Die Reise ins Jenseits

Paul Scheerbart

Meine Tinte ist meine Tinte


Die Reise ins Jenseits

Eine Spekulanten—Novellette

aus: Meine Tinte ist meine Tinte! 

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Madame C. saß in Paris vor ihrem Schreibtisch und hatte das Telephon am Ohr und hörte, ohne mit einer Wimper zu zucken, was man ihr sagte.

Dann aber sprach sie heftig in den Apparat hinein:

»Liebe Amelie, tu mir den Gefallen und laß mich aus. Ich halte nichts von einem Unternehmen, das Wissenschaft und Theater verquicken möchte. Du hast als Amerikanerin nichts zu verlieren und zweifellos das Recht, hier in Europa nur Spekulationsgeschäfte vorzubereiten, einzuleiten und zum lukrativen Ergebnis zu führen. Ich aber habe einen wissenschaftlichen Namen, und wir sind hier in Europa noch nicht so weit wie ihr da drüben; wer zur Wissenschaft gehört, hat bei uns einfach nicht das Recht, sich an zweifelhaften Unternehmungen zu beteiligen.«

Danach saß sie wieder und hörte, was Amelie sagte; diese schien auch sehr heftig zu sprechen, denn Madame C. trommelte mit den Fingern der linken Hand immerzu auf ihrem Spitzentaschentuch.
»Alles sehr schön«, sagte dann Madame C., »aber ich verstehe nichts von Ultraviolett. Was geht mich denn das Prisma an? Ich habe mich mit Optik niemals beschäftigt. Glaube ja gern, daß das Glas in Amerika eine größere Rolle spielt als bei uns. Ich bin aber für nichts zu haben. Es tut mir wirklich sehr leid. Suche dir doch einen Mann. Es gibt ja so viele Wissenschaftler, die eigentlich gar nichts zu tun haben — und fast für jedes Unternehmen zu haben sind. Ich gehöre zu diesen Wissenschaftlern leider nicht. Ich verstehe auch gar nicht, wie dein Theater aussehen soll. Ich fürchte, daß du etwas übereilt handelst.«

Wieder horchte sie mit dem Apparat am Ohr. Aber sie schüttelte öfters den Kopf, und ihre Augen sahen müde aus.

»Selbstverständlich«, sprach sie dann hart ins Telephon, »kenne ich den Nordamerika—Nebel. Ich weiß auch, daß er vor zwanzig Jahren, im Jahr 1891, entdeckt wurde — im Ultravioletten. Gewiß! Aber daß ich deswegen an Geister glauben muß, kommt mir ein wenig hitzig vor. Bei uns ist es doch nicht so heiß. Aber, liebe Amelie, du mußt mich für einige Monate entschuldigen. Mein Automobil steht vor der Tür. Ich verreise sofort, und du findest mich hier nicht mehr. Verzeih mir, aber ich kann nicht anders. Ich bin nervös. Ich muß für meine Gesundheit etwas tun. Wo ich bin, verrate ich nicht. Man muß mich allein lassen. Es geht nicht anders. Lebe wohl! Ich fahre in der nächsten Minute ab. Nochmals lebe wohl! Viel Glück zu deinem Unternehmen! Wenn ich mich besser fühle, hörst du von mir.«

Sie legte den Apparat weg, und dann kam ihr alter Diener Jaques. Dem sagte sie: »Ich bin sechs Monate hindurch verreist. Sagen Sie das allen Besuchern und auch am Telephon. Lassen Sie auch das Telephon aus diesem Zimmer herausnehmen. Sie wissen ja Bescheid.«

Der alte Jaques verbeugte sich schweigend und ging wieder fort. Madame C. steckte sich eine Cigarette an und ging langsam hinaus auf die große Veranda, von der man in den großen schattigen Park sehen konnte.

Aber die Amelie — Mißtres Corning — war furchtbar wütend.

»Wenn das kein Mißerfolg ist«, schrie sie, »dann gibt’s überhaupt keine Mißerfolge.«

Und dann sprach sie heftig zu dem Herrn, der das Gespräch ebenfalls gehört hatte.

Der Herr hieß Mister Pitt.

Er ließ Mißtres Corning ruhig sich austoben.

Sie sagte zum Schlüsse: »Sie hört das Gras wachsen — diese berühmte Frau! Mit den berühmten Frauen kann man augenscheinlich noch weniger anfangen als mit den unberühmten. Diese Frauem schieben uns alle gleich Dinge unter, an die man noch gar nicht gedacht hatte. Wir wollen doch nicht den Kinematographen Konkurrenz machen. Hier in Europa denkt man immer, wir hätten drüben gar keine anderen Interessen als die Geldinteressen. Es steht hier doch wahrhaftig mehr auf dem Spiel.«

»Wir brauchen aber«, sagte Mister Pitt ruhig, »die Anerkennung von wissenschaftlich gebildeten Kreisen. Anders können wir nicht auf einen Erfolg rechnen. Wir wollen uns auch nicht gleich mit den Spiritisten in Verbindung setzen. Das fördert unser Ansehen nicht im mindesten.«

»Nicht gleich?« rief Mißtres Amelie, »wollen Sie damit sagen, daß es später doch geschehen könnte?«

Mister Pitt wackelte mit seinem großen Kopfe hin und her und sagte gar nichts.

