Liwûna und Kaidôh

Paul Scheerbart

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Liwûna und Kaidôh

 

ngg_shortcode_0_placeholderEs schneit Jasminblüten.
Und ich schwebe in dem Jasminblütenschnee ganz langsam, als hätte ich Zeit —  viele Tausend Jahre nur so hinzuschweben in duftenden Blüten.
Betäubend ist der Duft, und es ertönt unter mir lautes Gelächter —  das wird immer stärker —  so stark wie wildes Donnern.
Der lachende Donner wird aber bald schwächer und verhallt in der Tiefe.
Und ich höre nichts mehr von dem grossen Lachen.
Es verschwinden auch die Jasminblüten —  die letzten fallen schnell hinunter.
Der Vollmond scheint mir ins Angesicht. Ich schwebe zwischen weissen flockigen Wolken, die ebenso vom Vollmonde beschienen sind wie mein Angesicht, höher und höher.
Es geht immerzu hinauf, und es geht so leicht; ich brauche nur die Fusszehen zu bewegen.
Der Mond wird kleiner und geht zur Seite als kleiner Stern.
Und dann sehe ich nur noch Sterne —  über mir —  unter mir —  und überall.
Schwarz ist der Himmel, und die Sterne sind alle zu sehen —  auch die kleineren.
Ich schwebe leicht durch die unzähligen schimmernden Sterne durch —  weiter hinauf in die dunkleren Räume, in denen nicht mehr so viele Sterne leben.
Es ist da so kühl.
Und mir ist so, als schwebe was neben mir.
Es sind leichte feine Gewänder —  weisse —  zarte.
Und ich frage leise:
„Wer ist bei mir?“
Und ich höre eine ferne Stimme sagen:
„Dein Weib ist bei Dir —  die Frau, nach der Du Dich gesehnt hast so lange lange Zeit.“
Und ich antworte still:
„Ich erinnere mich garnicht mehr, dass ich mich mal nach einem Weibe oder nach einer Frau gesehnt habe. Das hab ich wahrhaftig beinahe vergessen.“
Im weiten dunklen Himmel werden jetzt Farben wach.
Mit verwehten olivgrünen Wolkenschleiern beginnt es. Hinter den Schleiern entstehen dunkelgrüne Flecke, die rund werden und bald kleiner und bald grösser erscheinen. Und flockiges rosa leuchtendes Gewölk sinkt von oben dazwischen und hängt bald wie zerzauste Watte da —  so still wie alte Träume.
Aus allen Wolken fallen Bänder, die sich ringeln und immer dünner werden —  so dünn wie Haare. Blond sind die Haare; sie verlieren allmählich das Krause und hängen sich in schlaffen Strähnen über die dunkelgrünen runden Scheiben, die starren Augen gleichen. Die olivgrünen Wolkenschleier schwanken, als wärens Schaukeln. Das rosa leuchtende Gewölk hängt dazwischen ganz ruhig. Die blonden Haare zittern vor den grünen Augen.
Neben mir sagt nun eine mir sehr bekannte Stimme:
„Weisst Du immer noch nicht, wer bei Dir ist? Blick mich doch einmal an!“
Ich drehe den Kopf und sehe eine Frau neben mir; sie hat grosse meergrüne Augen. Ich weiss, wer es ist. Aber ich fühle keine Erregung; es wird nur noch stiller in mir.
Wir schweben oben durch das rosa leuchtende Gewölk zusammen empor —  immer höher. Sie bleibt bei mir.
Und die Farben verschwinden unter uns.
„Ich bin nicht so, wie Du denkst!“ sagt sie da plötzlich.
Ich bewege heftig meine Fusszehen und fliege hinauf wie ein Pfeil; die Sterne sausen neben mir runter, als wenn sie fielen. Ich bin sehr ungeduldig.
Doch meine Begleiterin bleibt an meiner Seite. Ich fühls; es geht langsamer.
Aus dem nachtschwarzen Himmel tauchen abermals farbige Wolken heraus, diesmal sinds purpurrote und goldene Wolken; sie ziehen sich in langen Streifen rund um den Raum, sodass ich die Empfindung habe, in einem schwarz— roten— golden gestreiften Bienenkorbe emporzuschweben.
Ich drehe meinen Kopf meiner Begleiterin zu und sehe, dass sie anders aussieht. Ihr Gesicht ist mir allerdings wiederum sehr bekannt; heisse braune Augen und rote Backen glühen mir wild entgegen.
Ich bewege wieder meine Zehen und schiesse oben aus dem Bienenkorbe raus.
Doch meine Begleiterin schwebt an mir vorbei, und ich erschrecke.
Sie ist jetzt so furchtbar gross und üppig wie eine Riesendame auf Jahrmärkten.
Sie schwebt dicht vor mir, und ich höre, wie sie leise sagt:
„So küss mich doch!“

ngg_shortcode_1_placeholderIhr Gesicht kann ich nicht sehen, ich sehe nur ihren breiten weissen Nacken und zwei lange braune Zöpfe, die auf einem gelben Seidenkleide hin—  und herpendeln.
Ihr Kopf ist mit meinem Kopf in der gleichen Höhe, und ich komm ihrem Rücken ganz nahe und greife mit der Linken in ihren vollen Arm. Doch die Hand geht gleich durch ihren ganzen Leib, und die Riesendame lacht wie ein Kobold.
Und sie sagt lachend:
„Ich bin doch nicht aus Fleisch und Blut. Was fällt Dir denn ein? Ich bin doch Liwûna. Und Du bist doch Kaidôh. Weisst Du das noch nicht?“
Ich muss lächeln und erwidre traurig.
„Also Kaidôh bin ich? Na ja, ich ahnte ja stets, dass ich was Andres sei.“
„Natürlich!“ ruft sie, „sonst könntest Du doch nicht so fein fliegen. Wir sind Beide aus sehr feinem Stoff; Luft ist plump wie Blei dagegen. Pass auf, was Deine lustige Liwûna machen kann.“
Dabei dreht sie sich um, zieht aus der Rocktasche ihres gelbseidenen Kleides zwei grosse Gewichte hervor, die viele Centner schwer zu sein scheinen, und hantelt mit den Centnergewichten, dass ihr die blauen Adern auf der Stirn und an den Schläfen anschwellen.
Ich frage sie, was das soll.
Da thun sich die Centnergewichte auf, und es fallen lauter Botokudenregimenter mit Schornsteinfegern untermischt aus den Gewichten heraus. Die Kerls sehen so klein und drollig aus, dass ich herzlich lachen muss.
„Gefall ich Dir jetzt endlich?“
Also fragt sie nun sehr rauh.
Und ich muss noch mehr lachen, bewege aber gleichzeitig wieder meine Zehen, um höher zu kommen.
Die Riesendame verschwindet unten, und ich denke mir, dass sie nicht so schnell fliegen kann —  da sie ja so dick ist. Doch ich irre mich, denn ich fühle sehr bald, trotzdem ich mit rasender Hast höher steige, ihre Nähe wie zuvor.
„Du entfliehst mir doch nicht!“ flüstert sie hinter mir —  mit einer ganz anderen Stimme.
Ich drehe mich rasch um und blicke in ein kleines feines sanftes Gesicht mit grauen Augen, die so ernst und milde mich ansehen —  wie ein guter Geist.
Und sie flüstert:
„Ich will so sein, wie Du es willst. Ist Dir das noch immer nicht genug?“
Es liegt so viel Sehnsucht in diesen Worten, ich werde weich und sage sanft:
„So schaff mir neue Welten —  ganz neue, die ich mir noch niemals ausgedacht habe und auch gar nicht ausdenken kann.“
Und ich höre die Liwûna erwidern:
„Liwûna thut Alles.“
Und dann verlässt sie mich.
In der Ferne höre ich sie rufen:
„Kaidôh! Kaidôh!“
Es wird Alles dunkel und zuletzt ganz schwarz vor meinen Augen.
Das Schwarze bleibt lange.
Allmählich wirds aber drüben an einer Stelle heller, und ich sehe einen Stern —  der sieht aus wie ein riesiger Diamant mit tausend feingeschliffenen Ecken und Kanten.
Und der Sterndiamant dreht sich um sich selbst.
Und seine Farben brennen.
Mächtige prächtige Lichtkegel in allen möglichen Farben drehen sich zuckend und zitternd durch die schwarze Nacht.
Und die Farben brennen sich mir ins Auge, dass ich geblendet werde.
Diamantenbrand!
Ein buntes ecken—  und kantenreiches Farbenfeuer mit glitzernden Flächen, die sich immerfort durcheinander schieben.
Und die spitzen Funken sind so grell.
Ich muss die Augen zumachen.
Ich halts nicht aus.
Ich fühle, dass Liwûna mich fortzieht —  ich bewege krampfhaft die Zehen.
„Du kannst das nicht aushalten,“ sagt sie mitleidig.
Und ich werde sehr unruhig; Angstgefühle klemmen mir die Brust zusammen.
„Ich kann das nicht aushalten,“ spreche ich tonlos nach.
Wir schweben weiter. Ich kneife die Augen fest zu; sie thun mir weh. Und dann bitte ich die Liwûna, mir andre Welten zu zeigen, die ich wenigstens ansehen kann.
Sie redet mit sanfter Stimme lange Zeit auf mich ein, und ich wage es danach, wieder die Augen zu öffnen.
Ich schwebe in einem zerklüfteten schwarzen Gebirge. Die steilen Felswände sind so hoch, dass ich oben Stein und Himmel nicht mehr unterscheiden kann. Der Himmel wird immer dunkler. Und unter uns ist alles sehr tief, und in der Tiefe ziehen sich graue Nebelstreifen wie Schlangen hin.
„Langsam!“ ruft mir meine Begleiterin zu.
„Ich weiss,“ fährt sie fort, „dass Du Etwas suchst, aber ich weiss auch, dass Du noch nicht weisst, wie das aussieht, was Du suchst.“
„Ja,“ versetz ich rauh, „ich weiss nicht, was ich suche. Dass ich aber Etwas suche, das weiss ich. Ich suche!“
Es umweht mich kühlende Luft. Liwûna sehe ich nicht, ich fühle nur ihre Nähe —  und das thut sehr wohl.
Da entdecke ich in der schwarzen Felsenwand einen Spalt, der hell ist. Ich nähere mich dem Spalt und blicke in ein grünes Wunderreich.
Lauter grüne Pilze! Sehr grosse Riesenpilze mit wunderlichen Pilzdächern —  gezackten und gespreizten! Und auch viele kleinere Pilze in allen denkbaren Grüns. Viel giftiges und viel glänzendes Grün —  helles und dunkles —  totes Grün und ein Grün, das so voll echter Lebensgier ist. Diese grüne Welt kann ich ruhig anschauen. Das Auge wird beruhigt durch das viele Grün.
Kleine weisse Elephanten mit hellgrünen Libellenflügeln fliegen emsig von Pilz zu Pilz. Und es strömt überall ein scharfes Licht aus dieser grünen Pilzenwelt. Die weissen fliegenden Elephanten krümmen drollig ihre Rüssel, als wenn sie lachen möchten. Sie lachen aber nicht —  ich kanns wenigstens nicht hören. Vielleicht lachen sie innerlich —  wie die falschen Narren.
Ich wende mich ab und schwebe weiter durch eine grosse schwarze Schlucht.
Die schwarzen Felsen sind nur ganz matt erleuchtet. Das Licht kommt aus der Tiefe, in der sich die grünen Nebel zusammenballen wie Fäuste. Oben sind keine Sterne. Der Himmel ist so schwarz wie die Felsen.
Ich möchte hinaus aus der schwarzen Schlucht. Liwûna will aber nicht. Sie hat jetzt ein so gelbes glattes hartes Antlitz, als wärs aus Elfenbein. Und sie zeigt mit der Rechten auf ein rundes Loch in der Felsenwand. Ich sehe durch und —  wieder was Andres.
Da drinnen ist Alles bunt und glitzernd. Eine Glanzwelt! Blumen sinds nicht, Blätter auch nicht. Es sieht aus, als seien da Milliarden Schmetterlingsflügel durcheinander geschüttelt. Es sind aber keine Flügel, denn Alles scheint sehr dick zu sein. Die blauen und roten Töne sind so verschiedenartig wie die violetten und gelben. Und sie sind gleissend hell wie durchsichtiges Email, das ich so liebe. Und die Muster sind zierlich verschnörkelt mit krummen Hörnern und gekräuselten Bändern. Goldene Riesenkäfer kriechen über die Emailwälder. Die Käfer kriechen blos, fliegen nicht.
„Suchst Du immer noch?“
Also fragt neben mir die Liwûna.
Und ich weiss nicht, ob ich noch suche.
Mir ist wie in einem wirren Traume. Ich habe so viel vergessen, und ich möchte doch so viel behalten.
Liwûna ruft drohend:
„Kaidôh! Kaidôh!“


