Weltglanz

Paul Scheerbart

Verlassenes


Weltglanz

Ein Sonnenmärchen

Index – Erzählungen – verlassene Geschichten

In einer alten Stadt lebte ein Knabe, der Alles mißverstand. Er hieß Adam und wurde gewöhnlich »der Kleine« genannt, und dieses Beinamens wegen hielt er sich für sehr groß – so mißverstand er Alles, was man ihm sagte. Der Kleine glaubte immer, hinter jedem Worte säßen sehr viele versteckte Ge­danken, und so hörte er immer ganz sonderbare Dinge aus allen Reden heraus. Da nun aber der Kleine fast jedes Mal ausgelacht wurde, wenn er mal selber was sagte, so wurde er schließlich sehr schweigsam und behielt alle seine Gedanken für sich – und sah nur immer so hilflos alle Menschen an, daß die jetzt oft darüber lachen mußten.
Nun stand an einer alten Brücke vor der alten Stadt eine al­te Lohmühle – die klapperte Tag und Nacht. Und neben der Lohmühle stand ein alter Gasthof – der hieß »Zur Sonne.« Über der einen Thüre des Gasthofes, die einen Nebeneingang bil­dete, stand aber »Aufgang zur Sonne« – da gings eben gleich in das obere Stockwerk hinauf. Diese drei Worte über der Gasthofsthür hatte der kleine Adam oft gelesen und sich da­bei gleich gedacht, daß es dort auf großen Treppen zur Sonne des Himmels hinaufgehen müsse. Und der Kleine wollte so gerne mal mit einem guten Onkel zusammen durch die Thüre durch da nach oben gehen – alleine wagte er’s nicht. Doch er wagte auch nicht, seinen Wunsch mal auszusprechen.
Und so ging der kleine Adam oft über die Lohmühlen­brücke an dem Gasthof zur Sonne vorüber und bewunderte sehnsüchtig die gelbe Strahlensonne, die über der bewußten Thür angemalt war – auf blauem Untergrunde.
Und eines Abends, als die Sterne sichtbar wurden, kam auch ein Nordlicht am Himmel zum Vorschein.
Die Bewohner der alten Stadt wurden durch das Nord­licht heftig erregt, und Adams Mutter rief im Garten plötz­lich laut auf:
»Der Komet kommt!«
Da packte den armen kleinen Adam die Angst; er lief in die große Stube und versteckte sich unter dem Sopha.
Und wie er nun da so auf der Diele lag und aufmerksam lauschte, kam der Vater mit einem alten Freunde in die Stube hinein. Und der Freund sagte, während er sehr wich­tig that:
»Du kannst es mir glauben: der Manteuffel ist schon da.«
Da dachte der kleine Adam unterm Sopha, jetzt müsse die Welt untergehen, denn er hielt natürlich den Manteuffel, der ein kommandierender General war, für den leibhaftigen Gottseibeiuns.
Und der kleine Adam schrie erbärmlich, so daß sein Vater nicht wenig erschrocken war, als er seinen Sohn unterm Sopha so schreien hörte.
Und der Adam ward zu Bette gebracht; es hätte nicht viel gefehlt, so hätte er Prügel bekommen, denn er wollte durch­aus nicht sagen, was ihm fehlte.
Im Bette jedoch dachte der Kleine immerfort an den Teu­fel – den sah er ganz deutlich vor sich – er trug einen lan­gen schwarzen Rock, lange schwarze lockige Haare, die bis auf die Schultern hinabwallten, schwarze Glacehandschuhe, und einen alten schwarzen Cylinder als Kopfbedeckung. In diesem schwarzen Habit hatte der kleine Adam den Teufel schon oft in den Straßen der Stadt gesehen.
Natürlich war dieser Teufel kein Teufel, sondern blos ein armer Dichter, der eine Abneigung gegen die Friseure hatte.
Adam kniff die Augen fest zu, um den schwarzen Mann nicht mehr sehen zu brauchen, und dabei schlief er ein und träumte von Teufeln, Sonne, Mond und Sternen.
Als er des Morgens erwachte, brannte noch die Nachtlampe; Vater und Mutter schliefen noch. Da kam dem Klei­nen eine kühne Idee in den Kopf. Er wußte, daß der schwarze Teufel täglich ganz früh spazieren ging. Nun sagte er sich, daß dem Teufel doch der Aufgang zur Sonne bekannt sein müsse. Konnte da der Kleine nicht den Teufel bitten, mit ihm zur Sonne hinaufzugehen? Wohl war der Kleine furcht­sam – doch was half alle Furcht? – die Welt ging ja doch bald unter. Und so zog sich der Kleine rasch und leise an und schlich auf den Zehen durch die Hausthüre durch, die seltsamerweise offen stand.
Der kleine Adam lief durch die leeren Straßen zur Stadt hinaus – zur Lohmühle. Und da saß der Teufel in den städ­tischen Anlagen auf einei: Bank und schien auf den Adam zu warten.
