Fliegendes Dynamit

Paul Scheerbart

Meine Tinte ist meine Tinte


Fliegendes Dynamit

Warenhaus—Novellette

aus: Meine Tinte ist meine Tinte! 

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Das war ein Aufruhr.

Die Direktoren und Aufsichtsräte schrien wie die Besc senen. Keiner verstand den ändern. Alles rang die Hand Und die Energischen schlugen mit den Fäusten auf die ^ sehe, daß manche Tischplatte entzweibarst.

Es war im April des Jahres 1915 — in einer großen Sta des mittleren Deutschlands.

»Ha!« rief der Direktor Ball. Aber er kam nicht weit< Ein Depeschenbote trat ins große Direktionszimmer — ui da war plötzlich alles ganz still. Direktor Ball sprang ai entriß dem Postboten das Telegramm und las es; der I rektor sank kraftlos in seinen Sessel zurück.

Das Telegramm war ein chiffriertes und nur verständli für die Direktion; der Inhalt lautete folgendermaßen:

»Wenn Sie nicht innerhalb fünf Minuten drei wei Fahnen herausstecken und uns nicht umgehend eine hal Million a conto an der bewußten Stelle niederlegen lasse so fliegt ein drahtlos von unserem Wellenfernschalter di giertes Dynamittorpedo direkt in Ihr Direktionszimrr und explodiert auf Ihrem langen grünen Tisch — und •( kleben gleich danach in vielen Teilen an den Wänd( wenn von diesen noch was übrigbleibt. Die geheime ] pressungsgesellschaft m. b. H.«

Acht Tage hindurch hatte diese Erpressungsgesellsch die Öffentlichkeit in Erregung gesetzt; diese Gesellsch hauste angeblich in Montenegro — man kam aber d Herrschaften nicht auf die Spur — sie ließen überall v sich hören und erpreßten alles, was sich nur erpressen li< mit unerhörter Dreistigkeit.

Und so hatten sie auch ganz einfach die Frechheit bes—sessen, dem Deutschen Reiche klipp und klar den Krieg zu erklären, wenn ihnen nicht in einer bestimmten Frist zehn Millionen an einem einsamen Orte unter allen denkbaren Vorsichtsmaßregeln überreicht würden.

Das Deutsche Reich verhielt sich zurückhaltend. Und so hatte man zunächst die anfangs erwähnte große Stadt des mittleren Deutschlands drangsaliert. Von dieser Stadt wollte man zwei Millionen a conto haben. Die Stadt hatte sich öffentlich geweigert, diese Summe zu zahlen.
Danach hatten die Erpresser auf großen Plakaten, die nachts an die Schaufenster der großen Geschäfte geklebt wurden, verkündet, daß sie ihre Macht schon zeigen würden; ein Dynamithagel würde die Stadt ein wenig erschüttern.

Die Zeitungen verteilten Extrablätter. Die Polizei setzte ihre Aeroplane in Tätigkeit. Aber — es war windig und nebelig und bereits sieben Uhr abends. Da ließ sich ein herankommendes Luftschiff nicht so leicht entdecken. Außerdem flogen täglich mindestens zweihundert Luftschiffe über die große Stadt.

Nun bekamen aber die größeren Geschäfte die größte Angst, als sie Zettel erhielten, auf denen sie aufgefordert wurden, eine größere Summe sofort an bestimmten Orten niederzulegen, widrigenfalls ein paar Pfund Dynamit durch ihre Fenster fliegen würden.

Die ganze Stadt tobte, und in den größeren Geschäften ging alles drunter und drüber — besonders in dem großen Warenhaus von Ball & Haase, von dem schon anfänglich die Rede war.

Und diese Firma erhielt dann nach sieben Uhr abends das bereits erwähnte chiffrierte Telegramm.

Der Aufsichtsrat Dr. Lemcke sagte, als es einen Moment ruhig geworden war, mit seiner tiefen Stimme: »Wir haben keine Zeit zu verlieren; ich bin jedenfalls der Meinung, daß wir zunächst die drei weißen Fahnen rausstecken müssen. Weißes Tuch ist ja in genügender Fülle im Wagenlager vorhanden.«

Da sprang der Direktor Haase wie ein Tiger empor und schrie: »Wie? Was? Wir sollen dieser Räuberbande zeigen, daß wir Furcht haben? Maulhelden sind diese Kerle. Ich bin gegen die Fahnen — unter allen Umständen. Lieber laß ich mich auf der Stelle zerreißen, als daß ich zeige, daß ich feige bin.«

Da brüllten alle: »Hurra! Hurra!«

Dr. Lemcke aber brüllte mit seiner tiefen Stimme: »Ich weiß, daß diesen Kerlen alles zuzutrauen ist. Ich bringe mein Leben in Sicherheit.«

Er wollte zur Türe gehen.

Direktor Haase stürmte ihm entgegen und drängte ihn zu seinem Platze zurück.

Direktor Ball sagte mit sonorer Stimme: »Keiner von uns wird diesen Saal verlassen. Sie, Herr Doktor Lemcke, sind als Aufsichtsrat unsrer G. m. b. H. verpflichtet, jeder wichtigen Sitzung des Vorstandes bis zum Schlüsse beizuwohnen. Wir alle empfinden keine Furcht. Was sollen die Damen des Geschäftes denken, wenn sie hören, daß wir Furcht gehabt haben — vor den frechen Telegrammen einer Erpresserbande?«

Wieder Hurra—Rufen! Aber es klang gedämpft.