ngg_shortcode_2_placeholderIch schrecke zusammen und taste mit den Händen um mich, doch ich fühle nichts. Auch der schwarze Stein lässt sich nicht anfühlen; die Hände gehen ohne Empfindung durch. Ich kehre der Glanzwelt den Rücken, bewege wieder die Zehen und schiesse in die Höhe —  immer höher —  aber aus der schwarzen Felsenschlucht komme ich nicht raus. Plötzlich giebts einen Krach, und auf allen Seiten fällt was runter, und ich habe das Gefühl, dass alle schwarzen Felsen in die Tiefe fallen.
Und ich blicke in eine Spiegelwelt.
Lauter Spiegelwände! Grade und krumme Spiegel —  in verschiedenen Winkeln stehen sie zu einander. Oben sind auch Spiegel kantenreich durcheinander gestellt —  unten nicht.
Ich sehe Liwûna in den Spiegeln viele Tausend Mal. Sie hat noch ihr Elfenbeingesicht —  grüne Augen funkeln darin. Sie starrt mich an allen Ecken und Enden wie eine richtige Medusa an.
Neben der Liwûna erblicke ich ein anderes Wesen.
„Das ist Kaidôh!“ sagt sie neben mir.
Kaidôh sieht ernst aus und hat eingefallene Augen, die grau sind, vergrämt und ruhlos umherschweifen wie die Augen der Diebe.
Kaidôh nickt der Liwûna zu und spricht zu ihr in all den Tausend Spiegeln.
Was spricht Kaidôh?
Seine Stimme tönt hell und splitternd —  es ist aber nur eine einzige Stimme.
Er sagt langsam und hört sich dabei:
„Das Glück ist stets in dem Andern. Deswegen müssen wir der Andre werden. Wir müssen nach dem Andern suchen. Wenn wir suchen, ohne zu wissen, was wir wollen, so suchen wir immer ein Andres —  das ist das Unbekannte —  das Fremde —  das ist es, was wir herbeisehnen. Und wir sehnen uns nach der grossen Überführung. Für gewöhnlich verstehen wir uns nicht. Es ist jedoch kein einfaches Hinübergehen —  wir müssen hinübergeführt werden —  ins Andre hinübergeführt werden —  von dem Geist, der uns immer begleitet. Das Eigene müssen wir vergessen —  aus uns herauskommen —  nur dadurch kommen wir in uns hinein. Eine sehr drollige Geschichte —  aber auch eine sehr ernste —  so schauerlich ernst wie der Unsinn, der uns als Wahrheit erscheint. In den Spiegelwelten sehen wir die Wahrheit im Unsinn und auch den Unsinn in der Wahrheit. Alles ist verzerrt und verschoben —  Fratzenreich! Aber so ist immer die Welt, wenn sie sich uns von sehr vielen Seiten zeigt. Wir müssen sie im Ganzen fühlen —  fühlen —  im Ganzen.“
Liwûna führt den Kaidôh fort, streichelt seinen Kopf, der ihm weh thut —  so furchtbar weh. Kaidôh weint —  weint.
Liwûna weint mit —  in allen Spiegeln.
Und sie führt ihren Kaidôh weiter durch die schwarze Schlucht, die wieder da ist —  durch die schwarze Felsenschlucht, in der keine Sterne leben —  in der nur ein graues Dämmerlicht heraufdringt aus der Tiefe —  aus den Nebeln, die da leuchten.
Und die Liwûna führt ihren Kaidôh hinunter in das stille Nebelreich, in dem die grossen Schläfer träumend schlafen.
Das Reich der Schläfer ist sehr sehr gross. Sie liegen unten unter den Nebeln mitten in der freien Luft —  umhüllt von feinen perlgrauen Schleiern. Die Nebel bilden den Himmel der Schläfer. Sie liegen neben—  und untereinander —  aber berühren thun sie sich nicht. Die Luft ist ihr Bettzeug. Die feinen perlgrauen Schleier hängen schlaff wie die Zweige der Trauerbirken; einige Schleier zittern und bewegen sich, als würden die Körper von tiefen Seufzern durchzogen.
Es schlafen da Riesen und Zwerge und Wesen mit seltsamen Gliedern, Tiere mit tausend Köpfen und Kinder mit einem Kopf, der grösser ist als ihr Leib. Alle schlafen und träumen —  einzelne schnarchen ein bischen —  doch nicht zu laut. Zuweilen bewegt sich ein Fuss oder ein Arm. Lange Haare hängen an manchem Haupt —  und die Haare bewegen sich —  ganz wenig im Takte wie die langen Perpendikel alter Uhren. Es ist so still im Reiche der Schläfer.
Und die Liwûna erzählt ihrem Kaidôh von den Träumen der Schläfer, und sie führt ihn dorthin, wo Kinder und Knaben träumen. Und die Beiden legen sich über den Träumenden genau so in die Luft wie die Kinder und Knaben.


ngg_shortcode_3_placeholderUnd leise flüstert die Liwûna:
„Alle, die hier im Nebelreiche liegen, hatten so viel geträumt —  ihr ganzes Leben hindurch. Im Traume schwebten sie durch viele Sonnen Monde und Sterne. Dann aber kam eine Nacht, in der sie nicht mehr von all den Glanzwelten träumten. Ihre Freude am Traumleben war zerstört —  von einer unsichtbaren Hand. Und die Nacht wurde finster. Sie lagen da in banger Pein, und ihnen wurde so schwer. Sie fürchteten sich auf einmal vor einer schweren Stunde; ihnen war so, als käme das grosse Schweigen heran. Und sie hatten Angst vor dem grossen Schweigen —  Angst vor dem grossen Sterben. Und dann dachten sie an die ersten Jahre ihres Lebens —  an Eltern Freunde und Frauen —  an Kinder und Greise —  an alte Möbel und alte Stuben, die garnicht mehr da waren —  oder zerfielen wie altes Gemäuer am Meeresstrande, wenn die grossen Wogen unaufhörlich gegenschlagen. Und die Gedanken an das Vergängliche machten so schwer; die schweren Hände wollten noch was greifen —  aber sie wussten nicht was. In der Finsternis nur bleiche Angst und Herzenskrampf.“
Und dem Kaidôh wird zu Mute, als träume er noch einmal einen langen Kindheitstraum; in dem Traume entwickelt sich Alles sehr schnell, der Träumende wird älter und anders und empfindet zugleich, dass er das Älter—  und Anderswerden nur träumt.
Und die Liwûna fährt leise fort:
„Und da packte die Traurigen, als die schweren Stunden allnächtlich wiederkehrten, ein neues Empfinden an. Sie näherten sich langsam dem grossen Geiste, der überall ist —  auch in ihrer Brust. In seiner Nähe fanden sie ihre alte Traumruhe wieder, und sie vergassen ihre Angst und gaben sich in der geheimnisvollen Stille der Finsternis ganz dem Grossen hin, der keinen Namen hat —  der das Ewige ist —  der bleibt, wenn auch alles vergeht. Ging es Dir nicht ähnlich, mein lieber Kaidôh?“
Ein paar Kinder öffnen unten ihre kleinen Fäuste und irren mit den kleinen Fingern durch die Luft.
Kaidôh träumt noch und empfindet das Verwirrende und Erschöpfende des Traumes; er möchte aufwachen, kann aber nicht —  es liegt sich auch so gut und weich.
Es ist so still im Reiche der Schläfer. Kaidôh lächelt und nickt, er wundert sich, dass Liwûna so viel weiss, und während er von schwankenden Kornfeldern träumt, sagt er nachdenklich:
„Ja! Die Sehnsucht nach der zerstörten Vergangenheit ist die schwerste Sehnsucht; sie gebiert die bittersten Stunden der Wehmut. Und alles Andre, was Liwûna sprach, stimmte gut zusammen —  wusste sie noch von mehr?“
Seine ganze Vergangenheit zog vor ihm vorüber.
„Ich weiss noch,“ versetzte Liwûna schnell, „von Deinem lautlosen Gebet.“
„Sei still!“ sprach Kaidôh, „lass uns weiter schweben. Wir wissen nicht, ob wir die Schläfer stören —  sie wollen doch weiter träumen.“
Und die Beiden erhoben sich, indem sie mit den Armen um sich griffen, reckten ihre Glieder und verliessen das Nebelreich —  schwebten empor und weiter durch die schwarze Schlucht, in der die Dämmerung so schwer an den Steinen hing wie die schweren Stunden, in denen Alles zu Ende zu gehen scheint.
Kaidôh klagte über die Schwere.
Da wandte sich Liwûna zur Rechten und schwebte durch ein gewaltiges Felsenthor.
Kaidôh folgte.
Und blaues Licht umfloss die Beiden.
Das blaue Licht leuchtete wie Geisteraugen. Aber es umfloss nicht blos Liwûna und Kaidôh —  es hing sich auch an viele schwebende Köpfe, die wie blaue Schneeflocken aus der Lichthöhe herunterrieselten. Die schwebenden Köpfe waren auf der Schädelplatte sehr stark behaart, und alle hatten Vollbärte, die den ganzen Hals verdeckten. Und das blaue Licht hing an den Köpfen, als ob es sie herunterzöge.
Liwûna sagte, das wären lauter Denker —  grosse Denker —  weises Volk! Und in den Haupthaaren der Denker fing es plötzlich zu brennen an; buttergelbe Flammen schlugen aus den Hirnschalen heraus, und durch die brennenden Haare entstand ein grosser Feuerregen —  buttergelb war der. Liwûna schwebte mitten in den Feuerregen hinein; die gelben Funken rieselten knisternd um die perlgrauen Gewänder, die so dünn erschienen wie feinste Schleiergebilde.
Kaidôh erschrak; er glaubte, die Liwûna müsste gleich Feuer fangen und brennen wie die Hirnschalen der Denker.
Und besorgt flog der Erschrockene zu Hilfe.
Doch seine Freundin wandte sich lächelnd um und meinte lustig:
„So ganz gleichgültig scheine ich Dir also nicht mehr zu sein. Das freut mich. Aber Angst brauchst Du meinetwegen nicht auszustehen. Mir schadet das Feuer der Denker ebenso wenig wie Dir. Warum wunderst Du Dich nicht, dass wir garnicht Feuer fangen können?“
Kaidôh gab keine Antwort, und sie flogen rasch durch die brennenden Köpfe durch in ein grosses Blumenreich.
Berauschender Duft steigt da den Beiden in die Nase. Der Himmel ist hell und weiss wie Kreide. Doch unten blühen Riesenblumen —  so hoch wie Berge —  Blütenkelche so tief wie Thäler —  Staubfäden wie schwankende Leuchttürme. An einer langen Mauer hängen Weintrauben, die so gross sind wie dicke Bündel aufgeblasener Luftballons.
Ringsum ein Urwald aus Riesenblumen!
Glockenblumen, die grossen Tempelhallen ähneln! Rosenstengel, die nicht von tausend Gorillas zu umspannen wären! Lilienkelche —  so tief wie Kellergewölbe in alten Burgen.
Lauter farbenstrotzende Blumenwälder unter dem weissen Kreidehimmel! Sehr viele dicke Blumen haben Blütenblätter —  die sind gemustert —  wie zusammengeknotete Salamander und Schlangen. Manche Blüten bestehen aus riesenhaften Schmetterlingsflügeln —  faltenreich geknillt, verbogen und verschroben sind die. Und Alles ist schrecklich bunt und so sammetartig. Der Blütenstaub liegt an vielen Stellen so dick, dass er farbigen Schneemassen gleicht.
Eine Riesen— Gärtnerei!
Sie schweben langsam über den grossen Blumen dahin und blicken immerzu staunend in die Tiefe.


ngg_shortcode_4_placeholderUnd erst nach geraumer Zeit brach Kaidôh das Schweigen.

„Früher,“ bemerkte er, „kam mir die Welt fast immer drollig vor; ich musste über Alles lachen. Und jetzt empfinde ich nicht den geringsten Lachreiz, obwohl diese Riesenblumen einen ernsten Eindruck kaum erzeugen. Wie kommt es, dass ich so wenig lache? Kannst Du mir das erklären?“
Liwûna lächelte und sah recht zufrieden aus. Sie hatte jetzt hellbraune Augen und strohgelbe Haare. Sie erwiderte:
„Die Welt wäre sehr eintönig, wenn sie fortwährend drollig wirken wollte. Sei doch froh, dass sie Dir mal anders kommt. Das Trübe ist so selten unerträglich, und es ist dabei so notwendig an der Pforte der Klarheit. Diese würde uns ohne jenes garnicht als Klares zum Bewusstsein kommen. Und Du weisst doch: nur das Klare lacht hell! Ich freue mich übrigens, dass Du Dich schon mit mir unterhalten magst. Aber das Lachen, von dem Du vorhin sprachst, lernt man zumeist nur dann, wenn man lange Zeit von vielen verbissenen Möpsen umgeben ist —  und das wird denn garkein helles Lachen. Den Möpsen hab ich Dich nun entführt —  die siehst Du nie mehr wieder —  daher lachst Du nicht mehr so —  wie Du’s gewöhnt warst. Du hast es ja garnicht nötig, über die Verbissenheit zu lachen; die liegt Ja hinter Dir.“
Liwûna lachte nach dieser Rede so laut und hell, dass aus allen Blütenkelchen ein tausendfaches Echo herausschallte. Das Echo war so fein und vielstimmig, dass die Beiden lange voll Entzücken dem Wohllaute lauschten. Und der stumpfe weisse Kreidehimmel ward klarer.

Es tauchten unten aus der riesigen Blumenwelt alte Tempelruinen empor; sie gaben dem Gespräch eine andre Richtung.
„Sieh mal,“ sagte Kaidôh, „hier entwickelt sich in mir wieder der Schmerz um die zerstörte Vergangenheit. Ich vermag es nicht, diesem Schmerze zu entfliehen. Es ist keine trübe Wehmut, die nur im eingebildeten Unmut weh thut —  es ist echter richtiger Schmerz.“
„Der wird Dir wohl ganz dienlich sein.“
Also lautete Liwûnas Antwort.
Und Kaidôh hatte das Gefühl, als tasteten alle Weltwesen wie die Blinden in der Welt umher —  Alles schien ihm unsichere Tasterei zu sein.
Die Ruinen konnte er garnicht überschauen —  so gross waren sie. Sie waren auch stellenweise so überwuchert von Dorngestrüpp. Und er empfand es sehr schmerzlich, dass Liwûna so schnell vor ihm weiterflog und sich garnicht nach ihm umdrehte. Er hätte so gerne die Ruine länger angesehen, um einen Überblick zu gewinnen. Es ging aber nicht; die Liwûna flog zu schnell.
Bald zogen auch weisse Wolken unter seinen Füssen vorüber und verhüllten die ganze Blumenwelt und alle Ruinen.

Als sich die weissen Wolken wieder auflösten, lagen mächtige schwarze Felsen unter ihnen. Und als sie nach oben blickten, waren auch oben schwarze Felsen.
Die Beiden schwebten durch eine grosse schwarze Felsenhöhle, in der es immer dunkler wurde.

„Ein Blick in den Sternenraum,“ rief Kaidôh, „ist doch das Grösste in dieser Welt. Warum, Liwûna, zeigst du mir keine Sternenwelten? Sind die alle zu gross für mich?“

Es wurde ganz dunkel. Und Liwûna war nicht mehr zu sehen. Sie rief aus weiter Ferne:
„Kaidôh! Kaidôh!“
Das klang so voll Jubel, dass er gleich hinstürmte; er bewegte dabei so heftig die Fusszehen, dass sie ihm weh taten.
Als er wieder die Nähe seiner Freundin fühlte, hörte er sie leise rufen:
„Duck Dich, Kaidôh! Hier ist der Ausgang! Komm! Komm!“
Er folgte und sah plötzlich rauschende Lichtfülle und —  unzählige funkelnde Sterne.
Und Kaidôh sah hinab —  und unten glühten in grausiger Tiefe unzählige rote Sterne —  die bewegten sich alle hin und her.