Schüchtern nahte der Kleine dem Schwarzen und sprach, während er selbst ganz erstaunt über seine Kühnheit wurde:
»Entschuldigen Sie, Herr Teufel, aber wollen Sie nicht so gut sein und mit mir zur Sonne hinaufgehen? Dort drüben ist ja der Aufgang zur Sonne, und die Welt geht ja doch bald unter.«
»Die Welt geht«, erwiderte der Schwarze, »noch lange nicht unter; der Komet ist ja nicht mehr zu sehen. Wenn Du aber mutig bist, so will ich Dich zur Sonne hinaufführen.«
Und bei diesen Worten nahm der Schwarze den Kleinen an die Hand und ging mit ihm durch die bewußte Thüre. Adams Herz klopfte, und er zitterte, sagte jedoch dabei:
»Ich bin wirklich sehr mutig, Herr Teufel! Sie können’s mir ganz bestimmt glauben.«
Die Beiden stiegen eine steile Treppe hinan und kamen auf einen Boden, der sehr dunkel war. Vom Boden führte ein langer Gang gradaus – sehr weit nach hinten. Und auf ein Mal standen sie vor einer offenen Thür, die auf ein gro-
ßes weites Dach führte, das mit vielen Steinen bedeckt war, so daß es einem Steinfelde glich.
Der Teufel schritt mit dem Adam über das Steinfdd, und sie kamen an einen hohen Berg. Der war anders als die ge­wöhnlichen Berge; es war ein grauer Wolkenberg.



Eine Steintreppe führte in der Mitte zum Gipfel des Ber­ges. Da gingen die Beiden hinauf. Die Stufen der Treppe waren aber so weich wie weicher Radiergummi, so daß sie schnell höher stiegen; sie nahmen immer mehrere Stufen, der Kleine schwebte oft in der Luft, doch das Springen machte ihm garkeine Mühe; der Schwarze hielt ihn auch so fest an der Hand.
Und nach den grauen Wolkentreppen ging’s auf roten höher, und dann auf goldenen noch höher, und schließlich auf schneeweißen ganz hoch hinauf – und alle Treppen fe­derten wie Sprungfedermatratzen, so daß die Beiden gar bald oben im Himmel anlangten.
Und oben lag nun plötzlich ein großes hügeliges Schnee­feld vor ihnen. Und ein feiner Schlitten mit zwei weißen Schimmeln und himmelblauen Schneedecken kam herange­bimmelt.
Der Schwarze sprang mit dem kleinen Adam ohne Wei­teres hinein in den Schlitten – und fort ging es – so schnell wie der Wind – der Kutscher hinten sah wie ein alter Weih­nachtsmann aus.
Und die Schimmel rannten, daß die himmelblauen Schnee­decken nur so knatterten. Und der Weihnachtsmann knallte hinten recht oft mit der langen Peitsche, und die kleinen Glok-ken auf den Schimmelköpfen bimmelten in einem fort.
»Das geht schnell!« sagte der Kleine.
Und der Schwarze sagte: »Jawohl, mein Kind! Solche Schimmel giebt’s auch blos im Himmel!« »Das kann ich mir denken!« entgegnete da kleinlaut der kleine Adam.
Und er blickte umher in die himmlischen Schneegefilde hinein. Da sah er auf hohen Schneebergen glitzernde Eispa­läste – die waren hellgrün wie das Eis auf den Eiswagen. Und viele Luftballons schwebten durch den blauen Himmel.
Und der Kleine sagte: »Mit den Luftballons fahren wohl blos die großen Herren und Damen.«
Der Schwarze gab keine Antwort, und der Kleine sprach zu sich selbst, ohne daß es Jemand hörte:
»Adam, Du mußt nicht zu viel wissen wollen, sonst kriegst du nachher Garnichts zu wissen.«
Und er sah wieder in die Schrteefelder und bemerkte in der Ferne viele große Schneemänner mit Flinten und roten Augen.
Währenddem jagten die Schimmel immer schneller dahin, daß sie dampften wie Kochtöpfe um ein Uhr Mittags.
Und sie sausten in eine große Allee, in der die Bäume riesigen Eisblumen ahnten – aber sehr sehr groß waren diese Bäume – wie ungeheure Korallengewächse – wie Fächer­pilze ragten sie hoch in die Luft hinauf.
Und zwischen diesen Eisbäumen standen wieder Schnee­männer in martialischer Positur – aber mit schwarzen Bar­ten, schwarzen Cylindern, schwarzen Locken und schwarzen Handschuhen.
Der Knabe zuckte zusammen, sah erschrocken seinen Be­gleiter an und sprach ernst:
»Entschuldigen Sie, aber sind das da drüben weiße Teufel?«
Der Schwarze lächelte und erwiderte:
»Die gehören alle zur großen Garde.«
Da ging, während der kleine Adam nicht weiterzufragen wagte, hinten in der Allee die Sonne auf – ganz rot – wie ein kolossales Schneemannsauge.
Und die Pferde flogen wie die Pfeile dahin, und der Schlit­ten war bald ganz dicht vor der Sonne, die jetzt furchtbar hoch aussah – so hoch wie tausend Heuwagen übereinander.
Vor einer Zugbrücke, die grade runtergelassen wurde, hielt der Schlitten an.
Viele Reiter in Pelzen sprengten im Galopp auf den Schlit­ten zu, und der eine Reiter nahm den Adam auf sein Pferd.
Da jedoch der Schwarze im Schlitten sitzen blieb, fragte der Kleine noch schnell:
»Herr Teufel, fahren Sie wieder nach Hause?«
»Ja freilich!« versetzte der Schwarze.
»Dann seien Sie doch bitte so gut«, fuhr der Kleine fort, »und grüßen Sie meine Eltern recht herzlich und bitten Sie meine Eltern, meinetwegen ja nicht in Sorge zu sein.«
»Das will ich thun«, rief der Schwarze und fuhr davon.
