Das alte Felsenschloß

Paul Scheerbart

Verlassenes


Das alte Felsenschloß

Ein Tiermärchen

Index – Erzählungen – verlassene Geschichten

Im fernen Indien, wo die großen Blumen blühen, hauste auch einmal ein großer König als wilder Jägersmann. In jeder Wo­che machte er zehntausend Tiere tot. Das kam der Nachbar­schaft ein bischen viel vor, und man mied den wilden Jägers­mann, obgleich er ein großer König war.

Die Tiere sprachen von dem Grausamen nur mit Angst und Entsetzen, und wenn sie seinen Namen hörten, so über­lief sie alle eine kalte Gänsehaut.
Der König hieß Axular. Alles ergriff die Flucht, wenn die­ser Name durch den Urwald schallte. Und so kam es, daß man im alten Felsenschloß darüber nachsann, wie man wohl den grimmen Jäger bestrafen könnte. Lange Zeit dachte man im Schlosse nach. Das Schloß ward bewohnt von den ältesten Tieren, die alle Tage zu Gericht saßen. Sie verhandelten über die Menschen, die den Tieren feindlich gesinnt sind.
Ein ganz merkwürdiges Schloß! Elefanten saßen da mit blauer Brille vor den Augen auf goldenen Stühlen, und blut­rote Kronen funkelten auf ihren Köpfen. Ein edles Nashorn mit grünem Turban auf dem Haupte schleppte fortwährend dicke Bücher herbei. In Schweinsleder waren alle Bücher ge­bunden, und drinnen stand geschrieben, wie man die Men­schen, die den Tieren was zu Leide thaten, bestrafen muß. Wer in diesen Büchern länger als eine Stunde las, bekam auch eine Gänsehaut – eine doppelte sogar.
Im Felsenschlosse sprach man also nur vom König Axular. Er sollte fürchterliche Qualen leiden. Das stand bombenfest. Der König hatte ein hartes Herz. Er war den Menschen nicht sehr zugethan, und die Tiere schlug er immer tot.
Aber wie jeder Mensch – eine schwache Seite hatte er doch. Wer kann auch ganz so hart sein wie ein Stein? Nie­mand kann’s! Auch Axular nicht! Axular liebte seine Kin­der, in ihnen war er verwundbar – und zwar sehr. Wenn seinen Kindern was fehlte, ging’s ihm durch Mark und Bein. Kein Mensch durfte den Kindern zu nahe treten. Deshalb ließ er sie auch ordentlich bewachen. Siebenhundert Diener hat­ten nichts Andres zu thun, als auf die Kinder aufzupassen. Das Aufpassen war jedoch viel schwerer, als mancher Mann sich denken kann.
Buxo und Makka hießen die beiden Geschwister. Der Buxo war ein feister Junge, und die Makka war munter wie ein gutes Kaninchen – ein braves Mädchen! Buxo und Makka vertrugen sich ausgezeichnet, sie spielten mit großem Eifer und waren den Hunden und Katzen sehr gut. Der Vater ließ die beiden Kinder überall gewähren; sie konnten thun, was sie wollten.
Eine herrliche Jugendzeit! Und wunderbarer Weise waren die Kinder bald allen Tieren schrecklich gut. Und das nahm ihnen wunderbarer Weise der Vater gar nicht übel – so gut war er wieder seinen Kindern.
Den Elefanten im Felsenpalaste war es längst hinterbracht worden, was für ein zärtlicher Vater der wilde Axular zu sein pflegte. Es lag demnach auf der Hand, wie man Axular ver­wunden konnte – tötlich! Man brauchte ihm blos die Kinder abzuschlachten oder – zu stehlen. Die Elefanten beschlossen das Letztere. Indessen – die Geschichte schien den Bewoh­nern des Felsenpalastes doch nicht so einfach! Die siebenhun­dert Aufpasser ließen sich ja nicht so leicht überrumpeln.
Der dicke Elefant Sikki, ein uraltes Tier, das noch so Man­ches von der Sündflut wußte, legte seine linke Vordertatze bedächtig an seinen Rüssel und sprach mit rostiger Stimme zu seinen Kollegen, die ebenso würdevoll wie er auf ihren goldenen Stühlen saßen:
»Ehrbare Freunde! Die Jagd, die der König Axular mo­dern gemacht hat, ist nicht blos eine bestialische Tierquälerei, sondern gradezu eine bodenlose Gemeinheit. Dieser Mensch sollte sich schämen. Zehntausend Tiere macht er in jeder Wo­che tot. Das ist ja beinah nicht mehr zu glauben. Noch ein paar Dutzend solcher Axulare – und die Erde ist in drei bis vier Jahren entvölkert.«
»Deshalb«, versetzte der edle Pavian aus Südafrika, »ist es Zeit, die beiden Kinder, Buxo und Makka, so schnell wie möglich einzufangen und hierherzubringen.«
»Wie willst Du«, fragte nun das Nashorn, während es sein dickstes Buch knallend zuklappte, »das Einfangen anfangen? Sprich, mein edler Pavian, Du hast manchmal recht witzige Einfälle.«
Der Pavian kletterte an einer Wandstange hoch in die schneeweiße Glaskuppel des Richtersaales, räusperte sich dort vernehmlich und rief mit weithin schallender Stimme:
»Wie könnt Ihr blos über so einfache Sachen so lange nach­denken? Erinnert Ihr Euch nicht, daß sich auf der grauen Märchentreppe ein Regiment Klapperschlangen befindet? Ist es nicht so einfach, den General Kamizzi mit seinem Regi­ment auszusenden, die siebenhundert Aufpasser regelrecht auffressen und dann Buxo und Makka von unsern weißen Adlern herführen zu lassen? Ist das nicht ganz einfach?«