Man sah den Herren an, daß ihnen die Situation blümerant vorkam; die meisten waren bleich und fahl wie eine frisch gekalkte Wand.
»Sie sind wahnsinnig!« brüllte Dr. Lemcke.

Aber Direktor Haase hielt ihn fest; er war stärker als der Aufsichtsrat. Und diesem kam keiner zu Hilfe.

»Gleich sind die fünf Minuten um! Meine Frau . .. die Propeller. . .«

Weiter kam Dr. Lemcke nicht.

Man hörte krachend zusammenbrechende Fensterscheiben.

Und ein schwerer Gleitflieger sauste ins Zimmer und fiel dumpf auf den grünen Teppich.

Ein furchtbarer Krach.

Und die Direktoren und Aufsichtsräte fielen rücklings ins Zimmer; alle Sessel kippten dabei um. Und die Herren lagen alle lang da auf dem Teppich, schlugen noch ein paarmal mit Armen und Beinen rum und lagen dann ohnmächtig da — wie in der Schlacht gefallene Krieger.

Der mutige Direktor Haase gewann zuerst die Sprache wieder, er sagte schrill: »Hier ist alles weiß. Wir sind hier im Jenseits. Da ist auch alles weiß und bleich. Entsetzlich weiß und bleich.«

Dr. Lemcke öffnete gleichfalls die Augen und sagte mit seiner tiefen Stimme: »Wenn wir im Jenseits sind — was nach meiner Meinung wohl richtig sein dürfte — denn hier ist alles ganz weiß und bleich — so haben die verdammten Erpresser doch Ernst gemacht. Ich hab’s ja gleich gesagt. Meine arme Frau . . .«

Jetzt kam auch Direktor Ball zu sich, er wußte gar nicht, wo er war, und sagte melancholisch: »Eine Bäckerstube sieht oft so weiß und bleich aus. Ich kenne solche Bäckerstuben von meiner Kindheit her. Wie sind wir denn hierhergekommen?«

»Sie sind«, sprach Dr. Lemcke tief und kalt, »im Jenseits. Lassen Sie die Witze. Die kriegführenden Erpresser haben uns mit Dynamit getötet. Was Sie an uns sehen, ist nur noch weißer Schemen. Weiße Schatten sind wir. Weiße Schatten!«

»Sie sind«, rief nun Direktor Haase, »bei dem Übergang ins Jenseits konfus geworden. Wie sollen sich denn im Jenseits weiße Schatten bilden? Im Jenseits gibt’s doch weder Licht noch Schatten.«

»Nanu!« rief nun der Direktor Ball, »die elektrischen Lampen brennen doch auch hier.«

»Das ist unbegreiflich!« erwiderte Direktor Haase.

In diesem Augenblick wurden die Doppeltüren gewaltsam geöffnet, und hinein stürzten drei mutige Polizeileutnants.

»Ei!« rief Dr. Lemcke dumpf, »gibt’s im Jenseits auch Polizeileutnants?«

»Ich glaube«, sprach Direktor Ball, »wir sind woanders.«

Jetzt begannen die anderen Herren beweglich zu werden.

Sie riefen durcheinander: »Hurra!«

»Die Fahnen raus!«

»Die Damen müssen geschützt werden.«

»Wir sind mutig wie immer!«

Jetzt packte der eine Polizeileutnant den Dr. Lemcke am Arm und hob ihn auf.

»Ich danke Ihnen!« versetzt der Doktor, »aber sagen Sie mir, warum sind Sie nicht auch so weiß wie wir? Warum sind Sie blau gekleidet und nicht weiß? Das will ich wissen.«

»Aber, meine Herren«, sagte der Polizeileutnant wieder, »was reden Sie denn da? Sind Sie wahnsinnig geworden?«

»Warum? Warum?« Also schrien alle.

Da sagte der Polizeileutnant wieder: »Ja, Sie sind ja ganz voll Mehl!«

Nun kamen die He/ren alle zu sich, beklopften ihre Kleider und sahen, daß Mehlstaub in die Luft wirbelte.

»Das Torpedo!« brüllte Direktor Haase.

»Das war«, sprach Direktor Ball melancholisch, »kein Dynamittorpedo — es war ein Mehltorpedo!«

Ein unbeschreiblicher Tumult entstand.

Einige Damen erschienen in der Tür und sahen die mit Mehl bestäubten Vorstandsmitglieder.

Direktor Haase schlug mit der Faust auf den mit Mehl bestäubten grünen Tisch und sagte leise: »Wir verbitten uns jedes Gelächter. Die Banditen von Montenegro haben gezeigt, daß sie Ernst machen können. Ich bin für sofortige Auszahlung der halben Million. Gleichzeitig melden wir den Konkurs an.«

Die Polizeileutnants wollten etwas erwidern, wurden aber darauf aufmerksam gemacht, daß sie in einer Vorstandssitzung nichts zu sagen hätten.

Die Glaser wurden gleich bestellt, um das zerbrochene Fenster wiederherzustellen.

Und die Hausdiener kamen mit Bürsten und Schaufeln, um das Mehl fortzutragen.

Die Räuber aber freuten sich über ihren ersten Kriegserfolg bei Champagner und Austern.


 

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