Der kleine Adam aber schrie ihm nach:
»Ich danke Ihnen auch noch sehr, Herr Teufel! Vergessen Sie nur nicht zu grüßen.«
Und dann ritten die Reiter mit dem Adam über die lange Zugbrücke zur großen roten Sonne hinüber, die jetzt ganz goldig wurde und so funkelte, daß der kleine Adam ein Weil­chen die Augen zumachen mußte. Die Hufe der Pferde klap­perten auf der Brücke wie unzählige Mühlenräder.
Als der Kleine die Augen wieder auf that, war die Gesell­schaft angelangt – auf der Sonne.
Die Sonne war ein rundes Haus und wurde von einer alten Frau, die grade vorüberging, Riesentrommel genannt.
Die ganze vordere Sonnenscheibe bestand indessen – und hier wurde das Adamchen ganz sprachlos vor Erstaunen -aus unzähligen Rittern in funkelnden goldenen Rüstungen.
»Der ganze Sonnenglanz kommt also von den Ritterrüstun­gen !«
Also sprach der Kleine nach einer guten Weile mit nach­denklichem Gesicht. Er schaute danach mit ganz zurückgebo­genem Kopfe bis ganz nach oben zum oberen Rande der Sonne.
»So hoch ist kein Kirchturm!« rief er jauchzend.
Und die ganze Sonnenscheibe war durchquert von lauter Galerieen – eine über der anderen. Die Anzahl dieser Stock­werke schien unzählbar zu sein. Und auf allen diesen Gale­rieen, die an ein sehr sehr großes Theater erinnerten, standen die Ritter in ihren goldenen Rüstungen.
Und alle Ritter hatten – was den Adam wunderlich an­mutete – in der Hand oder vor den Augen große schwarze Operngucker.
Und über eine schmale Brücke mit Taugeländer ging der Kleine mutig auf eine der unteren Galerieen los; kleine Pa­gen in dunkelgrünen Sammetröcken mit Silbertressen baten den kleinen Adam, doch ruhig näherzutreten.
Und sie wollten mit ihm an den vielen Rittern vorüber durch die nächste Marmorthüre ins Innere der Sonne gehen.
Die Ritter plauderten sehr lebhaft und kuckten gelegent­lich durch ihre Operngucker in die Welt hinaus.
Der kleine Adam verbeugte sich vor den Rittern immer­zu, da ihn einzelne ganz freundlich anblickten; die Pagen aber baten den Kleinen lächelnd, erst mal hineinzukom­men – in die Sonne.
Und der kleine Adam folgte den Pagen und betrat ein kleines Empfangszimmer, in dem zwei schwarze Mohren in grünen Kleidern mit langen Lanzen herumstolzierten. Der Kleine konnte sich nicht viel umsehen, denn die Pagen eilten rasch der nächsten Thüre zu.
Und hier wurden Adams Augen ganz geblendet von all der Pracht. Bunt gekleidete sehr feine Herren und Damen standen da in vielen Gruppen herum und tranken Kaffee aus kleinen bemalten Porzellanschalen. An den Wänden be­fanden sich auch Galerieen – so wie draußen. Und da stan­den auch Herren und Damen. Und alle tranken Kaffee. Kleine Springbrunnen plätscherten in der Mitte und in den Ecken des Saales. Es duftete nach Rosen und Veilchen.
»Die Springbrunnen werden mit puren Parfüms gespeist!« sagten leise die Pagen dem Kleinen ins Ohr.
Alle flüsterten nur ganz leise, und die bunten Teppiche waren so weich und tief, daß der Adam nur mit Mühe vor­wärtskommen konnte.
Über Treppen und Galerieen und durch kleinere Neben­zimmer, in denen große dicke Blumen in gelben Porzellantöpfen blühten, brachten die Pagen den Adam zum Sonnen­könig.
Der Sonnenkönig stand in einem goldenen Saale unter einem violetten Baldachin und sprach zu seinen Kammer­herren, deren Uniformen ganz mit Edelsteinen besetzt wa­ren. Der König sprach über die neuen Maschinen, die er zur Reinigung der Teppiche angeschafft hatte; das Teppichklop­fen war ihm von jeher ein Greuel gewesen.
Und der Kleine mußte dem Könige seinen Namen nen­nen. Der König benahm sich sehr leutselig und reichte dem Kleinen die Hand und schüttelte sie lange – wie einem alten Freunde.
»Entschuldigen Sie nur, Herr Sonnenkönig!« sagte der Adam ganz außer Atem.
Der König rief aber gemütlich:
»Sage nur ruhig, was Du möchtest!«
Und Adam sprach also:
»Entschuldigen Sie nur, Herr Sonnenkönig, ich möchte mir nur hier Alles näher ansehen. Ich hatte immer so große Sehn­sucht nach der Sonne – und es ist hier doch so viel schöner als auf der Erde.«
»Da möchtest Du wohl«, erwiderte lachend der König, »hier bleiben, nicht wahr?«
»Oh«, meinte da der Kleine mit Thränen der Begeisterung in beiden Augen, »wenn ich das dürfte, so würde ich sehr sehr glücklich sein.«
»Du darfst hier bleiben«, antwortete nun der große Son­nenkönig, »wenn Du versprichst, niemals wieder nach Hause zu wollen. Wenn Du einmal sagst, Du möchtest wieder nach Hause, so schicken wir Dich gleich fort – und Du darfst nie­mals wiederkommen.«
»Ich verspreche, daß ich niemals wieder nach Hause will!« sagte darauf der kleine Adam, und es ward ihm etwas be­klommen zu Mute.