»Ja!« brummten die Elefanten. Und die weißen Eisbären, die im Felsenpalaste immer weiße Cylinderhüte tragen, tanz­ten vor Vergnügen. Die Giraffen flöteten auf ihren geboge­nen Flöten. Und die Dromedare trommelten. Alsdann ließ man von den eifrigen Hirschkühen, die Kellner im Palaste sind, schleunigst den General Kamizzi und die weißen Adler holen.
Der Schlangengeneral kam alsbald. Er reckte sich hoch in die Höhe und verneigte sich vor den Elefanten, wie’s Sitte ist im Felsenpalaste. Der General war bis zum Halse, an dem ein goldener Orden hing, in orangefarbige Seide gewickelt. Im Munde hatte der Armlose eine Art Zügel, an dem ihm auf dem Rücken ein langer krummer Säbel baumelte.
Kamizzi erhielt seinen Auftrag und machte sich mit seinen Schlangen sofort auf den Weg, denn bis zum König Axular waren’s viele tausend Meilen. Die weißen Adler flogen dem großen Regimente kühn voran. —
Buxo und Makka sitzen währenddem am Ufer eines Teiches und füttern die Schwäne. Das macht Allen großen Spaß. Doch plötzlich kommt Kamizzi. Und ehe die sieben­hundert Aufpasser Zeit haben, sich zu wundern, sind sie auch schon verspeist. Die Kinder werden von den Krallen der wei­ßen Adler gepackt, hoch in die Lüfte gehoben und davonge­tragen ins Felsenschloß. Die Kinder schreien natürlich, als wenn sie am Speere stäken. Das Schlangenregiment kriecht  auf dem Boden wieder den Adlern nach – diesmal aber geht  das Gekrieche sehr langsam von statten – die Schlangenbäu­che sind zu stark geschwollen. Die Adler sind viel früher im Felsenschloß als das Regiment. Wie nun die Kinder auf der sonst von Menschen nicht erreichbaren Felsplatte abgesetzt waren, wurden sie ruhiger und blickten sich erstaunt um. Der Felsen war groß, zackig und wild. Und viele Gemsen sprangen überall umher – die machten so große Augen wie die Kinder. Und wie sich nun die Kinder umdrehten, kriegten sie einen mächtigen Schreck, sodaß sie beinah den nahen Abhang hinuntergestürzt wären. Aus einem breiten Felsloch kamen nämlich zwei kleine Kro­kodile hervorgekrochen. Glücklicherweise riefen die gleich auf indisch:»Habt keine Angst! Wir sind die Kammerdiener im Fel­senschloß und haben den Auftrag, Euch zum Ehrenrat zu bringen.«Die Livree der Krokodile bestand aus bunt karriertem Sammet, und die Pfoten waren in weißen Wollhandschuhen. Kinder und Krokodile schüttelten sich gegenseitig Hände und Pfoten und freuten sich mächtig, wobei Allen die Augen naß wurden – besonders den guten Kindern, die auf einen derar­tig freundlichen Empfang wahrhaftig nicht vorbereitet waren.

