Nackte Kultur

Paul Scheerbart

Meine Tinte ist meine Tinte!


Nackte Kultur

Schwarzer Spaß

aus: Meine Tinte ist meine Tinte! 
 aus: Immer mutig

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Schwipp! Da flogen die schwarzen Zylinder, die weißen Bäffchen, die Trikots und Chemisettes, die Frackschöße und die Armelröcke, die Strümpfe, Krinolinen und alle die ändern Höllenhüllen auf die großen Scheiterhaufen rauf. Die Flammen loderten majestätisch zum afrikanischen Himmel empor, und die schwarzen Herren und Damen aus Afrika umtanzten die lodernden Flammen wie die Besessenen. Nackt waren die schwarzen Menschen — splitternackt. Zehn Volksredner aus Europa hatten es fertiggebracht, ganz Afrika zu revolutionieren. »Schwarze Menschen!« hatten die Volksredner gesagt, »Ihr müßt eine neue Kultur begründen. Laßt Euch von den Europäern nichts weiß machen. Die Europäer sind mit ihrer unnatürlichen Kultur sehr unzufrieden, da die vielen Kleidungsstücke den ganzen Menschen beengen. Werdet wieder nackt, wie ihr einstmals wäret — und Ihr werdet plötzlich an der Spitze einer neuen Kultur stehen — an der Spitze der nackten Kultur — der >natürlichen< Kultur — die dem Menschen gestattet, frei zu leben — frei von allem Plunder. Es lebe hoch der nackte Mensch mit der splitternackten Kultur! Hört Ihr schon was näherkommen? Hört Ihr’s noch nicht? Es sind die Maler und Bildhauer, die da kommen! Sie eilen aus allen Erdteilen herbei und wollen sich bei Euch niederlassen — da sie im nackten Menschen das echte wahre Kulturideal erblicken. Das Fleisch ist der große Trumpf der Natur — die Kulturauster — also — hoch das schwarze Menschenfleisch! Hoch! Hoch!« Und die Schwarzen entkleideten sich allesamt — und und standen nun da in ihrer stolzen Nacktheit wie Adam und Eva im Paradiese. Die schwarzen Leute umtanzten mit ihren schwarzen Weibern die Scheiterhaufen, auf denen all die lächerlichen Bekleidungsgegenstände endgiltig verbrannten.

Und dann arrangierten die sämtlichen nackten Völker des heißen schwarzen Erdteils einen grandiosen Küstenreigen mit Pechfackeln. Die Kinder trugen die Pechfackeln. Die Schwarzen faßten sich alle gegenseitig an die Hände und bildeten so eine mächtige Riesenkette – und die Riesenkette hatte die Form einer Landkarte von Afrika – denn diese Menschen-Kette drückte auf die sämtlichen Meeresküsten des afrikanischen Kontinents. Um die unzähligen Mohrenfüße plätscherte das Seewasser. Die Kinder mit den Fackeln jauchzten. Also zeigte sich die neue Kulturhorde den zurückgebliebenen Erdteilen in ihrer stolzen Nacktheit.

Die zehn Volksredner aus Europa standen ganz nackt in dem Äquatorsonnenschein und gratulierten sich händeschüttelnd – dem hagersten von den zehn Volksrednern war allerdings die neue Kultur noch lange nicht nackt genug; und sie beschlossen, in Europa hundert Millionen Rasiermesser anfertigen zu lassen – alle Haare sollten rasiert werden – sogar die Augenbrauen und die Wimpern. Die Schwarzen aber tanzten auf den Meeresküsten wie die Besessenen; sie drückten sich dabei immer fester die schwarzen Hände; die schwarzen Seelen dampften.

Das war ein Kettentanz! Das war ein Befreiungstanz! Das war das erste nackte Kulturfest mit flackernden Pechfackeln und bewegten Beinen. Alle Mannsleute und auch die Weibsleute waren ganz aus dem Häuschen. Alle Künstler der Erde klatschten Beifall mit ungeheurem Eifer. Durch den kolossalen Schall entstanden viele Gewitter mit Blitz und Donner. Die Rasiermesser kamen langsam näher – auf reichbeflaggten Regierungsdampfern. In Timbuktu sollte den schwarzen Leuten das kunstgerechte gegenseitige Einseifen beigebracht werden; das Rasieren verstanden sie bereits – nur mit dem Einseifen wollte es immer noch nicht so recht gehen. Die Seifensieder freuten sich so – wie Künstler und Barbier.


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Revision 03-01-2023