Der König schüttelte dem kleinen Menschen abermals die Hand und gab einigen Dienern einen Wink.


Des Königs Kleider waren ganz mit weißen Perlen besetzt, und auf dem Kopfe trug er eine riesige goldene Krone mit frischen blaßroten Rosen.
Die Stabstrompeter bliesen nun an den Thüren des Saales einen Marsch, und ein alter Diener, dem der König was ins Ohr geflüstert hatte, brachte den kleinen Adam zu den Ge­lehrten des Sonnenkönigs.
Die Gelehrten des Sonnenkönigs beschäftigten sich natür­lich nur mit den vielen großen Sternen des Himmels; sie hat­ten daher den Titel »Sternrat«.
Der Diener führte den Adam zu einem sehr alten Herrn mit langem weißen Bart.
»Herr Obersternrat«, sprach ehrfurchtsvoll der Diener, »der Herr König läßt Sie bitten, diesen jungen Menschen, der Adam heißt, mit den Geheimnissen des Himmels bekannt zu machen; der junge Mensch kommt direkt von der Erde und ist noch sehr unwissend.«
Dem Kleinen stieg die Röte der Scham in die Backen, und er sagte stotternd:
»Entschuldigen Sie nur – Herr – Obersternrat – daß ich noch – so unwissend bin – aber – ich lerne ganz gut.«
Der alte Rat lachte und sagte:
»Na, denn will ich Dir mal gleich die wichtigsten Geschich­ten zeigen und erklären. Komm nur hier in mein Laborato­rium.«
Im Laboratorium brannten sieben rubinrote Ampeln, viele blanke Geräte standen in den Ecken, und an den Wänden hingen viele schwarze Portieren ganz still, als wären seltsame Dinge dahinter. Auch hier lagen dicke weiche Teppiche auf dem Fußboden. In der Ferne klang ganz leise zitternde Gei­genmusik.
Der Herr Rat ging mit dem Kleinen an eine der Portieren, drückte auf einen Knopf oben linker Hand – und das La­boratorium wurde so dunkel wie ein tiefer Keller, in dem es keine Fenster giebt.
Doch dann schlug der Alte die Portiere zurück – und der Kleine sah in eine Wunderwelt.
Da schwebten unzählige kleine Kugeln in feinen durch­sichtigen Wolken – die Kugeln leuchteten in unzähligen Far­ben – und flimmerten und drehten sich – und stiegen auf und sanken langsam herunter und kreisten umeinander, als wenn sie sich alle so schrecklich gern hätten; und es schien nicht eine einzige Kugel so groß wie eine andere zu sein.
»Das giebt Dir«, bemerkte der Rat, »ein kleines Bild von der Welt, in der wir leben; die Kugeln stellen Sterne vor.«
Und er ließ den Vorhang fallen und schlug ein paar Schritte weiter eine andere Portiere zurück – und der Kleine sah abermals in eine Wunderwelt.
Hier waren die Sterne eckig und kantig wie Brillanten, und sie funkelten auch so, und ihre Farben leuchteten fri­scher als die Farben der Kugeln, und sie bewegten sich leb­hafter ; manche Sterne sausten ganz schnell vorüber wie Bom­ben und Granaten. Und diese Brillanten-Sterne überragten auch an Größe alle Kugel-Sterne.
»Das ist eine andere Weltgegend!« bemerkte der Rat, wäh­rend er eine Prise Schnupftabak seiner Nase näherte.
Und er ließ den Kleinen noch in eine dritte, vierte und fünfte Weltgegend schauen.
In der dritten Weltgegend schienen bunt schillernde Sei­fenblasen immerfort auf der Flucht zu sein – vor langen aalartig sich schlängelnden Weltkörpern. Die Aale glitzerten wie Silber und gingen zuweilen durch die Seifenblasen durch – und wenn sie durch waren, wurden die Blasen ganz groß und zu unförmlichen höckerigen Schläuchen, die bald zerplatzten und als zuckende Schneeflocken in die Tiefe hin­unterrieselten.
In der vierten Weltgegend blitzte es sehr stark, und es donnerte dazu, und lange Schweifkometen flogen von oben hernieder – wie flammende Schwerter. Und die Kometen­schweife schlugen durch vielköpfige braune Ungeheuer durch, die blanke weiße Augen hatten. Aber die Kometen scha­deten den Ungeheuern nicht; es schössen nur immer dickere Blitze wie astvolle Raketenbäume aus den braunen Leibern heraus, und das Donnern hörte sich so an, als käm’s aus den blanken weißen Augen.
Der kleine Adam hielt sich das Gesicht mit beiden Hän­den und rief blos immer wieder:
»Oh, Onkel Sternrat!«
In der fünften Weltgegend loderten lauter bunte Flam­men, und weiße geisterhafte Gestalten in langen knisternden Gewändern schwebten wackelnd durch die bunten Flammen; heftiges Geklapper war zu hören, und die weißen Geister hatten ganz große würfelförmige Köpfe mit struppigen wei­ßen Haaren und hellgrünen Augen, die unter der Stirn sa­ßen, wie bei den Menschen.
