Die schlaue Katze

Paul Scheerbart

Meine Tinte ist meine Tinte


Die schlaue Katze

aus: Meine Tinte ist meine Tinte! 

ngg_shortcode_0_placeholder
Sie lauerte auf ein Zeichen.
Es kam aber nicht.
Sie starrte ins Mondlicht und miaute.
Aber nichts regte sich im Himmel, was ihr Aufklärung gab.
Da ward sie ungeduldig und fing an zu spotten. Aber auch das half nichts; alle Himmel blieben so ruhig wie ein toter Mann.
Und sie wollte doch so gerne hinter das Geheimnis kommen; sie wollte wissen, weswegen sie so oft so unglücklich sein mußte.
War’s nur der Kater?
Nein — eine so große Rolle konnte sie dem Kater nicht zutrauen! Es mußte schon was andres sein.
Wie dahinterkommen?
Die Katze grübelte und starrte tiefsinnig in das kugelrunde Licht des großen Mondes.
»Warum bin ich denn so oft so traurig?«
Also sprach die Katze — und sie miaute dazu.
»Ist es«, fuhr sie dann fort, »das Leid der Welt, das sich auch in mir regt? Leidet die Welt? Ist es wirklich wahr, daß die Welt leidet? Träufelt das Weltenleid auch in meine Seele hinein?«
Da ging ein Schmunzeln über das schlaue Katzengesicht.
Es schnurrte die alte Katze.
Daß die Welt auch sehr oft zu leiden hatte, das leuchtete der Denkerin ohne weiteres ein. Und da nun diese schnurrende Denkerin die ganze Welt in sich zu fühlen ver—
meinte, so mußte sie gleichfalls ebenso leiden — wie die Welt.
Das kugelrunde Licht des Mondes wurde in zwei Hälften geteilt — durch einen schwarzen, sehr schmalen Wolkenschatten.
»Warum aber mußte die Welt leiden?«
Also fragte die Schnurrende weiter.
Hm!
Sie sah bald ein, daß das eigentlich wieder das alte Geheimnis in zweiter Auflage war.
Die Katze lauerte abermals auf ein Zeichen — diesmal aber machte sie die Augen zu.
Und es erschien ihr plötzlich vor den geschlossenen Augen ein rotgekleideter Affe, der eine Krone von Silberpapier auf dem Kopfe trug und unter der Krone ein Gesicht hatte — ein Gesicht — ein Gesicht mit so vielen seltsamen Trauerfalten — daß die Katze plötzlich lachen mußte — immerzu — bis sie Rippenschmerzen bekam, so daß sie sich die Rippen reiben mußte — mit beiden Vorderpfoten.
Und während ihr nun die Tränen über die lachenden Wangen rollten, so daß es ihr in den Wurzeln der Schnurrbarthaare ganz kitzlich wurde — da rief sie plötzlich laut in den lauen Nachtwind hinauf: »Halt! Halt! Das war ein Zeichen des Himmels!«
Und sie sann dem Zeichen nach.
Und es ging ihr allmählich ein großes Licht auf, das heller schien als das kugelrunde Licht des alten Mondes.
»Sollte«, sagte sie leise, während sie zum nächsten Wetterhahn emporblickte, »die Traurigkeit bloß dazu da sein, um andere Leute lachen zu machen? Sollte das so sein? Die Traurigkeit ist wirklich so drollig anzusehen, daß sie zum Lachen zwingt. Es ist wahrlich keine Schadenfreude dabei. Keineswegs! Und wenn man selber von seinem traurigen Gesichte profitieren möchte — — so müßte man sich’s im Spiegel anschauen!! Immer einen Spiegel bei sich haben! Wer, wenn er traurig ist, in einen Spiegel schaut, wird bald wieder lustig sein. Jetzt merke ich, weshalb ich so oft so traurig war; die Traurigkeit wollte mir immer wieder neue Lachlust und neue Lebenslust beibringen. Hätte ich nur früher an den Spiegel gedacht!«
Die schlaue Katze lächelte und besorgte sich einen Spiegel und erzählte ihr Erlebnis allen Katzen und Katern. Und bald besaß das Katzengeschlecht unzählige Spiegel. Und bald danach klang das Miaugeschrei der Katzen und Kater wie ein helles Gelächter.
Die schlaue Katze, die den neuen Ton erzeugt hatte, saß eines Abends, als wieder der kugelrunde Mond ganz hell die Erdenwelt erleuchtete, auf einer Dachkante und sprach träumerisch in den Mondenschein hinein: »Wer ist nun eigentlich schlauer: die schlaue Welt, die uns die reizenden Leiden bescherte — oder die schlaue Katze, die es fertig bekam, der schlauen Welt ins Herz zu blicken?«
Die Katze lächelte und blickte zu den Sternen empor und flüsterte mit Tränen der Rührung in beiden Augen:
»Liebe Welt, wir wollen’s nicht entscheiden, wer von uns beiden schlauer war. Jedenfalls sind wir beide sehr schlau. Und das genügt ja wohl!« Die Katze lächelte.
Der kugelrunde Mond schien ganz klar und hell. Im Nachtimmel waren gar keine Wolken zu sehen. Unten im Rosengarten rannten sechs andere Katzen vorüber und schrien: »Miau! Miau!«
Aber es klang so wie: »Hurrah! Hurrah!« Nicht ganz so klang’s — aber doch so ähnlich . .. und dazu glänzten die Spiegel..


ps_152   Mitternachtsbesuch  

ps_152  Index Gesamt   –   Erzählungen   –     Meine Tinte ist meine Tinte!

alle Texte von Paul Scheerbart – ein fognin Projekt – bitte unterstützen:

Bitte helfe mit diese Seite zu erhalten: der digitale Bettler Creative Commons-Lizenzvertrag Diese Seite von fognin ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht-kommerziell – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz.  Weitere Infos über diese Lizenz können Sie unter hier erhalten

Revision 03-01-2023