Nun ging’s zum Ehrenrat! Die Kinder hatten selbstver­ständlich keine blasse Ahnung von der Bedeutung dieses Ehrenrats. Man wandelte Hand in Hand eine vielfach ge­wundene Treppe hinab; durchsichtige, blau erleuchtete Tier­schädel schaukelten über der Treppe als Ampeln. Ein bischen gruselig wurde den Menschenkindern. Aber die kleinen Kro­kodile sagten schmunzelnd:
»Habt keine Angst! Die Tiere sind sämtlich tot. Nur Schädel von mausetoten Tieren werden als Ampeln verwandt. Es sind sehr wertvolle Knochen dabei.«
So kamen die Vier in die viereckige Halle, in der der Ehrenrat zu tagen pflegt. Buntes Licht fiel durch die Glas­decke, und an einem riesig langen Tische saßen seltsame, ganz alte Tiere. Alte Mastodons und Mammuts, die einst in der Kreidezeit die Erde regiert hatten, saßen an dem langen Tische. Die Riesenrüssel der Tiere wanden sich wie Schlan­gen hoch über der Tischplatte. Känguruhs sprangen eiligst herbei und hoben Buxo und Makka gewandt in die Höhe und ließen sie mitten auf der Tischplatte sich hinsetzen.
»Es fragt sich«, begann ein altes Mastodon, »ob wir die Kinder braten oder kochen sollen.«
Buxo fing jämmerlich an zu schreien und umarmte seine tiefaufschluchzende Makka. Ein anderes Mastodon war für peinlichste Folterqualen, Abschneiden der Ohren und Ein-pökelung derselben. Ein Mammut indessen, das blos noch einen Stoßzahn hatte, haute plötzlich mit der Faust auf den Tisch, daß alle Gläser und auch die Kinder umfielen, lachte laut auf wie ein Spötter und sprach das Folgende:
»Tischgenossen! Was thun wir denn dem König Axular zu Leide, wenn wir hier seine Kinder quälen? Er sieht ja nichts davon. Es muß die Angelegenheit vor die General­versammlung gebracht werden. Ich beantrage Einberufung der Generalversammlung.«
Der großen Tischgesellschaft bemächtigte sich ein unbehag­liches Gefühl, doch wagte niemand dem lachenden Mammut zu widersprechen – und so ward ihm sein Wunsch erfüllt.
Und so ging’s alsdann durch die zehn Säle des Schreckens, wo die Tierleichen ausgestopft an den Wänden herumstehen, durch die sieben Vogelsäle, durch den Hühnerhof und durch die zwölf Ahnensäle, in denen die berühmtesten Tierbilder in Pelzrahmen stecken, in den großen Versammlungssaal hin­ein, allwo sich langsam und feierlich das gesamte Tiervolk des Felsenschlosses in Gruppen aufstellte. Der Saal war wie ein Cirkus in der Mitte tiefer und frei. In die freie Mitte setz­ten die Känguruhs Buxo und Makka. Beide blickten jetzt ganz sprachlos vor lauter Staunen neugierig umher.
Es verlangten zunächst, während sich langsam auch das aufgequollene Klapperschlangen-Regiment in den Saal wälz­te, die Krähen und Störche das Wort. Sie wollten vom König Axular berichten, setzten sich dem sich hochaufrichtenden Schlangen-Regiment auf den Kopf, und der Storch, der auf dem General Kamizzi saß, redete also:


»Große Freude ist über das Tierreich gekommen. König Axular hat vor Gram über seine Kinder in der letzten Wo­che nicht mehr ein einziges Tier getötet. Wir empfehlen den König Eurem Mitleid!«
Aber sofort sprang der Elefant Sikki wütend in die Höhe, daß ihm die rote Krone vom Haupte fiel, und schrie heftig: »Strafe muß sein!« Das Nashorn zu seiner Rechten schrie auch, indem es seinen grünen Turban gegen den Kronleuchter schleuderte, allwo der grüne hängen blieb: »Strafe muß sein!«
Die Affen erhoben ein Kriegsgeschrei, und die Schafe blökten dazu. Da der Lärm immer stärker wurde, befahlen die Mastodons und Mammuts den Walrossen, die die Leib­garde des Schlosses bildeten, durch Wasserspritzen die Ruhe wieder herzustellen. Es geschah! Pudelnaß schwieg die Ver­sammlung. Der kluge Pavian aus Südafrika trat in die Mitte an die Kinder heran, ward aus der Menge lebhaft begrüßt und ließ folgende Worte vom Stapel:
»Herrliche Gesellschaft! Liebliche Gesellschaft! Macht blos nicht solchen Radau! Fragen wir doch mal den kleinen Buxo, wie er über die ganze Angelegenheit denkt.«
Und der Pavian klärte den kleinen Menschen über die Situation auf. Buxo steckte den Finger in den Mund und dachte nach, dann jedoch erhob er sich mit prinzlichem An­stände, stellte der Gesellschaft mit vollendeter Handbewe­gung seine Schwester vor und äußerte sich also:
»Herrliche Gesellschaft! Liebliche Gesellschaft! Verehr­teste, Sie wissen, daß meine edle Schwester nebst meiner We­nigkeit stets den Tieren ungemein gut waren. Wir bitten da­her unterthänigst, uns freundwilligst am Leben zu lassen. Wir wollen«, und hierbei bekam des Prinzen Stimme einen ehernen Klang, »bei Ihnen bleiben, denn nachdem wir unsre Furcht überwunden haben, sehen wir ein, daß es im alten Felsenschlosse ganz famos sein muß. Unser Vater ist durch unser Hierbleiben genug gestraft. Gestatten Sie mir, daß wir ihm brieflich mitteilen, wie gut es uns hier geht.«
Diese staatsmännische Rede des kleinen Buxo erzeugte ein unglaubliches Gemurmel und Gebrummel. Der Elefant Sikki beantragte mit den Walrossen zusammen die nament­liche Abstimmung. Da ergab es sich denn bald, daß die sämmtlichen Vorschläge des kleinen Buxo mit einer kolossa­len Stimmenmehrheit angenommen waren. Buxo und Makka verneigten sich dankend, wobei ihnen dicke Thränen über die Wangen rollten. Der ganzen großen Gesellschaft traten nun ohne Ausnahme die Thränen in die Augen, denn was rührend ist, wird immer zu Thränen rühren.
Buxo und Makka lebten nun im alten Felsenschlosse selig und gemütlich bis ans Ende ihrer Tage. Jeden Tag spielten sie mit einem anderen Tiere, und alle Tiere waren lieb und gut zu den beiden Menschenkindern – besonders aber die großen Mastodons, die sehr bald eingesehen hatten, wie un­gerecht ihr hartes Vorgehen gewesen war. Der Elefant Sikki schämte sich beinahe, und das Nashorn starb sehr bald – und – wie man vermutete – blos aus Gram über seinen Zorn in der Generalversammlung. Der Pavian aus Südafrika wurde zum Hofmeister des Prinzen und das älteste Kängu­ruh zur Hofdame der Prinzessin ernannt – worüber sich alle Vier sehr freuten und innig miteinander befreundet blieben zeitlebens.
Der König Axular jedoch begann von der Stunde an, in der ihm der Brief seines Sohnes überreicht wurde, sofort ein anderes Leben. Er hat bis an sein Lebensende kein Tier mehr getötet. Wohl dachte er oftmals mit Wehmut an Buxo und Makka – aber er hielt die Trennung für eine gerechte Strafe. Buxo und Makka empfanden ebenfalls öfters Sehnsucht nach ihrem Vater, aber die Freundschaft der Tiere, die das alte Felsenschloß bewohnten, half den Kindern auch über die Wehmut hinweg.
»Strafe muß sein!« Dieses Wort des alten Elefanten Sikki, der in jeder Beziehung ein gerechter Elefant ist, kann nicht oft genug denen ins Gewissen gerufen werden, die immer wieder vergessen, daß die Tiere beinah ebenso gefühlvoll sind wie die Menschen.
Quäle nie ein Tier zum Scherz, Denn es fühlt wie Du den Schmerz.

 


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Revision 31-12-2022

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