Der Kleine fürchtete sich vor diesen Geistern, und der alte Rat meinte freundlich:
»Mehr will ich Dir von der großen unendlichen Welt nicht zeigen – Du könntest mir sonst noch krank werden. Aber -hast Du jetzt eine Ahnung von der Großartigkeit der Welt?«
»Ach ja, Onkel Sternrat!« rief der Kleine und hüpfte vor Vergnügen.
Und nun führte der Alte den Adam durch einen langen düstern Gang auf eine Galerie hinaus – in die kühle Abend­luft. Die goldenen Rüstungen der Ritter glänzten und glüh­ten.
»Du bist so leicht begeistert worden«, sagte der Alte, »daß ich Dir garnichts mehr erklären möchte. Wenn Du nur stets behalten kannst, daß die Welt sehr großartig ist und nicht so einfach ist, wie sie Dir manchmal erscheint, so hast Du die Hauptsache in Deinem Leben begriffen. Was ich Dir zeigte, sind natürlich nur Nachbildungen der großen Welt. Es ist wahrscheinlich, daß die ganze Sternwelt, die Du nachts teil­weise sehen kannst, auch blos eine kleine Nachbildung einer noch größeren Sternwelt ist. Ist Dir nun die Welt, in der Du lebst, großartig genug?«
»Ach, Onkel Sternrat«, sprach dazu der Kleine, »wenn man so was bedenkt, so bekommt man ja so große Angst vor der großen Welt.«
»Behalte diese Angst«, versetzte der Alte, »so wirst Du niemals in Deinem Leben traurig werden. Ehrfurcht kannst Du diese Angst nennen.«
Der Kleine wiederholte sich im Stillen diese Worte, um sie ja nicht zu vergessen; der alte Herr Obersternrat sah so ernst und großartig aus.
Währenddem erdröhnte die ganze Sonne unter einem mächtigen Trommelwirbel, und die Herren Ritter legten lang­sam und vorsichtig ihre goldenen Rüstungen ab und standen bald in roten Röcken und roten Beinkleidern da – in ihrer Nachttracht. Sie sahen auch jetzt noch mit ihren Opernguk-kern zur Erde hinunter, die da wie ein großer bunter Teller in der Tiefe lag. Der Trommelwirbel klang allmählich schwä­cher.
»Ach so«, dachte der kleine Adam, »die Sonne ist eine Trommel – und auf der Rückseite wird abends und morgens immer getrommelt, damit die Herren Ritter wissen, wann sie ihre goldenen Rüstungen an- und abzulegen haben. So erklärt sich nebenbei auch das Abend- und Morgenrot durch die rote Nachttracht der Herren Ritter.«
Danach ward aber der kleine Adam neugierig: er wollte wissen, wozu die Ritter immerzu durch die Operngucker die Erde ankuckten; die Erde sah nach und nach sehr schmal aus – wie ein Teller für ein Kind aussieht, das noch nicht ordentlich über den Tisch sehen kann



Adam fragte den alten Rat, wie sich das mit den Opern­guckern verhielte; der Trommelwirbel war kaum noch zu hören.
Der Alte jedoch gab dem Neugierigen den folgenden Be­scheid :
»Die Ritter beobachten die Erdoberfläche und studieren das Menschenschicksal; Du bemerkst wohl, wie sie sich öfters Notizen machen. Alles wird nachher gut stilisiert in die gro­ßen Schicksalsbücher eingetragen. Die Ritter höheren Ran­ges arbeiten mehr im Großen; sie beschäftigen sich mit den Schicksalen ganzer Völker. Aus diesen Schicksalsbüchern er­geben sich von Zeit zu Zeit große Gesetze, nach denen sich die Einzelnen und die Völker richten können, wenn ihnen was daran liegt, sich weiter zu entwickeln und klüger zu wer­den, woran den meisten Leuten allerdings wenig gelegen ist. Das Vergnügen im menschlichen Leben und am menschlichen Leben ist wohl eine zu verzwickte Sache. Ja – so ist es! Daher die vielen Operngucker! Weißt Du’s nun?«
»Ja, Onkel!« erwiderte der Kleine, obgleich er die Rede garnicht ordentlich verstanden hatte.
Und der alte Rat fragte ihn, ob er auf der Sonne schon was zu essen bekommen habe.
Darauf sagte der Kleine kleinlaut:
»Nein, Onkel!«
Und der Alte rief einen Mohren herbei und befahl ihm, den kleinen Adam in die Küche zu bringen.
Der Adam sah noch den ersten Abendstern aufblitzen, dankte noch dem Herrn Obersternrat für alles Gute aufs Herzlichste und ging mit dem Mohren durch die nächste Thüre wieder ins Innere der Sonne hinein.
Es befanden sich jetzt sehr viele Mohren auf den Gale=.“ rieen; die Mohren reichten den Rittern Bier, Limonade und Appetitbrötchen; der Tagesdienst auf den Sonnengalerieen war für die Ritter sehr anstrengend.
Kurz bevor der Mohr mit dem Adam die Küche betrat, fragte dieser noch:
»Sag mir doch, lieber Mohr, werden durch Euch die vie­len Sonnenflecke hervorgebracht?«
Der Mohr lachte wie ein Teufel und gab keine Antwort.