Und Kaidôh sah hinauf —  und da drehten sich Sterne um sich selbst —  die schimmerten so wie Perlen.
Und Kaidôh sah gradaus und rechts und links —  und da wanden sich unzählige bunte Sterne durch den Raum —  die hatten eckige kantige schlauchartige und linsenförmige Gestalt.

Und Kaidôh sah hinter sich und erblickte eine riesige schwarze Felswand —  die ging nach oben, nach unten und nach allen Seiten der Fläche steil und grad als glatte Platte ins Unendliche.

Liwûna schwebte nicht weitab von Kaidôh. Beide liessen sich seitwärts wehen von einem sanften Himmelswinde.

„Jetzt kommt ein Stern ganz nahe vorbei!“ rief die Liwûna.

Und es schwebte durch die Luft ein Stern heran, der wie ein plumpes Ungeheuer aussah —  wie ein höckriger Schlauch. Eine ungeheure, unregelmässig nach allen Seiten aufgequollene Weltenmasse —  mit kurzen bunten Rüsseln —  bunten Raupen ähnlich! Wie Fühlhörner bewegten sich die Rüssel. Und dicke spitze Stacheln bedeckten den ganzen Leib des Sterns. Einen Kopf hatte das Vieh nicht; wo man vorn den Kopf vermuten konnte, kam weisser Dampf aus vielen Löchern hervor. Aus einzelnen Rüsseln wirbelten ebenfalls weisse Dampfwolken nach allen Seiten. Der Dampf kam stossweise und ging schnell auseinander.
Während das Ungeheuer vorüber flog, bewegten sich seine vielen Fühlhörner, die besonders auf den Höckern sassen, sehr heftig, als wenn sie die Nähe von feindlichen Wesen witterten.
Die plumpe Schlauchmasse, die sich in der Form immerfort veränderte und zuweilen einem zerknillten Kopfkissen ähnelte, drehte sich plötzlich um sich selbst und rollte sausend schnell davon, wobei sich viel weisser Dampf entwickelte, der wieder rasch auseinander ging.
Und Kaidôh wollte wieder seine Zehen bewegen —  es gelang aber nicht. Er blickte hinunter —  und —  oh! —  seine Füsse waren so tief, dass er sie kaum noch zu erkennen vermochte.
Kaidôh war grösser geworden —  und seine Füsse und seine Zehen ebenfalls.
Er musste laut auflachen. Doch Liwûna rief heftig aus:
„Kaidôh! Das finde ich nicht hübsch, dass Du über Deine Grösse lachst! Du hast doch immer grösser werden wollen! Und jetzt, da Du’s bist, ist es Dir wieder nicht recht? Ich glaube, Du bist sehr undankbar und sehr launenhaft.“


ngg_shortcode_5_placeholder„Ich lache doch,“ erwiderte Kaidôh, „nur über die Grösse meiner Fusszehen, die ich jetzt garnicht regieren kann.“
„Die brauchst Du auch nicht zu regieren,“ versetzte die Liwûna, „lass Dich nur von den Wandwinden treiben.“
„Was sind Wandwinde?“ fragte Kaidôh, „ich verstehe nicht, was Du unter Wandwinden verstehst.“
„Tu doch nicht so,“ gab da die Liwûna spitz zurück, „als ob Du Alles verstehen möchtest. Ich kenne Dich! Sei still! Es kommen neue Sterne.“
Und die kamen auch näher —  es waren laute Glassterne.
Kaidôh brummte: „Sie wird dreist!“
Die Glassterne brummten ebenfalls —  nur anders. Es waren nämlich viele hohle Sterne dabei mit Löchern, aus denen seltsame dumpfe Töne in die Weltlüfte drangen.
In den hohlen Sternen leuchtete ein grünes Licht, sodass sich die verschnörkelten Formen der Glasgebilde haarscharf vom schwarzen Welthintergrunde abhoben.
Manche Sterne ähnten aufgeblasenen Fröschen, denen die Beine verloren gingen —  und andere Sterne starren Tintenfischen. Dazwischen drehten sich helle regelrechte Kreisringe, in denen viele helle Farben schimmerten. Auch schwebten in der Nähe Würfel und Oktaëder, deren Flächen glitzerten, als wären sie mit Phosphor bestrichen.
Liwûna sagte leise:
„Glaube nicht, dass das Alles Glas ist. Es sieht nur so aus.“
Und Kaidôh sah Millionen kleiner Tiere auf den Glassterne hin—  und herkrabbeln.
Einzelne der Sterne funkelten so stark, dass dem Kaidôh all die Farbenspiele durcheinander gingen. Er konnte oft nicht folgen.
Drollig wirkten grosse Ketten, deren Glieder aus vielen vielkantigen blauen Säulen bestanden.
Jedoch Kaidôh bemerkte bald, dass seine Augen immer stärker wurden. Er fühlte, dass er nicht bloß grösser sondern auch anders wurde. Leider wusste er nicht, ob er Grund habe, sich über das Anderswerden zu freuen.
Liwûna schwebte weitab wie ein grosser grüner Schleierstern.
Und nun tauchten smaragdgrüne Balkensterne aus dem Dunkel heraus —  die waren ganz mit grünen Wäldern bedeckt, die wie dunkles Moos auf den Balken sassen und wie Smaragde leuchteten. Kaidôh konnte erkennen, dass das grüne Licht unzähligen kleinen Häusern sein Dasein verdankte; die Häuser —  die reinen Glühwürmer —  lagen in den Wäldern so friedlich eingebettet —  wie junge Katzen in Waschkörben —  wenn es dunkelt und das Katzenauge funkelt.
Die grössten Balkensterne setzten sich aus sehr vielen Balken zusammen; die kleineren Balken waren fast alle in rechten Winkeln an die grösseren geleimt. Und die vielen rechten Winkel trugen so viel Berechnetes in sich, dass man glauben mochte, sehr fein ersonnene Weltwerkzeuge vor sich zu haben. Kaidôh dachte in dieser Richtung und meinte dann zu sich selber sprechend:
„Wozu ich mir über diese Sterne den Kopf zerbreche! Man kann sich noch so sehr verändern —  etwas bleibt doch immer in uns: jene Genuss hemmende Denkerei! Aber sie wird wohl nötig sein —  sonst würde man wohl öfters vor purer Seligkeit platzen.“
Doch die Gedanken waren bald verscheucht; Raketensterne sausten vorüber —  fix wie Kometen —  zischend und rauschend.
Wie unheimliche Feuerspinnen kamen sie angerannt —  in ihren Beinen züngelten zuckende Glutquallen. Bunte Augen sassen den Raketensternen auf den Zehen. Einige Sterne ähnelten glimmenden Knochengerüsten —  und andre wilden Aalen.
Sodann prasselten Feuergarben aus den Sternleibern heraus; blaue und grüne Feuertropfen flogen hinunter und hinauf. Lange gewundene Feuersäulen —  Riesenfinger —  bogen sich hinüber zu den blauen Feuertropfen und durchstiessen die, so dass sie wie Ringe auf die roten Feuersäulenfinger hinaufglitten.
Kaidôh fuhr oft erschrocken in die Höhe, da ihm das feurige Spinnengebein recht nahe trat.
Eine ungeheure wie Quecksilber zitternde Feuerschlange schloss den raschelnden Zug.
Der letzten Schlange sassen auch ein paar grüne und blaue Feuerringe auf dem Leibe. Dieser Leib —  rotglühendes Eisen —  wand sich und zuckte, als läg er in heissen irrsinnigen Fieberkrämpfen.

„Wenn man die Welt,“ flüsterte Kaidôh, „nicht mehr wiedererkennt —  dann ist wirklich Alles anders. Und ich erkenne diese Welt nicht wieder, denn ich habe sie noch nie gesehen. Ich erkenne mich nun auch selber nicht mehr. “
„Du wolltest doch,“ fiel da lebhaft die Liwûna ein, „unter allen Umständen das Neue und das Andere. Ich fühlte sogar, dass Du das wolltest. Jetzt hast Du das Neue und das Andere —  und jetzt ist es wiederum nicht recht. Ich werde Deine Wünsche bald unbeachtet lassen, denn Du willst offenbar noch Etwas, von dem man sich nicht einmal im Traume eine Vorstellung machen kann. Was Du sagst und empfindest, ist garnicht wichtig für Dich. Deine Gelüste sind Dir selber ein Rätsel. Kaidôh fühlt nur, dass er Garnichts fühlen kann.“
„Das mag stimmen!“ brummte der grosse Kaidôh.


ngg_shortcode_6_placeholderAber zum Weiterreden kams nicht. Unter ihnen schwebten schon wieder neue Weltgebilde —  die Schalensterne in allen möglichen Muschelformen mit krummen Schnäbeln.
In den Tiefen der vielen Schalen blitzte es wie von Brillantensplittern, und bei dem Blitzen bemerkte Kaidôh unter den krausen Rändern der Sterne ein tolles Weltgewürm, das grossen wackelnden Schornsteinen nicht unähnlich schien.
Und die Trompeten—  und Trichtersterne gesellten sich mit den Schneckensternen auch zu den Weltschalen.
Das ward ein mächtiges Blasen und Brummen, Getute und Geschnarre und Gepfeife.
Wie Brummkreisel drehten sich die Trichter. Die Schnecken drehten sich ganz langsam —  es waren nur die Gehäuse.
Und lange Glockenketten schaukelten und wackelten wie fliegende Guirlanden mitten durch, dass die andern Schalen ausbiegen mussten.
Das dumpfe Gebrumme der Glocken klang so alt, als stäken lauter längst verfallene Welten in den Glocken.
„Hörst Du,“ sprach Liwûna, „mit den Glockentönen steigt wieder eine alte Zeit in Dir herauf. Ja, das Neue macht es nicht. Ich will Dich verstehen. Dazu bin ich ja da.“
„Aber das Alte,“ rief Kaidôh, „ist wieder so furchtbar schmerzhaft. Es lähmt die ganze Lebenskraft.“
„Es soll,“ gab da leise seine Freundin zurück, „die Freuden dämpfen. Das Alte ist beim Weltgenuss so nötig wie das Gedankenspiel. Ist Dir Beider Daseinsrecht nicht klar? Wenn Dir die Erinnerungsschmerzen über den Kopf wachsen, dann musst Du allerdings sterben. Das ist schon richtig. Doch mit jedem Tode sterben auch die Erinnerungen. Und ist das nicht auch gut? Wenn Etwas ganz stirbt —  stirbt immer viel Schmerz zu gleicher Zeit mit. Ja —  jedes Sterben ist eigentlich nur ein Sterben von Schmerzen.“
Kaidôh klatschte in die Hände und lachte, als verstände er auf einmal die ganze Welt von oben bis unten.
Und aus den Trichtern, Glocken, Schnecken, Muscheln und Trompeten scholl wieder ein tausendfaches Echo, das ein Weltlachen war, empor in den endlosen Raum. Das Echo hing blos nicht ordentlich zusammen —  als wärs ein Echo von Liwûnas Worten.
Die Wandwinde bliesen gegen die beiden leichten Riesengeister an, dass sie weiter flogen.
Liwûnas Grösse entsprach der des Kaidôh, so dass dieser seine Begleiterin lange anschaute; eine so grosse Dame hatte er noch nie gesehen. Sie hatte langes pechschwarzes Haar mit einem Rubindiadem, ihr Gesicht war weiss wie Marmor, und aus den schwarzen Augen strömte ein grosser Glanz, der auch die nackten weissen Arme ganz hell machte. Öfters flackerten die grossen Augen, als rasten grosse Sonnen drinn.
Die Schatten der beiden Riesengeister gleiten auf der spiegelnden Wand wie zwei fliegende Pfeile dahin.
Und rasselnd steigen aus der Höhe abermals Sterne herunter —  durchsichtige Mühlenräder sinds! Sie drehen sich und lassen alle die eine Seite sehen; die Scheibe ist erst einförmig —  dann rund —  und zum Schluss wie am Anfange.
Und aus den Radreifen schlagen keilförmige Scheinwerfer raus —  blaue gelbe und orangefarbige —  die drehen sich durch den ganzen Himmelsraum, als wärens Speichen von Riesenrädern —  farbige Speichen. Und die Speichen drehen sich so schnell, dass Kaidôh dem flirrenden Farbenwirbel nicht mit den Augen folgen kann.
Er dreht sich um —  und erblickt in der grossen schwarzen Felsenwand, die überall glatt wie ein Spiegel ist —  das Spiegelbild der Rädersterne. Im schwarzen Spiegel sind die blauen gelben und orangefarbigen Streifen gedämpft. Kaidôh kann nun Alles von dem bewegten Farbenbilde in sich aufnehmen —  die Helligkeit nimmt allmählich immer mehr ab.
Und dann wirds wieder stiller in der Spiegelwand —  andre Sterne erscheinen —  Blattlappengebilde, die an vielen Stellen phosphorescieren —  was ganz unheimlich in der schwarzen Spiegelwand wirkt.
Liwûna und Kaidôh sprechen über die verschiedenen Arten der Schwärmerei in kurzen abgebrochenen Sätzen. Und nun folgen noch mächtige Wassersterne, deren Wogen nach allen Seiten hoch in die Höhe gespritzt sind —  man könnte sie für Zinngebilde halten. Die Wassersterne sind aber nicht alle so wie Zinn —  sehr viele sind rot wie Blut —  zwei ganz grosse sind wie Gold.
Die beiden Riesengeister sprechen gegen die Felsenwand, ohne sich umzudrehen, vom Müdewerden. Dazu haben sie aber keine Zeit, denn jetzt wirds ganz bunt im Felsenspiegel —  als schwebten Millionen Laternen durchs grosse All.
Kaidôh wird neugierig und wendet endlich den Kopf.
„Die Rauschlust kommt immer wieder!“ schreit er wild —  denn er sieht jetzt nicht blos die bunten Laternen —  er sieht alle Sterne, die bisher vorbeizogen, noch einmal —  auf ein Mal.
Kaidôh ist abermals noch viel viel grösser geworden —  er blickt jetzt in einen gewaltigen Sternwirbel und erkennt Alles.
Die Trichtersterne und die Wassersterne —  die Raketensterne und alle die andern wirbeln da im Raume herum, als führe ein Sturm durch Sonnenstäubchen.
Jetzt kann sich Kaidôh nicht mehr halten, er bewegt seine Zehen und will hinein in das glänzende schauerliche Sternenmeer.
Und er kann seine Zehen wieder regieren.
Und er stürzt sich in den Sternwirbel —  und schreit —  und schreit!!
Seine Brust dehnt sich weit aus, und ihm ist, als gingen all die vielen Millionen Sterne in seinen Leib.
Und er lacht wie ein Gott —  und schreit —  und schreit.
Liwûna kann ihm kaum folgen.
Und dem Kaidôh ist so, als setzten alle Sterne noch mehr Grösse an ihn ab —  immer mehr —  immer mehr!
Jetzt endlich fühlt er Welten in sich — Welten!
Und er bewegt die Zehen —  und schiesst durch den Wirbel —  und kreischt auf —  in verrückter Seligkeit —  und —  und —  weiss nichts mehr von sich. Liwûna folgt ihm mit gesenktem Haupt und führt ihn hinaus aus dem Sternwirbel in eine kühlere Weltgegend.

