Die Befreiung

Die Befreiung

Eine japanische Novellette

aus:  Immer mutig

ngg_shortcode_0_placeholder  Mu-Schika, die Tochter des großen Topffabrikanten, saß in ihrem Turmzimmer und weinte bitterliche Tränen. Eingesperrt war das gute Kind. Der böse Gouverneur der Nordprovinz, der schlimmste Mädchenräuber seiner Zeit, hatte auch die edle Mu-Schika in heimtückischer Manier ihren Eltern geraubt. Doch da die Geraubte ihrem Peiniger mit größtem Trotz auseinandergesetzt hatte, daß sie niemals sein Weib werden könne, weil sie frei bleiben wolle zeit ihres Lebens, so hatte der böse Gouverneur das Mädchen eingesperrt in seinem hohen Turm, den er nur zum Zwecke der Mädchenzähmung auf dem höchsten Berge der Nordprovinz vor vielen Jahren erbauen ließ.
Mu-Schika saß und weinte; ihre Tränen flossen wie Gebirgsbäche zur Frühlingszeit. Und der herrlichen Aussicht, die sich ihr vom Fenster aus darbot, warf sie nicht einen einzigen Blick zu; ihre Augen waren auch zu verweint. In jeder Stunde stampfte sie mehrmals mit ihren kleinen Füßen auf den Steinboden und rief voll stürmischer Leidenschaft:
»Frei will ich sein! Frei will ich sein! Frei! Frei!«
Diesen stürmischen Redestrom hörte der Sturmgott Lobu, der gerade die Nordprovinz einer eingehenden Untersuchung unterzog. Und der Sturmgott Lobu freute sich über die stürmische Art der Mu-Schika. Und er beschloß, das arme Mädchen zu befreien.
Während er sich nun unten vor der eisernen Pforte an die Arbeit machte, trat ihm der junge Maler Tai-Tai, der die Gefangene gleichfalls liebte, mit bleichem Antlitz entgegen und rief: »Willst Du die Mu-Schika befreien? Das laß nur bleiben. Ich befreie sie. Ich bin Tai-Tai!«
Der Sturmgott gab ihm eine Ohrfeige und rief: »Ich bin Lobu!«
Und nun fingen sie an, sich mächtig zu zanken. Jeder wollte vor lauter Eifersucht die Mu-Schika ganz allein befreien. Und während des Zankes prügelten sie sich öfters, wie das Rivalen zu tun pflegen. Dem Tai-Tai fehlten bald zwei Backenzähne, und dem Lobu blutete die Nase. Und dazu schien der Vollmond durch die ganze Nacht. Und durch die ganze Nacht zankten sich und prügelten sich die Rivalen, so daß es zur Befreiung gar nicht kam. Während oben Mu-Schikas Tränen in Strömen flossen, floß unten das Blut ihrer Befreier in Strömen.
Und so dämmerte denn allmählich der Morgen, und vor dem Turmfenster erschien die Göttin der Morgenröte, die herrliche Ballikâra.
In einer goldenen Barke saß die Göttin, und kleine Zwerge bekränzten die Barke mit dunkelroten Rosenketten. Der Himmel war oben tiefblau wie ein Meer. Und auch die Ballikâra hörte die wilden Freiheitsreden der Mu-Schika. Schnell riß sich die Göttin ein paar Rosen aus dem schwarzen Haar und warf sie durch das Turmfenster der Gefangenen in den Schoß. Da sprang das Mädchen erschrocken empor, starrte die herrliche Ballikâra wie ein Wunder an, fiel auf ein Knie und flehte weinend:
»O Ballikâra, nimm mich mit und führe mich zu meinen Eltern zurück, denn ich will frei sein – frei – frei – frei!« Da nahm die Göttin die Mu-Schika in ihre goldene Barke und fuhr mit dem verweinten Kinde durch die weißen Morgenwolken zu dem Hause des großen Topffabrikanten.
An der eisernen Pforte des Turmes wischen sich unterdessen die Rivalen die Blutstropfen aus dem Gesicht und verbinden sich die Handgelenke. Und ihrem Treiben sieht oben aus dem Turmfenster mit glühenden Wutaugen der böse Gouverneur zu. Der Gouverneur hat sich durch eine Hintertür in den Turm geschlichen und hat sehen wollen, ob seine Mu-Schika noch nicht kirre wurde. »Und nun ist sie fort!« schreit er voll Entsetzen in die Morgenluft hinein.
Er glaubt, die beiden Kerls da unten an der Pforte hätten seine Mu-Schika befreit. Er geht hinunter und stellt die Leute zur Rede, wird aber gleich ganz eklig angelackt. Die beiden Rivalen gehen sofort mit vereinten Kräften auf den Gouverneur los; der starke Tai-Tai zerbricht ihm die Kinnlade, und Lobu stößt ihm sein Schwert durch den Bauch, daß der Bösewicht gleich aufbrüllend den Geist aufgibt.
Hierauf reicht der Sturmgott dem Maler die Hand und sagt bitter:
»Junger Mann! Während wir hier um Mu-Schika kämpften, ist das lockere Mädchen mit einem Andern durchgegangen. Wir wollen dieses Weib vergessen.«
»Das wollen wir!« ruft Tai-Tai, hackt dem toten Gouverneur den Kopf ab und erklärt den Sturmgott für seinen besten Freund. Sie schütteln sich lange die Hände, und bald gehen die ehemaligen Rivalen Arm in Arm dem nächsten Wirtshause zu.
Doch die befreite Mu-Schika erzählt ihrem Vater, dem großen Topffabrikanten, wie sie von der herrlichen Ballikâra befreit wurde, zeigt jubelnd die dunkelroten Rosen der Göttin und küßt alle ihre Schwestern und auch ihre Mutter mit leidenschaftlicher Inbrunst.
Der alte Vater lacht und erklärt seiner Tochter mit Feiertagsmiene:
»Meine liebe Mu-Schika! Da Du so mutig gewesen bist, sollst Du auch frei blieben – zeit Deines Lebens. Und kein Freier soll Dir nahen. Auch den Tai-Tai werfe ich die Treppe runter, wenn er kommt.«
Aber Tai-Tai kam nicht, und andre Liebhaber kamen ebenfalls nicht. Mu-Schika blieb frei bis ans Ende ihrer Tage und ward gefeiert von allen Frauen der Nordprovinz und lebte glücklich ohne Mann – frei – frei!