Himmlische Musik ertönte jetzt von allen Seiten, und auch in der Küche wurde Musik gemacht – mit Handharmonikas, Dudelsäcken und Leierkasten. Und weiße Köche tanzten mit weißen Köchinnen um die dampfenden Kochherde herum, daß alles zitterte. Die Küche war mindestens so groß wie zehn große Kirchen zusammen – doch sehr hoch war die Kü­che nicht.
Adam mußte Muschelpastete mit Schneckensalat essen. Aber Beides schmeckte ihm einfach ausgezeichnet, daß ihm die Augen beim Essen glänzten; er aß eine ganze Viertelstunde.
Ein paar unvorsichtige Paare, die sehr wild tanzten, war­fen dann leider einen ganzen Kochherd um, daß die Speisen nur so umherspritzten und die Töpfe nur so durcheinander rollten. Das verursachte einen großen Spektakel.
»Jetzt wollen wir lieber gehen!« meinte da der Mohr, denn alle Köche und Köchinnen liefen erschrocken herbei, und es entstand ein wüstes Gedränge.
Und der Adam schlang den Rest der Muschelpastete her­unter und folgte seinem Mohren.
»Schneckensalat!« rief er begeistert aus, und er freute sich, daß ihm kein Topf an den Kopf geflogen war. Jetzt erklang von allen Seiten – von oben und von unten – die allerfeinste Musik – von Geigen, Hörnern und Flöten.
Und selig ging der Adam mit seinem Mohren durch die vielen Säle, in denen getanzt wurde.
In anderen Sälen verspeisten die roten Ritter ihr Abend­essen.
Die Sternräte saßen in Hinterzimmern an runden Tischen und rauchten ihre langen Pfeifen und tranken ihren alten Wein und sprachen über das alte Leben und über die alte Zeit; dem kleinen Adam strichen sie oftmals die blonden Locken aus der Stirn.
In den Tanzsälen schenkten die Damen dem Kleinen viele Süßigkeiten und ließen ihn die feinsten Limonaden trinken. Und die Musik rauschte ihm um die Ohren, daß er garnicht mehr recht verstand, was man zu ihm sprach.
Und der König, der jetzt in einem bequemen weißen Sam-metrock durch die Tanzsäle wanderte und nur eine leichte Krone mit Kirschblüten auf dem Kopfe trug, bemerkte den kleinen Adam, rief ihn zu sich und fragte ihn:
»Willst Du heute Nacht mein Tischpage sein?«
Da leuchteten die Adamsaugen noch heller auf als bisher, und er antwortete schnell:
»Ach ja, Herr Sonnenkönig, das möchte ich wohl sein.«
Und der Adam wurde zum Tischpagen des Sonnenkönigs ernannt und feierlich zum nächsten Fahrstuhle geführt; die Musik rauschte dem Kleinen noch ein Mal mächtig um die Ohren und wurde dann immer schwächer und schwächer, denn der Fahrstuhl stieg mit großer Geschwindigkeit auf­wärts zum obersten Kuppelsaale der Sonne, der des Königs Speisezimmer war.
Auf der großen Speisetafel des Königs standen sehr viele farbige Gläser und Flaschen von feinstem Schliff und sehr viele silberne und goldene Teller und funkelnde Krystall-schalen daneben, und blaue Blumen staken in gelben Por­zellanvasen und dufteten. Und durch die Glaskuppel oben schienen die Sterne und der Mond herunter in den Saal, in dem nur kugelrunde dunkelblaue Lampen brannten – rings­herum an den Wänden und über der Tafel.
Während der Sonnenkönig speiste, rannten die Mohren mit den Bratenschüsseln und Kompottkruken auf und ab und thaten sehr geschäftig. Und der Kleine mußte immer wieder Wein einschänken – immer wieder anderen Wein – und da­für gab der König seinem Pagen zuweilen einen Happen ab -auf kleinen Tellern aus purem Golde; der gute Adam wußte garnicht, wie ihm geschah.
Der König aber sagte beim Hasenbraten:
»Nu, Kleiner, was möchtest Du denn noch?«
Da erwiderte der Kleine schüchtern:
»Entschuldigen Sie nur, Herr Sonnenkönig, doch ich möchte so gerne wissen, ob die Sonne wirklich eine Trommel ist.«
»Mein Kind«, versetzte da der weise König, »entschuldige Dich nicht zu viel, sonst glaubt man noch, Du hättest bereits die schlimmsten Sünden auf dem Gewissen. Aber ich will Dir nur sagen: die Sonne ist schon mehr eine Pauke – die lär­mende Pauke der menschlichen Lebenslustmusik. Bei uns ist natürlich alle Tage Sonntag.«
»Aha!« dachte der Kleine, »daher die ewige Musik und das viele Tanzen.«
Doch laut sagte er bald:
»Wenn ich nur alles ganz richtig verstehen könnte.«
Der König meinte dazu, während er ein paar Krebs­schwänze in Austerntunke hin und her wälzte:
»Wer kann das denn?«
Es wurde sehr still im Kuppelsaal; die Mohren standen an den Wänden unbeweglich wie Bildsäulen.
Der König lehnte sich nachdenklich in seinen Sessel zu­rück und fragte leise den Kleinen:
»Was soll ich Dir denn schenken?«
Da schössen dem Kleinen unzählige Gedanken durch den Kopf und verwirrten sich, und er wußte lange Zeit garnicht, was er sagen sollte – aber plötzlich rief er laut:
»Ach, bitte bitte – einen Operngucker!«
Und der König nahm einen Operngucker aus seiner Rocktasche und schenkte ihn dem Adam der dankte sehr und wurde nun entlassen – zwei Mohren mußten ihn zu Bette bringen.