Und langsam wird Alles anders.
Und mir ist so, als wenn ich langsam erwache —  aus wirren wüsten Träumen, und ich frage
leise:
„War ich Kaidôh?“
Liwûna —  das ungeheure Riesenweib neben mir—  lächelte und nickte —  und sprach sanft:
„Du bist immer noch Kaidôh!“
Und ich bebte, als hätte sie mir was Furchtbares gesagt.
Wir schwebten wieder im stillen Raume —  aber die Sterne waren nicht rund —  sie waren alle feine kleine Striche —  nur wenige dickere Striche sah ich.
Kühle Lüfte wehten um meine Stirn —  und ich wurde wieder ruhiger.
Die feinen kleinen Striche —  waren roth wie Blut —  und der ganze Himmel schwarz —  wie die Felsenwand —  die weit hinter mir liegt.
Ich suche was mit der linken Hand
Liwûna lächelt und sagt: „Du suchst wieder was!“
„Ich suche!“ sage ich.
„Ich will noch mehr —  noch Grösseres!“ fahre ich fort.
Und Liwûna bittet ihren Kaidôh, weiter zu fliegen.
Er fliegt weiter.
Und wieder neue, wieder andre Wunderwelten thun sich vor ihm auf; die sind aber etwas kleiner —  denn Kaidôh ist im Sternenwirbel noch mehr gewachsen —  ins Ungeheuerliche hineingewachsen.
Dem Kaidôh ist so, als wäre er in ein grosses Schneegestöber geraten. Es sind aber nicht Schneeflocken, die ihn jetzt umschweben —  es sind grosse Sternwolken aus Schnee—  und Eisgestirnen.
Kaidôh bemerkt, dass faltige dunkelviolette Sammetkleider seinen riesigen Körper umflattern. Liwûnas Gewänder sind wie Goldschaum und flattern ebenfalls.
Die Schneesternlüfte sind so kühl und beruhigend —  und Kaidôh bedarf der kühlen Ruhe —  ihm ist noch immer so, als tobten grosse Sternscharen durch seine Adern —  und durch alle seine Knochen.
Wie kleine weisse Federn schweben die Sterne dem unermesslichen Kaidôh um Kopf und Brust.
„Das sind,“ sagt Liwûna, „sehr leichte Welten, denn sie sind alle sehr alt.“
Die Sterne fliegen zuweilen wie ein grosser Vogelschwarm in die Höhe, und dann kommt es dem Kaidôh so vor, als flögen ihm rasende Eisklumpen an der Nase und an den Ohren vorüber. Seine Augen sind aber so scharf, dass er die verschiedenen Formen der Schneesterne, wenn sie weiter weg sind, wohl unterscheiden kann; er sieht auch viele Tiere auf den Sternen. In den Schneesternen glänzt viel blankes Eis, und die Eissterne sind an den Krystallspitzen meist mit Schnee umzogen, als wären sie verschimmelt.
Die Sterne haben viele thurmartige Auswüchse und Zacken und Zinnen und alle nur denkbaren Formen, die aber gewöhnlich regelmässig sind wie die Krystalle.
Alle Schneesterne und auch die Eissterne verstehen es ausgezeichnet, dem grossen Kaidiôh auszubiegen, so dass er garnicht mit den Sternen in Berührung kommt. Der Schnee verbreitet ein mattes schweres Dämmerlicht. Kaidôh hat immerfort das Gefühl, etwas vergessen zu haben —  und dieses Gefühl macht ihn immer erregter, so dass er ganz heftig wird.
Liwûna lacht dazu und fragt spöttisch:
„Was suchst Du denn?“
„Ich weiss es eben nicht!“ giebt Kaidôh zur Antwort.
Da fliegt die grosse Liwûna an ihren Kaidôh ganz nahe heran und flüstert mit leuchtenden Augen:
„Ich weiss, was Du suchst —  Du suchst das Weib, das Dein Weib sein kann.“
Kaidôh zittert, ballt die Faust und schlägt der Liwûna ins Gesicht.

ngg_shortcode_7_placeholderDoch der Schlag geht natürlich wieder durch, ohne zu schaden. Und die Liwûna lacht, dass es durch die ganze Frostwelt schallt.
Danach spricht sie milde:
„Die Wut gegen Andre beruht immer auf einer Wut gegen uns selbst. Du bist wütend, weil Du nicht weisst, was Du willst. Du weisst eben nicht, was Du suchst. Warum fragst Du mich also nicht? Warum musst Du gleich Deine Wut an mir auslassen? Wüte doch gegen Dich selbst!“
Ich schäme mich, denn die Worte trafen. Ich sage weich:
„Verzeih mir! Führe mich weiter durch das Labyrinth Deiner Weisheit. Ich folge geduldig und werde mich schon mal zurechtfinden.“
„Das wirst Du!“ sagt Liwûna.
Und wir verlassen die Sternwelten, in denen so viel Schnee ist, schweben in einen finsteren Raum und bleiben Seite an Seite.
Kaidôh hat eine Empfindung, als ob die Liwûna ohne jede Unterbrechung auf ihn einspräche, ihm die Rätsel aller Welten erklärte —  doch in einer Sprache, die ihm vollkommen fremd ist.
Er horcht eifrig in die Finsternis hinein und möchte verstehen, was er da in seltsamen Lauten hört —  doch ihm wird Alles immer unklarer; nur das Unklare wird ihm klar. Und das schmerzt so, dass er aufstöhnt. Er möchte so gerne lachen über Alles —  vermag aber nicht zu lachen. Nur Liwûna scheint neben ihm zu lachen —  das nützt ihm leider nichts.
Die Finsternis ist so schwarz, dass Nichts zu sehen ist —  kein Stern —  Nichts.
Liwûna sagt leise:
„Du willst grössere Welten sehen —  suchst Du die? Willst Du selbst grösser werden?“
Kaidôh wacht auf —  wie aus einem hässlichen Traume und ruft: „Ja! Ja!“ Doch er hat nicht das Gefühl, dass Liwûna das Richtige getroffen habe —  er fühlt nur, dass er in der Finsternis noch grösser wird —  und sieht in der Ferne ein schwaches Licht —  das rasch heller und heller wird. Neuen Sternenwelten kommen sie auch in der Finsternis näher.
Da wird Kaidôh grässlich heftig und so begehrlich —  so gierig.
Ganz andre Sternwelten leben in dem neuen Licht —  die sind die grössten —  das Licht in der Ferne wird heller —  da kommt aus der Finsternis ein Riesenleib hervor —  und dieser Riesenleib besteht aus vielen Millionen bunter Sterne.
Der Riese hat Augen über den ganzen Leib und einen Kopf, der aus dunkelgrünen lodernden Flammenwelten besteht —  Arme und Beine sind unzählig und wie flüssiges zitterndes Gold —  auf dem Perlen herumschwimmen; diese Perlen rollen auf den goldenen Gliedern in ewiger Unruhe.
Kaidôh hemmt seinen Flug und starrt den Sternriesen an —  das ist das grösste Weltwesen, das er jemals sah. Kaidôhs Augen rollen so wild wie die Perlen —  wie die blauen und roten Augen auf dem Rumpf des gewaltigen Sternriesen.
„Wir wollen,“ spricht Liwûna, „über den Sternriesen hinüberfliegen. Der Weg ist weit. Folge mir!“
Und Liwûna fliegt rauschend voran.
Kaidôh kriegt einen Schreck, als sähe er plötzlich in ein Jenseits.
Liwûnas Rücken gleicht ungeheuren Gebirgsmassen, die mit Schnee und Eis bedeckt sind; Millionen von Schneesternen schleppt sie auf ihrem Rücken mit; die goldenen Gewänder sind kaum zu sehen; die schwarzen Haarmassen ihres Hauptes flattern oben, und sie wendet oben ihren Kopf zurück, und Kaidôh erschrickt nochmals das riesige Gesicht ist braun, und hellblaue Augen strahlen wie zwei Riesensonnen unter Augenbrauen, die endlosen Wäldern gleichen.
Kaidôh will seine Fusszehen bewegen —  das geht aber nicht mehr —  er schwebt ohne jegliche Körperbewegung der Liwûna nach.
Und nach einer langen Zeit, in ders immerwährend höher geht, blickt er hinab und sieht unter sich das grüne Flammenhaupt des Sternriesen —  unzählige grüne Schlangensonnen winden sich da durch einander, und grüne Flammen schlagen heraus und brennen.
Kaidôh hebt den Blick und bebt —  Welten öffnen sich vor seinem Blick —  Welten —  wie sie nie ein Sterblicher geschaut hat.
Liwûna schwebt neben Kaidôh. Und die Augen der Beiden schweifen trunken nach allen Seiten.
Zwölf grosse Sternriesen ragen da im weiten grossen Halbkreise hoch auf in den weiten grossen Raum. Auf einer Bank, die auch einen Halbkreis bildet, sitzen die Sternriesen und bewegen sich nicht.
Und die Bank besteht aus unzähligen Brillantsternen —  deren gleissende Farbenfeuer durch glitzernden Funkenregen durchsprühen und durchflackern —  deren gleissende Farbenfeuer in langen Flammenkegeln tief aufglühen wie bunte Sammetblüten —  deren gleissende Farbenfeuer mit heissem Strahlenglanz brennen.
Kaidôh wundert sich, dass sein Auge nicht erblindet; sein Auge ist wiederum anders geworden.
Und es sind so viele Brillantsonnen; die Rücklehne der Bank ist so hoch, dass sie oben fast endlos erscheint —  eine im Halbkreise gebogene Riesenwand aus lauter Sonnen, die ungeheure sich langsam drehende Diamanten sind.
Und der Halbkreis ist so gross, dass die Wand nach allen Richtungen so weit entfernt erscheint. Ein Weltenrand!
Hoch oben bilden die blauen roten und grünen und die andersfarbigen Farbenkegel ein bewegliches Dach; die bunten Kegel schieben und drängen sich durch—  und über—  und untereinander. Und die funkelnden Diamanten flimmern immerzu, denn die Sterne stehen nicht still. Das flackert. Das glüht. Das brennt.
Und auf der grossen Bank sitzen die Sternriesen —  und die bewegen sich nicht.
„Dass sie sich nicht bewegen,“ sagt die Liwûna, „kommt uns blos so vor. Sie brauchen zu jeder Bewegung viele Tausend Sternjahre, und daher glauben wir, sie seien ohne Bewegung —  wie totes Volk. Das ist natürlich ein grosser Irrtum! Wir dürfen nicht vergessen, dass alle Glieder der Sternriesen aus unzählbaren Sternen bestehen —  lauter Sonnen sind —  lauter grosse Sonnen mit vielen Millionen Monden. Die Sterne haben alle möglichen und denkbaren Formen —  die können wir aber nicht mehr unterscheiden —  die Entfernungen sind in dieser Gegend auch für grosse Riesen so entsetzlich gross.“
Liwûna sagt noch mehr, Kaidôh starrt mit offenem Munde die zwölf Riesen an. Er kann die grossen Gestalten garnicht überschauen; wo ihnen der Kopf sitzt, weiss er nicht. Der Hauptteil des Rumpfes ist gross und breit und als solcher wohl zu erkennen. Aber jeder Rumpf sieht anders als der nächste aus; die meisten scheinen aus goldenen und silbernen Wolken zusammengesetzt zu sein. Es gehen aber überall so viele blaue und grüne Adern durch, und es sind überall so viele perlbunte und stechende Augen, dass Kaidôh nicht weiss, wie er die einzelnen Teile der Riesenkörper nennen soll. Die Gliedmassen ähnen wilden Korallengewächsen, und Flammenäste stehen dazwischen —  und grüne Pyramden sitzen oben auf steilen Schulterbergen —  neben schwarzen Hörnern und glühenden Haaren und Kugelgewächsen und Würfelketten mit bunten Bändern und langen goldenen Schlangenarmen.
Die Zwölf sind furchtbare Ungeheuer, in denen Milliarden tollster Sonnen brennen.
Und diese wilden Weltgestalten sitzen da zum Scheine so still, als wären sie versteinert.
Kaidôh starrt die Sternriesen an mit gierigen Augen; er möchte die zwölf Grossen festhalten und nicht mehr vergessen, er ärgert sich, dass er nicht unzählige Augen hat wie die zwölf Grossen.
„Ob sie auch Kleider haben?“ fragt er leise.
Doch Liwûna hört nicht, sie bittet ihn, sich einmal umzudrehen.
Kaidôh thut es und schaut in einen dunklen Raum, in dem unzählige eckige Sterne funkeln, die stellenweise ganz dicht zusammen stehen —  als Sternwolken.
„Die Sternwolken,“ bemerkt die Liwûna, „sind auch Sternriesen —  die kommen langsam näher.“