Mißtres Amelie jedoch fuhr fort: »Ich dächte, daß die Spiritisten gar nicht für uns in Frage kommen können. Wir wissen, daß im Ultravioletten unzählige Dinge sind, die für unser Auge einfach unsichtbar bleiben — und trotzdem auf der photographischen Platte sichtbar sind. Der Amerika—Nebel ist ebenda entdeckt worden. Im ganzen Kosmos können wir noch viele Sterne und Nebel entdecken, die für unser menschliches Auge ewig unbemerkt bleiben und demnach von uns entdeckt werden könnten — eben im Ultravioletten — auf der photographischen Platte.«

»Das hab‘ ich schon“ öfter gesagt!« erwiderte Mister Pitt mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Gut«, fuhr Mißtres Corning fort, »dann gehen wir aber doch auf streng wissenschaftlichem Wege, wenn wir jetzt folgern, daß auch auf unsrer Erde unsäglich viele Dinge sein könnten, die wir nur auf der photographischen Platte im Ultraviolett entdecken — nicht aber mit unsren Augen sehen können. Voilä! Wenn da jetzt nicht das Reich des Jenseits für uns da ist, so wird es nie für uns da sein. Und nimmt mir meine alte Freundin, die jetzt leider berühmt ist, übel, daß ich diese ganz korrekte Schlußfolgerung ins große Publikum tragen will? Es ist unglaublich! Dem großen Publikum gegenüber muß man doch Konzessionen machen. Man muß ihm doch so gegenübertreten, wie ihm sonst entgegengetreten wird — etwas romanhaft — etwas marktschreierisch, wenn man will! Aber — doch immerhin temperamentvoll. Darum halte ich fest an dem Titel: Die Reise ins Jenseits.«

»Ich auch!« versetzte Mister Pitt, »es war ja meine Idee. Jetzt brauchen wir nur die Wissenschaftler. Sonst wird unser Unternehmen nicht als vollwertig erkannt. Ich sehe im übrigen nicht ein, warum wir im Äußern nicht den Kinematographen Konkurrenz machen sollen. Wir locken Neugierige, Provinzler und Fremde. Namentlich die letzteren. Diese bringen uns den Erfolg. Wir können fünfmal teurer sein als alle Kinematographen, wir werden bekannt werden — und alles wird gut werden.«

Mißtres Corning ging erregt im Zimmer auf und ab und sagte schließlich kleinlaut: »Sollten wir nicht doch vielleicht erst vorher Experimente machen? Es wäre doch möglich, daß wir Erfolge hätten.«

»Selbstverständlich«, sagte Mister Pitt kühl, »könnten wir das! Aber wir haben doch kein Geld, und erst unser Separat—Kabinett — genannt: Die Reise ins Jenseits — kann uns Geld einbringen. Dann können wir ja später ganz ruhig experimentieren. Augenblicklich ist es aber durchaus nötig, wissenschaftlich interessierte Kreise zu gewinnen. Ein Wissenschaftler muß den Vortrag ausarbeiten. Ich bin bereit, den Vortrag zu halten. Und dann werden im dunklen Raum optische Dinge vorgeführt — das Ultraviolette wird auf der Platte gezeigt — in geheimnisvoller Dunkelheit. Blitze zucken dazwischen. Man verweist auf unsere Experimente, die da kommen werden. Man spricht in der Dunkelheit mit tiefer Stimme von den Geistern des Jenseits — von den Geistern, die uns umgeben — und die wir doch nicht sehen können, obschon wir sie bemerken könnten — auf der photographischen Platte — im Ultraviolett. Dann Lichtzucken! Knistern in den Ecken. Einer wird rausgetragen. — Ohnmachtsanfall einer alten Dame. Schauerlich tiefe Stimme wieder im Hintergrunde. Tiefernst alles. Zuletzt noch ein Totenkopf — bläulich beleuchtet — na — eine spiritistische Sitzung kann wahrhaftig nicht wirkungsvoller sein. Oder — glauben Sie, daß wir die spiritistische Konkurrenz nicht aus dem Felde schlagen?«

Mißtres Amelie setzte sich und fing an zu weinen, und dann sagte sie schluchzend: »Das ist allerdings Jahrmarkt. Schlimmste Form des Jahrmarkts. Und so soll die glänzendste Idee unsrer Zeit — veralbert werden? Es ist ein Skandal!«

»Ja«, sagte Mister Pitt, »ohne Geld ist nichts zu machen. Wir müssen mit den Wölfen zu heulen verstehen. Durch f dieses etwas theatralisch anmutende Arrangement wird doch der wahre Wert der Idee nicht im mindesten tangiert. Die wirkliche Reise ins Jenseits bleibt uns do.ch immer noch; wir müssen doch mal diese Reise antreten.«

Mißtres Amelie lächelte und sagte mit dem Kopfe wackelnd: »Allerdings! Sie haben Recht. Der gute Kern kann gar nicht angefressen werden. Wir wollen einen Wissenschaftler suchen. Wir werden schon einen finden.«

Nach vier Wochen wurde ein kleiner Salon auf dem Boulevard Beaumarchais eröffnet. Den Besuchern des Salons standen die Haare zu Berge. Aber gut besucht war der kleine geschmackvoll eingerichtete Raum an jedem Abend. Und an jedem Vormittag experimentierte Mißtres Corning mit wissenschaftlichem Eifer. Die berühmte Madame C. ließ nichts von sich hören und sehen.


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