Der König saß noch lange ganz still wie eine Porzellan­figur in seinem Sessel und ließ die Krebsschwänze in der Austerntunke unberührt – dachte nach – schließlich steckte er sich eine gute Cigarre an und blickte zu den Sternen hin­auf und zum Monde.
»Auf der Sonne des ewigen Vergnügens muß man alles Andre vergessen!« murmelte der König in seine duftenden Rauchwolken hinein.
»Man muß mit dem Vergnügen zufrieden sein – das hat man!«
Das setzte der König noch hinzu.
Der kleine Adam schlief ungewiegt und erwachte erst, als die Ritter schon wieder draußen auf den Galerieen in ihren funkelnden Goldrüstungen dastanden; die Ritter hatten natürlich wieder nicht ordentlich ausgeschlafen – sie blieben eben stets zu lange auf – das vergnügte Leben ist eben an­strengender als jedes andre.
Mit seinem Opernglase rannte der Kleine natürlich gleich auf die nächste Galerie; er hatte im Traume mit seinen Eltern gesprochen und ihnen nur in aller Eile gesagt:
»Seid mir nur nicht böse – aber ich muß Euch vergessen -der Sonnenkönig hat es unter allen Umständen verlangt -und er läßt nicht mit sich spaßen.«
Und nun stand der Adam auf der Galerie und ließ sich von einem goldenen Ritter zeigen, wie man mit den Opern­guckern umgeht. Und dann sah er hinunter durch den Opern­gucker auf die Erde und sah Alles ganz deutlich. Er sah die Gemsen im Gebirge über die Sturzbäche springen – er sah die Störche auf den Masten der großen Schiffe durchs große blaue Meer fahren – und er sah auch bald seine alte Vaterstadt.
In der alten Stadt flogen die Tauben um den alten Kirch­turm, und in den Anlagen schoben die Kindermädchen ihre Kinderwagen vor sich her – aber dazwischen liefen (Adam sah’s ganz deutlich!) seine alte Mutter und sein alter Vater. Und die Beiden suchten was – sie fragten alle Kindermäd­chen um Rat – und rangen die Hände überm Kopfe und tha-ten schrecklich verzweifelt – der Vater hatte den Hut ver­loren. Und der schwarze Teufel saß auf der Bank in den An­lagen und lächelte so bösartig vor sich hin.
»Sollte dieser Teufel«, rief da der Kleine ganz entrüstet, »vergessen haben, meine Eltern zu grüßen? Das wäre denn doch einfach empörend.«
Und der Kleine sieht durch seinen Operngucker auf ein Plakat, das grade auf eine Litfaßsäule geklebt wird.
Und die großen Buchstaben werden ihm immer deutli­cher, und er liest auf diesem Plakat:
»Unser Sohn Adam, zehn Jahre alt, ist verschwunden. Wiederbringer erhält große Belohnung.«
»Also«, schreit nun der Kleine wild, »hat der Teufel that-sächlich vergessen, meine Eltern zu grüßen – ich muß nach Haus – ich muß nach Haus – sonst grämen sich Vater und Mutter zu Tode.«
Und der Kleine läßt sein Opernglas fallen und weint bit­terlich.
Die Ritter sehen das Kind mitleidig an, aber da es fort­während schreit: »Ich muß nach Haus!« – so binden die Moh­ren dem kleinen Adam ein Tuch vor die Augen und führen ihn fort.
Er läßt alles mit sich geschehen. Und nach einer guten Wei­le fühlt er plötzlich, daß ihm so ist, als würde er geschaukelt.
»Aha!« denkt er gleich, »jetzt werde ich in einem Luftbal­lon zur Erde hinuntergebracht – zu Vater und Mutter. Schade, daß ich nicht sehen kann – ich muß doch durch so viele Wolken durchkommen^
Der kleine Adam wagt aber nicht, das Tuch von seinen Augen fortzuschieben.
Ihm ist so, als würde er gewiegt.
Und er schläft allmählich ein.
Wie er wieder aufwachte, lag er zu Hause in seinem alten Bette und konnte sich garnicht zurechtfinden in der alten Schlafstube; ihm kamen die alten Möbel so seltsam und trau­rig vor.
Und als sich nun seine Eltern mit einem fremden Herrn leise seinem Bette näherten, seufzte der Kleine tief auf und flüsterte wehmütig:
»Geht zum Teufel – und – und – grüßt ihn von mir!«
Und dabei fing er herzbrechend zu weinen an, daß die El­tern auch weinen mußten.
Der fremde Herr sagte leise:
»Das Fieber ist noch nicht ganz fort.«
Und das Kind wälzte sich in seinem Bette und sprach wir­res Zeug vom Teufel und von der Sonne und von der gro­ßen Pauke und von den vielen vielen Opernguckern.
Und als es nach drei Tagen etwas besser war, wollte der Kleine aufstehen – aber er konnte nicht gehen – seine Beine waren noch zu schwach.
»Ich werde wohl«, denkt er, »bei dem vielen Fliegen mit dem Luftballon das Gehen verlernt haben.«
Und er wundert sich sehr, daß seine Eltern nichts von dem Plakate sagen.