ngg_shortcode_8_placeholderKaidôh zieht den Kopf ein, als fürchte er sich vor den grossen Weltgestalten. Er kommt sich so klein vor wie ein Wurm, obgleich er weiss, dass er viele Tausend Schneesterne auf seinem Rücken trägt wie die Liwûna. Er wendet sich wieder zur Diamantenbank und sucht die karminroten Streifen an den Riesenkörpern zu zählen und findet sehr viele; sie sitzen immer neben helllila eiförmigen Flecken. Er glaubt, das seien besondere Sinne, und lässt das Zählen. Seine Gedanken verwirren sich, und er bittet die Liwûna, ihn weiter zu führen.
„Führe mich weiter,“ sagt er, „durch das grosse Labyrinth Deiner Weisheit —  ich finde mich da nicht zurecht. “
Liwûna bedeutet ihm, dass sie gradeaus unter der Bank durchmüssten, oben hinüber ginge es nicht. Und Zähne klappernd schwebt Kaidôh dahin. Und nach langer Zeit nähern sie sich den unteren Gliedmassen der Riesen und sausen dann an ihnen vorbei unter die Bank.
Kaidôh fliegt mit gekrümmtem Rücken —  wagt kaum um sich zu blicken.
Unter den grellsten Brillantsternen, die dicht unter der Bank wie gläserne Maschinen rasseln und rumoren, sieht Kaidôh nach unten und entdeckt in der Tiefe grosse halbkugelförmige Hügel. Die Halbkugeln haben Farbenringe am unteren Rande, um die Mitte sitzen Sterne in Zickzacklinien drauf; als wären Perlen draufgestickt —  so wirkt es.
Kaidôh will wissen, was das ist.
Liwûna sagt:
„Das sind die Schlafmützen der grossen Riesen. Die Schlafmützen fliegen bei jeder Ratssitzung unter die Diamantenbank. Es sind sehr viele Schlafmützen —  nicht etwa zwölf.“
„Ist das,“ fragt Kaidôh, „auch wirklich wahr?“
„Jawohl“ erwidert seine Führerin, „glaubst Du etwa die Riesen hätten den Schlaf nicht auch mal nötig? Du weisst wohl garnicht, wie wichtig der Schlaf ist.“
Kaidôh wagt nicht, weiterzusprechen.
Und nach langer Zeit kommen sie auf der Rückseite der Bank wieder ins Freie —  in eine wunderbar duftende frische Luft.
Die Beiden sind in einem drolligen Walde.
Sie fliegen durch ein buntes Gewirr von gewaltigen Ästen. Und jeder Ast besteht wieder aus unzähligen Sternen, die sämmtlich Linsenform zu haben scheinen. In der Tiefe ballen sich grosse Nebelhaufen zusammen, die lilafarbig leuchten. Kaidôh weiss nicht, ob die Nebel ebenfalls aus Sternen bestehen. Und beim Nachdenken wird ihm so anders zu Mute —  er muss lachen —  und er fragt lachend:
„Du, sind das wirklich Bäume?“
Liwûna giebt ihm zur Antwort:
„Ja ja —  das werden wohl Bäume sein, Du kannst die Bäume auch für Riesen halten und die Riesen für Bäume. Mit Deinem Wortschatz wirst Du hier nicht viel ausrichten. Verstehen kannst Du diese grossen Weltgestalten doch nicht —  und wenn Du noch viel mehr guten Willen —  und wenn Du noch tausend Mal mehr Worte hättest. Gieb Dir keine unnütze Mühe —  mit Worten begreift man die Welt doch nicht. Wir wollen uns nichts vorflunkern. Sieh Dir lieber die Formen der einzelnen Sterne an, aus denen sich diese sogenannten Äste zusammensetzen. Die silbernen Äste sind ganz mit Muschel—  und Schneckensternen gefüllt.“
Und Kaidôh sieht sich Alles genau an, und dabei schweben sie nach und nach aus dem Astgewirre raus und in eine tiefere Gegend hinein. Da schiessen sie durch flockige Nebelmassen hinunter und erblicken plötzlich unter sich einen Sternriesen, der lang ausgestreckt daliegt und zu schlafen scheint.
Der Riese schläft auch wirklich, er besteht aus lauter Kugelsonnen, die fortwährend ihre Farbe verändern wie kreisende Perlen. Ein flirrendes Farbengewirr! Es kann ganz schwach machen. Es huscht oft noch ein Schattenspiel durch das Opalgeflitter.
Wie ein grosses Segelschiff, das strandete, liegt der grosse Riese da. Was Segeln ähnt, schwankt immer auf und nieder. Liwûna macht darauf aufmerksam, dass die Segel aus lauter Blattwelten bestehen, und dann flüstert sie geheimnisvoll:
„Lieber Kaidôh, dies ist ein ganz junger Riese, der noch sehr klein ist; er wird grade gewiegt. Die Wiege sehen wir nicht, denn sie ist viel zu gross. Aber siehst Du da drüben den grossen roten Ball herniederschweben? Siehst Du, dass da viele Millionen roter Sonnen drinnen sind? Siehst Du das?“
Kaidôh bejaht die Frage, und Liwûna fährt fort:
„Das ist ein Blutstropfen von der Mutter des Riesen —  die Mutter muss sich geschnitten haben —  dort drüben die grossen Sternwolken gehören zum Leibe der Mutter. Doch stelle Dir das Mütterliche ja nicht so einfach vor —  ich will mich blos kurz fassen. Na —  diese Gesellschaft ist Dir doch gross genug —  nicht wahr, mein kleiner Kaidôh?“
Kaidôh bejaht auch diese Frage, schüttelt seinen violetten Sammetmantel, dass viele Tausend Schneesterne rausfallen, und versucht, seine Zehen zu bewegen. Es gelingt ihm —  und pfeilschnell gehts weiter —  aber es geht ihm immer noch nicht schnell genug. Das Riesenland ist zu umfangreich.
Nun sieht er unter sich ein langes langes goldenes Rohr —  es besteht natürlich auch aus echten Sternen —  aus lauter glitzernden kantigen Sternen. Und er will wissen, was das ist.


ngg_shortcode_9_placeholder„Das ist“ versetzt Liwûna hastig, „die grosse Sturmmaschine. Wenn wir rasch an die Spitze des Rohrs gelangen, so können wir von der Sturmwolke gefasst werden —  dann würden wir sehr schnell weiter kommen —  was Dir wohl sehr angenehm sein dürfte.“
Kaidôh nennt das Rohr eine Sternkanone. Sie schauen vorn an der Spitze in das Rohr hinein.
Indessen da giebts gleich einen donnernden Knall, und in einer brennenden Wolke sausen sie dahin, dass dem Kaidôh Hören und Sehen vergeht.
Als ihm die Besinnung wiederkehrt, sieht er um sich alle Lüfte voll Wolken, und die Wolken jagen sich wie die Windhunde —  es blitzt und donnert ohne Pausen —  der Sturm heult und pfeift und knurrt und kreischt auf —  Liwûnas goldene Gewänder flattern und rauschen und knallen und knirschen. Und dazu kracht es in Einem zu, als gingen in jedem Augenblick viele Tausend Welten platzend entzwei.
„Das sind,“ erklärt die Liwûna, „die anderen Schüsse der Sturmmaschine. Durch diese Maschine wird die Luft der ganzen Gegend verbessert. Die Maschine gehört zu den berühmtesten Erfindungen des Sternriesenreichs.“
Und sie fliegen in Wirbelwinden —  in Windhosen —  selig dahin —  wobei sie oft riesig rasch um sich selber gedreht werden.
Dem Kaidôh stockt beinahe der Atem. Der Weltendurchflieger weiss garnicht mehr, wo er ist. Unter sich sieht er eine grosse dunkelgrüne Fläche, die er für eine Wiese hält. Es ist aber, wie Liwûna erklärt, keine Wiese —  sondern ein grosses herrliches Meer, in dem ungezählte Millionen von Smaragdsternen das Wasser bilden.
Und aus dem sogenannten Meere ragen braune und türkisblaue Korallengebirge heraus. Das sind aber, wie Liwûna wieder erklärt, keine Gebirge —  sondern Sternriesen, die wahrscheinlich baden.
Das Donnern hört sich wie die Brandung des Smaragdmeeres an, und die Blitze zucken wie Phosphorwolken —  so schnell folgen sich die einzelnen Blitze.
Das Schiessen der Sturmmaschine will auch kein Ende nehmen.
Aber die Lüfte werden doch allmählich ruhiger; es geht ja so rasend schnell vorwärts.
Die Beiden steigen höher und höher wie Luftballons im Orkane, sodass das grüne Meer unten nach einer guten Weile nur noch wie ein zarter Schleier schimmert.
Und dann erblicken sie eine weite Pforte aus blauen Saphiren. Sie sehen vor sich nur die blaue Pforte, als ginge sie von einem Ende der Welt zum andern —  sie bildet einen grossen Bogen; die Saphire sind ebenfalls Sternwelten.
Und sie fliegen durch die Pforte durch und in ein grosses Säulenreich hinein.
Die Säulen sind so umfangreich, dass die Beiden lange fliegen müssen, um an einer Säule vorbeizukommen. Die Säulen sind alle aus einem festen Stück gearbeitet und sind nicht wieder bewegliche Sterne.
Aber die Sterne fehlen auch hier nicht ganz; an vielen Stellen befinden sich die Sterne auf der Rinde der Säulen —  sitzen da so drauf wie Pilze auf altem Holz —  wie Schimmel.
Die Säulen sind gelb und leuchten, obgleich sie nicht glänzen und auch nicht durchsichtig sind.
„Wir sind,“ sagt Liwûna leise, „in den Vorhallen der Riesentempel.“
„Haben die Riesen,“ fragt Kaidôh, „auch Tempel? Wozu haben sie die Tempel?“
Liwûna antwortet nicht; sie schweben schweigend neben dem blitzenden Sternschimmel weiter —  langsam von einer gelben Säule zur andern.
Es herrscht ein ziemlich dumpfes Dämmerlicht im grossen Säulenreich; das Säulenlicht ist nicht sehr stark.
Leise sagt die grosse Liwûna:
„Du wolltest grössere Welten sehen. Waren Dir nun die Welten, die ich dir zeigte, gross genug?“
Und Kaidôh erwidert feierlich: „Das waren sie.“
„Aber,“ fährt Liwûna fort, „Deine Antwort klingt so, als wenn Du mit einem neuen Aber weiter sprechen wolltest. Hast Du das, was Du suchtest, immer noch nicht gefunden?“
Kaidôh schweigt lange, und Liwûna unterbricht das Schweigen mit diesen Worten:
„Lieber Kaidôh, Du bist still, und Dein Stillsein ist so beredt. Das Grosse allein macht es auch noch nicht —  das willst Du sagen. Ich verstehe Dich, und ich freue mich, dass Du immer noch suchst.“
Kaidôh versteht ihre Freude und fragt müde: „Was soll ich denn thun?“
Da sagt sie:
„Du musst Dir einen Schmerz bereiten: steige noch einmal hinab in die Abgründe Deiner Vergangenheit. Denk an einen Kugelstern, der sich immer drehte und Dir gar nicht gefallen wollte, da er nur einen einzigen Mond als Begleiter neben sich hatte. Du warst auf dem Stern anfangs ein Kind und noch nicht so gross wie jetzt —  lange nicht so gross. Erinnerst Du Dich da vielleicht an einen roten Dornbusch, der vor einem alten Fenster blühte? Die roten Blüten dufteten Dir oft wie Marzipan. Weisst Du das noch?“
Kaidôh denkt nach und schüttelt den Kopf; zwar thut ers nicht, doch ist ihm so, als täte ers.
Liwûna fährt fort:
„Du hast so Vieles vergessen. Man möchte beinahe glauben: Leben sei Vergessen. Aber ich weiss, Du erinnerst Dich trotzdem an den roten Dornbusch; hinter dem Fenster, in das er hineinblühte, stand eine alte Kommode aus Eichenholz mit zwei grossen schwarzen Knöpfen zum Aufziehen der mittleren Schublade —  weisst Du noch? Perlmutter sass an den Knöpfen. Und neben der Kommode knietest Du öfters.“
Die Sanftredende hält inne, und Kaidôh stösst rauh hervor:
„Jetzt soll ich mich in diesen riesigen Säulenhallen an alte Kommoden mit grossen schwarzen Knöpfen erinnern! Nun ja! Ich erinnere mich ganz deutlich!“
„Warum bist Du so grimmig?“ versetzt die Liwûna, „neben der Kommode warst Du doch nie so grimmig. Du fühltest Dich dort einem Heilande nahe, und es wurde zu Zeiten Alles in Dir still. Den Heiland hast Du bald vergessen. Aber an die stillen Stunden vor dem roten Dornbusch hast Du noch oft gedacht. Und Du hast Dich oft nach ähnlichen stillen Stunden gesehnt. Und die hast Du nicht gefunden. Kaidôh! Höre doch! Weisst Du nun, was Du suchst?“
Kaidôh horcht hinein in die Tempelstille und hört das Echo seines Atems.
Und dann hört er sich leise sagen:
„Stille Stunden such ich! Aber ich habe doch keinen Heiland mehr.“
Hastig erwidert die Liwûna:
„Du musst eben einen neuen Heiland haben. Du wolltest immer grössere Welten sehen, und auch die grössten waren Dir am Ende nicht gross genug. Dein neuer Heiland muss also grösser sein als alles Denkbare, nicht wahr? Und wer kann grösser als Alles sein?“
„Nur der Geist,“ antwortet Kaidôh, „der Alles umschliesst —  der Alles selber ist —  der Allgeist.“
Ein leises Summen wie von Bienen geht an Kaidôhs Ohren vorüber, die gelben Tempelsäulen leuchten, und er fährt leise fort:
„Sind das aber stille Stunden, wenn ich die Nähe des Allgeistes fühle —  wenn ich mich in ihm fühle?“
Liwûna sagt nichts, er aber sagt laut:
„Nein! Das sind gewaltige Stunden. Ich glaube auch nicht, dass ich die stillen Stunden suche —  ich suche die gewaltigen Stunden —  in denen ich mich im Allgeist fühle —  und den Allgeist in mir.“
Liwûna sagt wiederum nichts.
Und er fühlt plötzlich heisses Blut in seinen Adern, und ihm ist so, als ginge eine neue Kraft durch seine Sehnen, und er sieht schärfer gradaus, und er glaubt, dass jetzt ein Andrer in ihm auflebe —  der neue Heiland —  der gewaltige Allgeist.
„Eine gewaltige Stunde!“
Also schreit er laut auf.