 Immer mutig:

ngg_shortcode_1_placeholderWir befanden uns jetzt in großen Kellergewölben, die recht dunkel und geheimnisvoll waren. Ich saß auf einer Tonne – aber die Tonne schwamm in einem dunkelgrünen Wasser, das den ganzen Boden bedeckte und recht tief zu sein schien; ich nahm einen schweren Stein, der auf meiner Tonne neben mir lag, und warf ihn in das Wasser und horchte – und erst nach langer Zeit hörte ich den Stein unten dumpf aufschlagen. Der König Necho hatte währenddem meine Befreiung zu Ende gelesen; er saß auch auf einer Tonne wie ich und leuchte mir nun mit seiner Laterne ins Angesicht. Da kamen auch die anderen Nilpferde auf Tonnen mit Laternen herangeschwommen, und es wurde heller durch die vielen Laternen. Ich wunderte mich über die Größe dieses Felsenpalastes und sprach auch über die unsichtbaren Geister, durch deren Dienste die Treppen so überflüssig geworden seien. Und ich bedauerte, daß die Eindrücke, die ein gewöhnlicher Mensch in seinem gewöhnlichen Erdenleben hat, so hart und umständlich sind. »Man muß,« erhielt ich zur Antwort, »das Eine wie das Andre zu schätzen wissen; überall sind eben die unendlichen Reihen; die Situationskomödien sind in der Welt so mannigfaltig wie alles Andre.« Der Oberpriester Lapapi sprach vom Schattenspiel des irdischen Lebens und meinte milde: »Es ist doch nicht zu tadeln, daß gewisse Sinneswelten wie diejenige, die Du auf der Erde kennen gelernt hast, so viel scheinbar Konstantes und Kompaktes haben. Dafür hat ja auch der Mensch das Leben im Schlafe. Daß sein Leben im scheinbar wachen Zustande oft so feste, eckige Formen empfängt, steigert doch nur die Empfindungsfähigkeit. Wie wäre sonst der Begriff der Vergänglichkeit zu erzeugen? Und der gehört doch auch ins große Dasein hinein. Alte Lampen können nicht so ohne weiteres als ewige Existenzdokumente auftreten – alte Manuskripte ebenfalls nicht– und alte Menschen erst recht nicht. Auch in diesen Vergänglichkeitskomödien bilden sich überall die schon so oft von uns erwähnten unendlichen Reihen. Sie wirken überall – und bewirken, daß wir über die Notwendigkeit oder Überflüssigkeit des scheinbar Daseienden nicht reden und auch nicht denken können. Die unendlichen Reihen des großartigen Spukreiches, das wir für Weltleben halten, umketten und umkränzen uns überall. Auch die Dummheit und die Klugheit zeigt überall die unendlichen Reihen– es kann Keiner der Dümmste und auch keiner der Klügste sein – drüber und drunter ist immer noch mehr. Und dieser Unendlichkeitszauber, der überall Alles beherrscht, ist das Herrlichste von Allem was wir haben.« Er sprach so weiter und mir wurde so – betrunken zu Mute; die vielen Tonnen und der flüssige Boden trugen wohl zu meiner Stimmung bei. Wir schwammen jetzt aus einem Gewölbe ins andre – um mächtig dicke Säulen rum. Und ich bewunderte die Pilzbildungen in den Gewölben und an den Säulen, die an vielen Stellen weiß wie Schnee und dann wieder dunkelbraun und schwarz waren – auch mal ganz bunt schillerten – und zuweilen leuchteten – unheimlich– wie dicke Gespensterbeine. Als der Oberpriester Lapapi zu reden aufgehört hatte (seine letzten Worte hatte ich gar nicht mehr begriffen), sprach ich von meiner Trunkenheit. Dazu lachten aber die alten Herren, und der Ramses rief mir laut lachend zu: »Da siehst Du nun, daß es auch unendlich viele Arten von Betrunkenheit gibt – auch in der stecken die unendlichen Reihen.« Ich wollte noch viel darüber sagen, den Alkohol für eine Krücke und die gewöhnlichen menschlichen Rauschzustände für bedauerlich in Folge der Katerleiden erklären, aber man schnitt mir kurz das Wort ab und behauptete, daß auch der Kater seine Glanzseiten habe – ich sollte nur mal nachsehen, ob ich nicht eine Geschichte hätte, die das beweisen könnte. Ich fand sehr schnell eine solche. Aber ich sollte sie nun vorlesen – wurde von unsichtbaren Händen auf ein großes Faß gestellt – und die sieben Herren zogen sich mit ihren sieben Laternen in die äußersten Winkel zurück. Ich wunderte mich jetzt, daß die Tonnen alle so schwammen, wie sie auf dem Erdboden stehen. Und dann las ich. Es war sehr unheimlich. Meine Stimme schallte oben in den Gewölben so laut, daß mir sehr bald die Ohren schmerzten. Aber ich las trotz meiner Ohrenschmerzen mit fester Stimme meine Geschichte zu Ende.


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