Freunde auseinander, daß man auch in schlechten Zeiten sehr viel lachen kann. Der kühne Germanist will sogar bemerkt haben, daß man in schlechten Zeiten viel häufiger und stärker gelacht hat als in guten Zeiten, denen es an Nichts fehlte.

Die Drei sind bald so ziemlich einer Meinung. Man verständigt sich —  Brüllmeyer reißt seine Freunde mit sich fort. Und da er Recht bekommt, liest er seinen Freunden noch ein Märchen aus der philosophenlosen Zeit vor.


ps_160   Die Prinzessin Rona

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