Und er will die Arme heben und Fäuste aus seinen Händen machen.
Und er kann nicht die Arme heben, und er kann nicht Fäuste aus seinen Händen machen.
„Deine Gliedmassen,“ flüstert die Liwûna, „sind ja viel zu gross geworden. Du bemerktest wohl noch nicht, dass Du vor der blauen Pforte noch ein gutes Stück gewachsen bist. Du brauchst jetzt sehr sehr lange Zeit zu jeder Bewegung.“
Er murmelt:
„Das also nennt man Grösse!“

„Bilde Dir nicht zu viel ein! Der Geist des Alls, der mehr als alles Grosse ist, flüstert auch in Dir. Aber er flüstert nur sehr wenig. Und das Wenige kannst Du nicht einmal verstehen. Wer gleich den ganzen Allgeist in sich zu fühlen glaubt, stellt sich das Gewaltige allzu einfach vor; man könnte lächeln und lachen. Du kannst nur langsam fühlen, dass ein Allgeist da ist —  mehr kannst Du nicht. Sei still!“
„Das also nennt man Grösse!“

Und die Schrift erlischt.
Und die Liwûna schwebt neben Kaidôh vorbei und aufwärts.
Und er sieht gewaltige Goldgebirge, in deren Thälern nur noch wenige Schneesterne schimmern —  wie weisse Farbenreste.
Die Goldgebirge sind Liwûnas Gewänder.
Kaidôh steigt auch höher —  und sieht in Liwûnas Antlitz —  wie in eine grosse bunte Landschaft —  und in der funkeln zwei Augen ihn an —  wie lichtbraune Sonnen aus Topasen. Und Liwûnas gewaltiger Mund öffnet sich. Und sie sagt, während es über die weiten Gefilde ihres Gesichtes zuckt:
„Du bist doch garnicht ein bischen neugierig. Weisst Du, wer ich bin? Du hast noch nie danach gefragt. Hast Du mich nicht verstanden? Ich bin doch Deine Sehnsucht. Ich bin Deine Körper gewordene Sehnsucht —  so viel wie ihr Spiegelbild.“
„Daher,“ giebt Kaidôh zurück, „bist Du wohl so fabelhaft gross. Jetzt merke ich erst, wie mächtig mein Verlangen ist —  wie rasend gross meine Gier wurde —  meine Gier —  nach dem Gewaltigsten.“
Und er denkt, dass er über Liwûna lächeln könnte, doch er kanns nicht —  die Gesichtsmuskeln gehorchen ihm ebenfalls nicht mehr —  er ist ja so masslos gross geworden.
Er sagt sich, dass wahrhaft grosse Riesen das Lachen garnicht nötig haben. Und wenn man sich so was gesagt sein lässt, so ärgert man sich nicht mehr. Das hätte doch garkeinen Zweck.


ngg_shortcode_10_placeholderLiwûna schwebt wieder an Kaidôhs Seite und macht ihm Enthüllungen; sie bietet ihm ein Spiegelbild von seiner Sehnsucht dar.
Er glaubt, er verstehe das Alles, und hat eine Empfindung, als könnte er Liwûna durch und durch durchschauen. Dabei lernt er sich endlich selber kennen —  bildet sich das wenigstens ein —  glaubt, dass er nur das Gewaltige gesucht habe und klammert sich an dieses Wort, als wärs sein neuer Heiland.
Was doch son Wort macht!
„Ich suche die gewaltige Stunde!“
Mit diesen Worten schwebt Kaidôh gradezu weiter und müht sich ab, allmählich die Finger zu krümmen —  was schrecklich langsam von Statten geht.
Die Säulen sehen jetzt wolkig aus wie undurchsichtiger Bernstein, und blassrote Korallenketten, deren Glieder sehr unregelmässig sind, winden sich schraubenartig um die Bernstein— Säulen.
„Liwûna,“ ruft Kaidôh, „Du weisst, was ich will. Warum erfüllst Du nicht meinen Wunsch?“
Die riesige Liwûna sagt müde:
„Diese Quälerei um des Gewaltigen willen! Als wenns nicht überall genug der Wunder gäbe! Als ob nur die schärfste Paprikatunke geniessbar wäre! Es giebt doch noch sanftere Tunken! O Kaidôh —  deine nie gestillte Lustgier hat Dich so überreizt, dass jetzt nur noch das Schärfste bei Dir zieht.“
Kaidôh wird furchtbar heftig —  es hilft ihm aber nichts —  alle seine Muskeln gehorchen ihm nicht.
Sie fährt sanft fort:
„Sollten Dir vielleicht die stillen Stunden der grenzenlosen Gedankenlosigkeit helfen können? ja doch! Auf einen Punkt starren und sich durch nichts ablenken lassen —  macht auch schon mal selig. Weise die Geschichte nicht so leichthin von der Hand. Die unbeirrte Beschaulichkeit, die alles Denken nur als Stimmungshebel und Stimmungshobel aufkommen lässt, hat schon manchen Masslosen erlöst. Sehr heldenhaft sieht die Sache freilich nicht aus —  aber sie erfüllt doch ihren Zweck.“
Kaidôh wird noch wütender.
„So hat mich noch Keiner verhöhnt!“ brüllt er auf.
Sie aber sagt freundlich:
„Glaube mir nur: Kinder der Einsamkeit sind alle Deine Wünsche. O Kaidôh —  warum willst Du bloss noch das Gewaltige?“
Kaidôhs Zorn verraucht. Der Riese sieht seine Liwûna neben sich schweben und weiss nicht, was er von ihren Worten halten soll.
„Scherze nicht,“ spricht er feierlich, „Du weisst, dass ich nicht anders kann. Wenn Du meine Sehnsucht bist, musst Du mir eine gewaltige Stunde schaffen können. Ich verstehe nicht, warum der Weg zum Gewaltigen so schrecklich weit ist.“
Sie schweben still zusammen weiter —  immer zwischen den undurchsichtigen Bernsteinsäulen —  die unzählig sind wie die Tropfen eines Meeres.
Und Liwûna sagt zögernd:
„In den Stunden des Lebens, die wir gewaltig nennen könnten, glauben wir oftmals, nahe daran zu sein, alle Rätsel der Welt mit einem Blick zu durchschauen. Es geht wohl was Grosses mit uns vor. Eine geheimnisvolle Macht scheint uns mit fernen Sternen zu verbinden —  und uns auch hinter alle Sterne zu führen —  und wir nehmen gern an, dass wir mehr sind als sonst. Viele fasten und beten und kasteien sich, um zu solchen gewaltigen Stunden zu gelangen. Und die bleiben Vielen dennoch fremd. Man muss sich eben führen lassen wie Kaidôh und warten können. Wäre der Weg zum Gewaltigen so bequem, so hätten wir garkein Recht von einem ‚Gewaltigen‘ zu reden —  denn es würde bald was Alltägliches sein —  und das Alltägliche ist nicht mehr gewaltig. Man muss sich also ruhig führen lassen von seiner Liwûna —  eine Liwûna kann doch jeder haben —  nicht wahr, mein lieber Kaidôh? “
Kaidôh empfindet so was wie Eifersucht, ihm kommt aber diese Empfindung gleich sehr lächerlich vor —  er würde lachen —  wenn er das noch könnte —  er bemerkt in seiner Aufregung garnicht, dass Liwûna nur von ihren lieben Schwestern sprach.
Der stürmische Kaidôh will blos[s] noch mehr wissen —  mehr von der gewaltigen Stunde, in der nach seiner Meinung der gewaltige Geist, der Alles umschliesst, im Innern des Empfänglichen für ein paar Augenblicke auflebt und das ganze Dasein verändert.
Die Liwuna sagt still:
„Du sollst mehr wissen. Dazu habe ich Dich hierher geführt. Es giebt hier im Tempel noch so manche Flammenschrift. Blick nur scharf gradaus —  auf einen Punkt —  dann wirst Du schon was sehen.“
Und Kaidôh thut unwillig, wie ihm geheissen wurde, und er sieht plötzlich eine Wand von rot glühendem Eisen. Und in dem rot glühenden Eisen entsteht eine Schrift aus flimmernden Opalen. Kaidôh kanns lesen und liest:
„Es umrauscht Dich ein wildes Meer, und tausend Stimmen schreien Dir die Ohren voll, und Du verstehst nicht, was sie sagen. Sie sagen, dass Alles, was lebt, nur Eines will: es soll nur wieder eine andere Seite des Daseins aufleuchten. Und das Dasein ist ein Brillant mit unzähligen Ecken und Kanten. Und Alles, was lebt, steckt in den bunten Strahlen, die hinausleuchten in die tiefe Finsternis, in der Alles, was lebt, aufflammen und vergehen soll. Es ist Alles nur ein bunter Schein.“
Und Kaidôh sagt scharf:
„Es ist Alles nur ein bunter Schein.“
Und die Schrift erlischt, und die glühende Eisenwand fällt in die Tiefe.
Und dicht vor Kaidôhs Gesicht entstehen humpelnde Gliederpuppen aus hellgrünem Chrysolith —  die bilden auch Buchstaben in der Luft —  und bald steht da vor der Finsternis in hellgrüner Schrift. „Wir möchten auch so gerne das Ganze umfassen, es ist nur so schwer. Wir denken daher in allem Ernste daran, uns mit einzelnen Teilen der Welt zu begnügen. Wir wissen allerdings, dass uns die Teile eines unendlichen Ganzen als solche ebenso unbegreiflich sind —  wie dieses selbst. Indessen —  du lieber Himmel! Halten wir, was wir grade haben —  obs nun Teile sind oder nicht. Man hat so doch immer noch Etwas —  wenigstens scheinbar! Es lebe die Kirsche!“
Und mit Geknatter zergeht das grüne Puppenvolk.
Kaidôh bedauert, dass er nicht mehr lachen kann —  was doch so lustig war.
Und er blickt seiner Liwûna ins grosse Antlitz, und siehe! —  ihr springen plötzlich die Zähne aus dem Munde heraus und bilden auf den roten Lippen eine weisse Glanzschrift —  die da sagt:
„Du kannst aber den Grossen, der keinen Namen hat und viel grösser als alle Unendlichkeit ist, dennoch —  fühlen. Es zuckt Dir noch einmal eine Erkenntnis durch den ganzen Leib. Du wirst dann plötzlich nicht mehr hören und nicht mehr sehen wollen —  denn Du wirst zufrieden sein, als wenn Du Alles wüsstest. Und Du wirst doch niemals sagen können, was Du weisst und was Du erkannt hast. Und es wird doch mehr als ein Traum sein. Und du wirst zufrieden bleiben —  solange Du Dein Leben lebst.“
Und Liwûna verschluckt ihre Zähne.
Kaidôh sagt hastig:
„So sollte es möglich sein? Unser Leben könnte schliesslich nur aus gewaltigen Stunden bestehen? Wenn das möglich ist, so soll es wirklich sein —  ich wills! “
„Was schreist Du so!“ bemerkt kalt die Liwûna, deren Zähne wieder an der richtigen Stelle sind, „glaubst Du vielleicht, dass es sehr geistreich wäre, wenn in unsrem Leben eine Stunde der andern ähneln würde —  wie ein Ei dem andern? Immer wieder neu und anders müssen alle Stunden sein —  auch die gewaltigen Stunden.“
„Dann,“ versetzt Kaidôh barsch, muss auch eine Stunde gewaltiger als die andre sein, und es muss eine gewaltigste geben. Und welche Stunde könnte nun die gewaltigste sein? Doch nur die, in der das Einzelwesen mit dem Allwesen ganz und gar verbunden wird. Und die Stunde nennt man die Todesstunde. “
Liwûna fragt sanft: „Suchtest Du den Tod?“
Kaidôh hört nicht mehr —  sein ganzes Wesen leuchtet auf in einem Gedanken —  er denkt sich mit dem Geiste, der Alles ist und keinen Namen braucht, für ewig vereint.
Und Alles, was den Kaidôh umgiebt, verliert jede Bedeutung für ihn —  auch Liwûna verliert ihre Bedeutung für ihn.
Und sie fliegen in einen grossen Saal, in dem so viele duftende Rauchwolken sanft emporwirbeln, dass die Beiden von den Wänden nichts gewahr werden.
Sie sind in dem kleinen Saal des Schweigens, in dem jeder durch die duftenden Rauchwolken am Sprechen verhindert wird.
Sie fliegen lange Zeit, und Kaidôh versucht wiederum eine Faust zu machen.
Und nach langer Mühe gelingt es ihm, eine Faust zu machen —  mit der rechten Hand —  mit der linken gehts noch nicht.
Kaidôh freut sich und fühlt sich dem Herzen des Alls ganz nahe und möchte sprechen.
Er kann aber nicht sprechen —  und fährt schweigend durch die Rauchwolken dahin wie ein Gewaltiger.
Und Liwûna findet einen Ausweg aus dem Saale des Schweigens.
Und sie schweben bald in freier Luft unter einer weiten Kuppel, die ganz aus Glas besteht.
Kaidôh schreit:
„Führe mich in den Tod. Ich will das Gewaltigste. Ich will die Vereinigung mit dem Geiste, der Alles ist.“
„Was weisst Du,“ versetzt die Liwûna, „von den gewaltigen Stunden des Lebens und des Sterbens!“
Und Kaidôh sieht seitwärts im dunkelvioletten Kuppelglase eine zitternde Schneeschrift —  diese Worte:
„Wir wissen über Geburt und Tod so viel wie Garnichts und reden doch davon. Das ist die Macht des Unbekannten, die uns zum Reden reizt. Wer aber über Dinge redet, die er nicht kennt, wird leicht zum Schwätzer. Oh, hütet Euch vor dem salbadrigen Geschwätz —  wenns auch manchmal stürmisch klingt! Ihr könnt so leicht da drinnen kleben bleiben —  wie die Fliege im Fliegenleim. “
Kaidôh will die Augenbrauen zusammenziehen und ein böses Gesicht machen; er hat ja noch nicht geschwatzt.