»Gut!« denkt er, »so will ich auch nichts sagen, damit sie niemals erfahren, welches Opfer ich ihnen gebracht habe.«
Und nach vielen Wochen lernt der Adam wieder gehen auf der Erde.
Und wie er’s ordentlich wieder kann, nimmt ihn der Va­ter auf seinen Morgenspaziergang mit – ganz früh des Mor­gens vor Sonnenaufgang; es war grade so warm.
Die Straßen der alten Stadt sind noch ganz still, und die Schritte schallen zwischen den Häusern.
Und an der zweiten Straßenecke treffen sie den schwar­zen Mann mit dem schwarzen Bart und den schwarzen Lok­ken, mit dem schwarzen Cylinder und den schwarzen Glace­handschuhen.
Und der kleine Adam schreit laut:
»Pfui! Du Teufel!«
Der Vater sagt scharf, während er des Kleinen Hand hef­tig schüttelt:
»Aber Kind!«
Der Schwarze sieht sich scheu um und geht rasch davon -läuft beinahe.
»Haha!« denkt der Kleine, »der hat jetzt ein böses Gewis­sen, weil er meinen Gruß vergessen hat. Das Vergessen ist wohl die schlimmste Sünde. Aber der Sonnenkönig sagte doch, ich müßte die ganze Erde vergessen. Wenn ich doch Alles richtig verstehen könnte !«



»Vater«, spricht er laut, »ist es eine sehr große Sünde, wenn man was vergißt?«
»Nein, mein Kind«, erwidert der Vater, »das ist keine Sünde. Wir wollen uns jetzt den Sonnenaufgang ansehen.«
»Alles«, meint da der Kleine, » kann man wohl verges­sen – aber die Sonne kann man nicht vergessen.«
Der Vater weiß nicht, was er dazu sagen soll, und schrei­tet traurig weiter durchs Stadtthor in die Anlagen hinein.
Und sie gehen zur Lohmühle.
Die Morgensonne ist schon halb vorgekommen, und der kleine Adam sagt ernst zu seinem Vater:
»Lieber Vater, wenn man nur behält, daß die Welt sehr großartig ist, so kann man niemals traurig werden.«
Der Vater steht still und starrt sein Kind groß an – dann murmelt er besorgt:
»Sollte das ein Rückfall sein?«
Die Wolken am Himmel sind so bunt.
Da sieht der Kleine, daß neben der Lohmühle der Gast­hof »Zur Sonne« abgebrochen wird – die Maurer hacken und hämmern – und die Thüren und Fenster sind schon raus­genommen – und auf dem Dache ragen nur noch ein paar kal­kige Balken in die Luft – und von der gemalten Sonne über der bewußten Thüre ist nichts mehr zu sehen.
Wie das der Kleine sieht, wird er so bleich wie der Kalk an der Wand.
Und er fängt wieder so herzbrechend an zu weinen.
Und er ruft immerzu:
»Nun ist Alles aus!«
»Jetzt ist keine Hoffnung mehr!«
Und er läßt sich nicht beruhigen.
Und der Vater muß sein Kind auf den Armen nach Hause tragen.
Und da wird der Kleine gleich zu Bett gebracht.
Und der fremde Herr kommt und erklärt, daß es sehr schlimm steht.
»Siehst Du, Vater«, ruft da heftig der Kleine, »das Verges­sen ist also doch schlimm. Daß ich Vater und Mutter verges­sen habe, das ist die schlimmste Sünde! Thut dem Teufel nichts zu Leide. Ich vergebe ihm, damit ich nicht zu sehr be­straft werde. Armer kleiner Adam! Armer Teufel!«
Und seine Worte verwirren sich, und das Fieber wird im­mer heftiger.
Gegen Abend bei Sonnenuntergang läßt das Fieber etwas nach, und der kleine Adam erkennt wieder seine Eltern und sieht, daß sie weinen.
Da sagt er mit leiser Stimme:
»Wenn man nur behält, daß die Welt sehr großartig ist, so kann man niemals traurig werden.«
Nach diesen Worten sinkt sein Kopf zurück – und er träumt, daß er in einem Luftballon nach oben zu den Ster­nen fahre – mit verbundenen Augen.
»Ihr«, denkt er, »ich glaube beinah, daß ich träume – da kann ich wohl mal das Tuch zurückschieben – im Traume schadet das doch nicht.«
Und er schiebt das Tuch zurück und sieht in einen großen Sternhimmel hinein – da fliegen weiße Geister mit Toten­köpfen durch grüne Flammen, und die Sterne funkeln wie Diamanten, und die Kometen schneiden die Sterne entzwei, als wenn sie Kuchen wären.
Und der Kleine sieht über sich einen großen Luftballon -und der Luftballon wird immer größer, so daß dem Kleinen bald Alles schwarz vor den Augen wird – der ganze Him­mel wird schwarz – so groß ist bald der Luftballon.
Und wie der Kleine nun nicht mehr sehen kann, fühlt er, wie er hin und her gewiegt wird – wie einst.
»Bin ich wieder«, denkt er, »ganz klein?«
Doch danach wird ihm so wohl, daß er nicht mehr denken mag.
Und er schläft sanft ein.
Wie die Sonne grade wieder aufging, hörte der Kleine zu atmen auf.
Aber die alte Großtante sagte, als ihr die Nachricht vom Tode des kleinen Adam beim Morgenkaff ee mitgeteilt wurde:
»Ach, Du liebes Gottchen, er ist wohl dran.«



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