ngg_shortcode_11_placeholderWährend er ärgerlich sich abwendet und weiter möchte, schweben schaukelnde bunte Laternen aus der Kuppelhöhe hernieder und bilden ein paar Beruhigungssätze.
Kaidôh buchstabiert und liest:
„Du brauchst keine Furcht vor dem Tode zu haben. Wer sich eins weiss mit dem Geiste des Alls, kann die Todesstunde nicht mehr fürchten, denn was sie auch bringen mag —  sie bringt immer nur das, was der Geist, der Alles ist, will. Das, was der Namenlose will, kann nicht unsre Sache sein. Wer sich, obschon er Garnichts weiss, mit dem Allgeist eins weiss, wird allzeit ganz ruhig sein —  einverstanden mit Allem, was geschieht. Todesfurcht kann nur der haben, der zu viel Freude an seiner Selbstherrlichkeit hatte. “
Kaidôh schreit wütend:
„Ich habe doch keine Furcht vor dem Tode! Ich habe doch Sehnsucht nach dem Tode! “
Schauerlich hallen diese Wutworte durch die grossen bunten Glasgewölbe. Die bunten Laternen brechen klirrend entzwei und sinken in die Tiefe, die grau ist wie ein Wolkenbett.
Hastig spricht Kaidôh zur Liwûna, deren Gesicht sehr rot wurde:
„Warum höre ich kein klares Wort über die Todesstunde? Warum nicht?“
„Geliebter,“ entgegnet die Rote schnippisch, „was Du bloss zu verlangen beliebst! Man hätte viel zu thun, wenn man alle denkbaren Möglichkeiten, die beim Tode und nach dem Tode eintreten könnten, erörtern wollte. Und man würde doch nie zum Rande komme. Eine Formel, mit der man Alles lösen kann, findet man nicht —  in der gewaltigen Welt.“
Dem Kaidôh wird so traurig zu Mute. Er glaubt, dass man ihn absichtlich missversteht. Er möchte vor lauter Unruhe beinahe weinen —  kanns aber nicht. Er ist ja viel zu gross zum Weinen. So schnell sind seine Thränendrüsen nicht in Thätigkeit zu versetzen. Es ist nur ein Wunder, dass er immer noch sprechen kann.
„Du hörst nicht mehr auf mich! “ sagt er bitter.
„Du hörst auch nicht mehr auf mich!“ sagt auch sie bitter.
Und während sie weiterziehen, sehen sie sich die mächtigen Bogen der reichgegliederten Glaskuppel an, von der sie natürlich nur ein kleines Stück sehen können, das keinen Begriff vom Ganzen erzeugt.
Und schillernde Paradiesvögel setzen sich auf eine hohe türkisblaue Scheibe, und auch diese bunten kleinen Vögel, von denen Tausende da sind, bilden eine Schrift —  in verschiedenen Absätzen.
Der oberste Absatz lautet:
„Mit dem Prophetentum ist die Sache immer man mau. Jeder Prophete wird so leicht zum Hallunken. Weil aber auch diese von den gewaltigsten Dingen sprechen, so soll man ja nicht glauben, dass alles Gewaltige blos qualmender Mumpitz ist. Alles Ernste will auch sein Widerspiel in seinem Gegensatze haben. Und die Hallunken sind doch so —  spassig.“
Die Paradiesvögel zwitschern mächtig.
Der unterste Absatz lautet:
„Da das, was in der einen Gegend lebt, gleichzeitig immer noch wo anders lebt, müssen wir annehmen, dass alles Leben niemals im Einzelnen erstickt werden kann —  es wird immer noch wo anders sein.“
Kaidôh wendet sich wieder ärgerlich ab, da er nichts davon versteht, doch die Liwûna spricht schnell:
„Kaidôh, in der Mitte steht doch noch ein sehr wichtiger Absatz.“
Da steht nämlich:
„Die Sternriesen haben noch keinen ihrer Brüder sterben sehen und glauben nicht mehr, dass sie sterben könnten. Sie halten daher den Tod nur für eine Wesensverwandlung, die bei sehr unentwickelten Lebewesen eine Berechtigung hat. “
Kaidôh staunt darüber und wird verwirrt.
„Sagtest Du nicht,“ fragt er „dass wir im Todestempel der Sternriesen seien?“
„Das kann ich,“ erwidert sie, „nicht gesagt haben, denn bei den Sternriesen spielt der Tod garkeine Rolle. Die grossen Sternriesen verändern sich, ohne dabei gleich zu sterben. Die Inschriften, die Du kennen gelernt hast, sind nicht für die Sternriesen. Wir befinden uns hier immer noch in den äussersten Vorhallen. Du würdest viel Sternjahre brauchen, wenn Du Dir von der Tempeleinrichtung, die sich in ungeheuren Tiefen befindet, ein ungefähres Bild machen wolltest. Das Sinnbildliche würde Dir zudem ganz unfassbar bleiben.“
„Dann komm raus!“ sagt Kaidôh.
Das geht aber nicht so geschwinde.

Die Liwûna fliegt mit ihrem Kaidôh durch ein Perlkettenfenster in einen andern Saal. Und in dem ist die Kuppel so himmelhoch, dass Kaidôh müde wird bei dem Gedanken, da oben durch zu müssen.
Es ist still und geheimnisvoll ringsum.
In dem Saale sind nur ein paar Lichter sichtbar —  das sind grosse Sterne, die an fernen Säulen leuchten. Die Säulen sind als solche garnicht wahrzunehmen, da ihr Umfang viel zu gross ist.
„Wir müssen immerzu emporsteigen!“ sagt leise die Liwûna.
Und sie steigen immerzu empor.


ngg_shortcode_12_placeholderIhnen ist so, als schwebten sie zwischen grossen dunklen Blasen in die Höhe. Die Blasen haben weichgebogene Lappenform; goldbraune und dunkelviolette Wellen schwimmen auf der Blasenhaut hin und her —  wie auf Seifenblasenhaut.
Es ist ziemlich dunkel ringsum.
An der einen Seite wirds aber immer heller, die Blasen verschwinden, und ein kirschrotes Licht leuchtet den Beiden ins Auge. Vor dem kirschroten Lichte, das in einem Nebensaale zu leuchten scheint, sehen sie eine lange Reihe von schwarzen Säulen, die wie Knochengerippe wirken und doch wieder Buchstaben sind.
Da steht geschrieben in schwarzer Riesenschrift auf kirschrotem Lichtgrunde:
„Glaube nicht, dass es immer gut ist, wenn Du oft zur Besinnung kommst. Viele verlieren dadurch ihre ganze Kraft und ihr ganzes Lebensglück, selbst das Todesglück kann dabei in die Brüche gehen.“
Kaidôh sagt kalt:
„Diese Worte gehen mich garnichts an.“
Das Licht verschwindet, und die Schrift ist nicht mehr zu sehen.
Die Beiden steigen höher, und abermals wird ein Nebensaal hell —  der strahlt in citronengelbem Licht. Und schwarze Säulenlettern davor sagen:
„Unsres Lebens Anfang und Ende ist uns verschleiert, dass wir glauben können, es gäbe Beides nicht. Unser Leben soll wohl ein Sinnbild der Unendlichkeit und Ewigkeit sein. Wir können unser Leben auch ein unaufhörliches Sterben nennen —  wir werden immerzu was Andres. Wir sollen uns eben immer inniger ins Ganze einschmelzen. Und wenn wir das thun, wird unser Leben aus lauter gewaltigen Stunden bestehen.“
Da geht ein Zittern durch Kaidôhs ganzen Körper, und er spricht leise wie zu sich selbst:
„Ich aber will den Abschluss —  ganz eins will ich sein mit dem Geiste, der Alles ist. Und so muss ich den Tod wollen —  den Tod, der keine weitere Veränderung hinter sich zulässt.“
Mit einem krachenden Donnerschlag spritzt das citronengelbe Licht nach allen Seiten und verfliegt.
Es wird ganz finster, und dabei geht ein wimmernder Luftzug durch die Gewölbe. Der Luftzug dreht den Kaidôh um sich selber und reisst ihn rasend rasch empor —  immer höher —  immer höher —  dass ihm der Atem stockt —  dass er denkt, die letzte Stunde seines Lebens sei gekommen —  dass er aufjauchzt —  und nun des grossen Augenblicks harrt —  und die Augen weit aufreisst —  um sehen zu können —  mit einem Blick —  das ganze All.
Und ein lilienweisses Licht springt auf und leuchtet auf allen Seiten. Und vor dem lillenweissen Licht steht in schwarzer Säulenschrift viele Male auf allen Seiten die grosse Frage:
„Was ist die Unendlichkeit?“
Und darunter steht:
„Kaum ein Finger des Unnennbaren.“
Und Liwûna schwebt mit ihrem Kaidôh durch einen goldenen Sternzackenkranz, der eine runde Öffnung der grossen Tempelkuppel umsäumt, ins Freie hinaus —  in einen braunen Nachthimmel, der mit weissen schmalen ovalen Sternen übersäet ist.
Draussen ist es kühl.
Und Kaidôh fühlt, dass ein starker Arm seinen ganzen Körper wagerecht legt, sodass er nicht mehr die weissen Sterne sieht —  sondern nur noch die Kuppeln. Die Liwûna neben ihm liegt auch wagerecht in der Luft mit dem Gesicht nach unten wie er.
Und so schweben sie empor rückwärts —  also dass sie immer mehr von den Kuppeln und Dächern der Sternriesentempel sehen.
Die Beiden schwebten, während ihre Gewänder rauschten und knatterten, neben Türmen und Säulenhallen immer höher so schnell, als wenn die Beiden von Riesenmäulern, die oben Luft einsogen, hinaufgezogen würden.
Und dann liegt das ganze Tempelreich in aller seiner Herrlichkeit unter ihnen.
Kaidôh ist ganz berauscht von diesem gewaltigen Anblick.
In der Mitte thront ein Kuppeldach, das einer goldenen Riesenperle gleicht; das Gold windet sich in Schlangenlinien hin und her —  gekörntes Gold, blankes Gold und getriebenes Gold.
„Das sind natürlich lauter bewegliche Sternriesen!“ erklärt die Liwûna.
Die Goldkuppel ist von hellblauen und dunkelblauen Zackenringen umrändert. Die Ränder sind aber breit.
Ein Kranz von kleineren spitzen Silbertürmen umzäunt die Zackenringe.
Um diesen Mittelpunkt sind nun hellgrüne und dunkelgrüne Riesenwürfel herumgestreut —  die liegen wie Steinfelder da —  bilden aber gleichfalls einen regelrechten Ring —  einen so breiten allerdings, dass es schwer fällt, ihn als solchen zu überschauen.
Und um die grünen spitzen—  und kantengrossen Würfel hat sich ein breiter grauer Wolkenring gelagert. Der Wolkenring ist im Innern sehr unregelmässig und zeigt viele tiefe Täler, in denen das Wolkengrau beinahe schwarz erscheint.
Und ganz breite funkelnde Glastürme ragen auf allen Seiten hinter den grauen Wolken in den Nachthimmel hinauf.
Und die Glastürme sind ganz hell, als wären sie sämtlich innerlich erleuchtet; an den vielen rechteckigen Kanten der Türme funkeln die Regenbogenfarben wie an Brillanten. Kaidôh kann nicht über die Türme hinüberschauen; sie steigen alle rechteckig als breite Massen auf, die sich oben nicht verjüngen; sie tragen auf ihrer ganz stumpfen Spitze auf ganz flachem Dach unzählige kleinere Türme, die wie Schornsteine aussehen und noch stärker funkeln als die breiten rechteckigen Türme, die das Grundgemäuer bilden.
Kaidôh schwebt noch schneller aufwärts —  immer höher und höher. Der Mittelpunkt —  das sieht er nun ganz deutlich —  leuchtet in seinem eigenen Licht. Die goldene Mittelkuppel leuchtet wie heftige Sonnen. Milder leuchten die blauen Zackenringe und ganz milde die grünen Würfel; die silbernen Türme zwischen beiden glimmen nur so wie Phosphor im Dunkeln. Die grauen Wolken erhalten ihre Helligkeit von den grünen Würfeln und den Glastürmen.
Die ungeheuren Lichtmassen erscheinen in ihrer Wirkung so klein —  da die Entfernungen so furchtbar gross sind.
Und Kaidôh gelangt allmählich in so ferne Höhen, dass er auch über die Glastürme hinwegsehen kann.
Und hinter den Glastürmen sieht er nun einen runden Reifen von gewaltigen Pyramiden —  ein Diadem aus gelben Topasen und lilafarbigen Amethysten, die sich abwechselnd folgen.
Das Pyramidendiadem liegt weit hinter den Glastürmen.
Und der Paramidenring wird wieder von Perlenfeldern umrahmt. Es sind aber schwarze sehr höckrige Perlen, zwischen denen vereinzelt wie Thränentropfen kugelrunde rosafarbige Perlen schimmern.
Und Kaidôh schwebt noch höher und empfindet das Ganze als grossen Tortenstern.
Hinter den schwarzen und roten Perlen recken sich aber noch in der Runde in regelmässigen Abständen sieben weisse Zungen vor, deren lange lange Spitzen hoch aufragen —  wie die Spitzen der Schnabelschuhe.
Die spitzen Zungen sind weiss wie weisser Sammet und übersäet von vielkantigen dunkelrot glühenden Granaten; das Weisse herrscht aber wie Schnee leuchtend vor —  so viele Granaten sinds nicht.
Neben den Zungen ist tiefschwarze Nacht ohne Stern.
Ein siebenzackiger Tortenstern liegt unter Liwûna und Kaidôh.
Von den Glastürmen sind nur die Kappen der balkenförmigen kleineren Türme zu sehen —  die sprühen aber ihr buntes Licht in Scheinwerfern durch das graue Wolkenreich, so dass das auch zuweilen ganz bunt wird —  bunter als alles Andre.
Der Wolkenring wechselt jetzt immerzu die Farben —  öfters ist er schwarz und weiss gestreift.
Auf den Spitzen der sieben weissen Schnabelzacken sitzen wie feine hohe Federsträusse blutrote Kometenschweife.
Durch die hochaufragenden Schnabelzungen mit den weit hinaus ins Weltall steigenden Blutkometen erhält das ganze Tempeldächerreich von oben gesehen die Form einer seltsamen Himmelsblüte.
„Du hast wohl schon,“ sagt Liwûna, „ganz und gar vergessen, dass Du das Gewaltigste suchtest —  nicht so, Kaidôh? Du wolltest Dich mal mit dem Unnennbaren, der Alles ist, vereinen. Das liegt nun hinter Dir, nicht wahr? Du musst nicht so masslos in Deiner Gier sein. Verbinde Dich doch mit dieser Himmelsblüte!“
Kaidôh sieht die Tempeldächer noch lange an, lässt das Gold und das Silber, das Blau und Grün, die Würfel Permiden Kometen Granaten und die Wolken mit den bunten Glaslichtern so recht fest in seinen Augen wirken und erwidert dann langsam:
„Diese Himmelsblüte ist ein grosses Glanzwunder —  aber sie umschliesst nicht Alles. Sie zeigt die Mannigfaltigkeit der Welt in sehr stark vereinfachter Form mit vereinfachrein Farbenspiel; durch Regelmässigkeit ist Alles vereinfacht.“
„Die Welt ist,“ spricht da hart die grosse Liwûna, „so entsetzlich grossartig, dass sie selbst von Sternriesen nur in einem vereinfachten Sinnbilde zu erfassen ist. Bedenke nur, was schon alles aus der blosen Vermischung von Farben und Formen entsteht.“
„Ich empfinde,“ fährt nun Kaidôh fort, “ diese Tempeldächer als Bestandteile von Häusern. Und alles Hausartige hat für mich etwas Schneckenartiges. Dass selbst Sternriesen noch des Hauses bedürfen, verkleinert sie in meine Augen um ein ganz Beträchtliches. Ich liebe es — ganz frei im All zu sein —  ohne beengende Kruste, die uns doch blos die Aussicht ins All —  ins Ganze —  versperrt. Ich will nun mal im Ganzen aufgehen —  und nicht in neuen Kapseln. Und daher fürchte ich, dass ich selbst dann, wenn ich mich mit dieser Himmelsblüte unlöslich für ewig verbunden hätte, genau dieselbe Sehnsucht haben könnte —  wie bisher. “
Nach diesen Worten ist es still im weiten All.

ngg_shortcode_13_placeholderDann aber hört Kaidôh ein donnerndes Lachen neben sich.
Und er fragt verwundert:
„Kann Liwûna lachen?“
Doch das Lachen tönt so laut, dass seine Worte von dem Lachen verschluckt werden.
Und während des fortwährenden Lachens neben sich wird die Himmelsblüte kleiner und kleiner —  ziemlich rasch.
Kaidôh steigt noch schneller empor.
Ihm ist dabei so, als drückten tausend Bleiwelten auf seinen breiten Rücken.
Und bald ist die Himmelsblüte nur noch ein bunter funkelnder Lichtpunkt, der sich allerdings sehr scharf von den andern weissen Sternen, die schmale ovale Form haben, unterscheidet.
Das Gelächter verhallt nach allen Seiten —  geht unter in fernen Echos —  die so bellen —  wie Hunde bellen.
„Ist das Deine Sehnsucht, die da so bellt?“
Also fragt neben Kaidôh eine spitze Stimme, er sieht aber seine Liwûna nicht neben sich und fragt traurig:
„Ist Liwûna fort?“
Und er hört die spitze Stimme sagen:
„Die Liwûna ist doch Deine Sehnsucht.“
Gleichzeitig merkt er einen Druck oben auf dem Kopf —  und er fliegt mit dem Kopfe vorn gradaus wie eine Lanze.
So blitzschnell gehts, dass ihm viele Kopfhaare ausgerissen werden.
Die schmalen ovalen Sterne, die so weiss sind wie weisse Greisenhaare, fliegen klingend rechts und links an dem grossen Kaidoh vorbei —  wie Schneeflocken im Sturm.
Und er kommt in ein andres Reich, in dem ganz andre Weltgebilde leben.
Die Luft ist da heiss und flimmert —  als flatterten überall kleine weisse Flügel.
Die Helligkeit der ganzen Gegend nimmt immerfort ab und zu —  ab und zu —  als flackerten grosse Lichter kurz vorm Erlöschen noch einmal mit aller Wildheit rauf und runter —  rauf und runter.
Es lebten in der heissen Luft lauter geflügelte Drachen mit weiiss glühenden Lichtleibern. Die Drachen schwebten nur so schnell dahin —  wie weisse Glanzlichter auf Wasserwellen. Die weissen Flügel zitterten und die weissen Lichtleiber ebenfalls —  und zwar so heftig, als befänden sich die Lichtdrachen in zuckenden Lichtkrämpfen.
Ohn Unterlass ging ein zitterndes Wetterleuchten durch die heisse Luft. Zuweilen sahs aus, als bestünden die Tiere nur aus weissen Nordlichtern; weissglühende Strahlensplitter flogen wie Pfeile hin und her.
Zuweilen spannten sich zackige Regenbogen aus Gelb und Olivgrün durch die ganze Himmelsgegend; die vergingen immer wieder so schnell —  wie sie vorkamen.
Und alle diese fabelhaften Gestalten, deren Formen sich fortwährend veränderten, hatten nichts Körperhaftes, denn sie gingen alle blitzschnell durcheinander durch, ohne sich zu schaden —  als wären die weissen Lichtgestalten nur Schattengeister.
Und Kaidôh sauste —  immer mit dem Kopfe voran —  durch diese zuckende Glanzwelt durch und kam in eine Feuerwelt hinein.
Da loderten tausend rote blaue und grüne Flammen knisternd knackend und knallend nach rechts und nach links. Und die bunten Funken stoben empor und wirbelten mit rasenden Feuerstürmen in Kaidôhs Gesicht, dass der zusammenschrak.
Ein blauer Funkenpolyp tanzte wie ein Hampelmann dem grossen Kaidôh voran, als wenn er ihm den Weg durch das Flammenreich weisen wollte.
Der blaue Funkenpolyp sprach in knirschenden Lauten, während ihm immer mehr blaue Funken sprühende Glieder aus Brust und Hinterkopf herauswuchsen:
„Fürchte Dich nicht, mein tapferer Kaidôh! Ich bin Deine tapfere Liwûna und führe Dich! Ich bin ja immer Dein Führer gewesen. Gefällt es Dir hier? Ist Dir diese Feuerwelt masslos genug? Du bist ja immer die verkörperte Masslosigkeit gewesen —  demzufolge musst Du Dich doch hier wie zu Hause fühlen.“
Und der Funkenpolyp platzte knisternd auseinander und ging auf in der Flammenwelt.
Doch die Flammen wurden plötzlich alle blau.
Und Liwûna rief:
„Siehst Du nicht, dass ich jetzt grösser geworden bin? Ich bin jetzt eine blaue Feuerwolke.“
Und die Feuerwolke ballte sich zusammen und erhielt die Form eines Igels; die blauen Stachel waren Stichflammen.
Die Flammenstachel leuchteten wie brennender Schwefel.
Der Igel sagte:
„Jetzt bin ich aufgegangen in dieser Feuerwelt. Das ist so gut wie ein Tod und eine Auferstehung. Das ist ein Beitrag zur Geschichte vom seligen Ende. Es kommt immer noch was nach. Man vereint sich nicht so ohne Weiteres mit dem grossen Ganzen; man vereint sich immer blos mit dem Grösseren und wird dann was Andres. So bin ich jetzt ein blauer Feuerigel geworden. So kann sich Deine Sehnsucht verwandeln, die mal vor langer langer Zeit einem Weibe nicht ganz unähnlich sah. Und Deine Sehnsucht wird sich noch recht oft verwandeln. Und jedes weitere Ende wird auch gleich wieder ein seliger Anfang sein. Es ist eben Alles endlos in der endlosen Welt —  auch die Anzahl der Verwandlungsgeschichten, in denen sich das ganze Leben offenbart. Wie also sollte es eine endgiltige Vereinigung mit dem All geben? Es giebt eben unendlich viele Vereinigungen mit immer grösseren Stücken vom All. Die Stücke werden aber nicht einmal die Unendlichkeit ausfüllen —  in der giebts schon kein Ende. Entschuldige, dass ich beim Reden auch kein Ende finden konnte.“
Mit diesen Worten sank der blaue Feuerigel, während seine blauen Flammenstachel glitzerten wie lachende Gesichter, in die Tiefe.
Und Kaidôh flog, als wäre durch den Fall ein luftleeres Weltloch geschaffen, so schnell mit dem Kopfe gradaus und im Bogen hinunter, dass ihm Hören und Sehen verging und er zu sterben vermeinte.
Er aber war blos in eine märchenhafte Gaswelt geraten und kam gar bald wieder zu sich.
Er hatte jedoch die Empfindung, in der Gaswelt auf dem Kopfe zu stehen oder mit dem Kopfe vorn runterzufallen; begreiflicher Weise fühlte er sich dadurch sehr beunruhigt.
Er versuchte, die Arme, die immer noch steif an seinen beiden Körperseiten hafteten, abzuschieben; seine beiden Fäuste waren noch immer fest zusammengeballt.
Das Abschieben der Arme schien allmählich zu gelingen.
Unzählige bunt schimmernde Blasen flogen um Kaidôhs Kopf, und die Form der Blasen veränderte sich unablässig; bald waren sie schlauchartig, bald kantig, bald becherförmig und bald wie Fliederblüten.
Kaidôh konnte den ewigen Verwandlungen nicht mehr folgen.
Die Gasmassen gingen immer durcheinander durch, ohne dass ihre Art dabei beeinflusst wurde.
Kaidôh sagte:
„Das sind wohl garkeine Gasmassen.“
Oft schossen alle diese Welten in einen helleren Mittelpunkt und bildeten da ein funkelndes Kaleidoskop, das dann plötzlich wieder mit dumpfem Gepuff auseinanderflog.
Und unzählige Kometen, die aus festeren Luftstoffen zu bestehen schienen, schwirrten ausserdem noch überall durch.
Die Kometenschweife waren häufig so lang, dass sie die ganze Gegend als Glanzstriche durchquerten.
Ein paar sehr heftige Kometen drehten sich so rasch um sich selbst, dass sie währenddem grossen Lichtscheiben glichen und für Augenblicke alle Aussicht versperrten.
Und Kaidôh flog kopfüber durch alle diese Welten durch und glaubte, in einen endlosen Abgrund gestürzt zu sein; es gab garkein Halten.
Da dringt ein Flüstern an sein Ohr, und er hört wieder die Liwûna sagen:
„Jetzt bin ich eine geflügelte Eidechse und durchsichtig wie reines Wasser.“
Und er sieht die Eidechse vor sich —  durchsichtig ist sie wie Wasser —  ihre Flügel aber sind so fein und zart, dass sie nur so wie Schatten hin—  und herpendeln —  wie ganz hellgraue Schatten.
Und die Liwûna sagt leise, während sie mit einem ihrer kühlen Molchfinger Kaidôhs Ohr berührt:
„Sieh da drüben das grosse Heer von himbeerroten Gasbällen —  die sind drollig! Die werden Dir was erzählen. Höre nur zu. Du wirst sie verstehen!“
Und Kaidôh hört, wie sie ganz deutlich im Chore sagen, während kleinere himbeerrote Bälle aus ihren Vulkanen herausspringen:
„Wir lassen immerfort neue Weltbälle entstehen. Aber untergehen thun die nicht. Sie verwandeln sich wohl —  das bringt sie aber nicht um. Der Tod ist uns gänzlich unbekannt. Wir müssen uns sehr wundern, dass die Artveränderung in anderen Weltwinkeln durch das sogenannte Sterben vor sich geht. Wir kennen so was garnicht. Und daher haben wir auch nicht die geringste Sehnsucht nach einer Auflösung. Die Veränderung unsres Wesens geht ja immerzu vor sich —  sogar ohne unser Zutun. Das Erzeugen neuer Weltgestalten ist uns schrecklich geläufig —  aber das Vernichten und Vernichtetwerden wird uns wohl für alle Zukunft ein Rätsel bleiben. Es schadet das nicht. Es giebt ja so viele Rätsel.“
„Da hörst Du es!“ ruft die Eidechse vor Kaidôhs Angen.
Die himbeerroten Gasbälle, aus denen fortdauernd kleinere Gasbälle vorspringen, rollen puffend und piepsend an Kaidôh vorüber; und eine Kometenjagd schiesst ihnen nach. Die Kometen ähneln schaumartigen Silberkronen und sausen bald so schnell dahin, dass Kaidôh schliesslich den ganzen Himmel nur mit dickeren und dünneren Silberstreifen durchzogen sieht.
Liwunas Eidechsenleib reckt sich und schrumpft zusammen —  ihre Flügel sind bei dem scharfen Silberlicht unsichtbar geworden.
Die Kometen sind jedoch nach kurzer Frist verschwunden, und Kaidôh stürzt weiter kopfüber in einen riesigen Trichter, dessen Wandungen aus ungezählten krallenartigen Gaspolypen bestehen —  das sind unheimliche krötenbunte Sternwelten mit sehr vielen Radaugen, deren Speichen wie Phosphorquallen gleissen.
Kaidôh stürzt immer mit dem Kopf voran nach unten und sieht, dass lange zappelnde Polypenarme ihn umhalsen, und fühlt sich um sich selbst gedreht grässlich rasch und glaubt wieder, seine Todesstunde sei gekommen.
Und er will noch sehen, und er will noch hören.
Er sieht aber nur, dass alle diese Gaswelten mit den krötenbunten zappelnden Krallen auf ihn eindringen, dass er glaubt, ersticken zu müssen. Und er hört in seinen Ohren eine fremde Stimme —  die tönt wie lauter kleine Silberglocken:
„Leben heisst: vorhersterben. Sterben heisst: vorherleben.“
„Was vorherleben?“ fragt Kaidôh.
„Das Nächste!“ tönt es wider.
Kaidôh denkt, ein Ungeheuer nahe.
Er sieht was auf seiner Nase —  ein dickes, schwarzes Tier ist es —  mit zwei langen durchsichtigen Hörnern.
Das Tier sagt:
„Ich bin Liwûna! Und ich werde Dich wieder in die richtige Lage bringen. Ich kann mich auch in kleinere Weltstücke verwandeln. Ich kann Alles. Erkennst Du nun, wie vielgestaltig Deine Sehnsucht ist? Deine Sehnsucht ist wirklich nicht in einem fort sehr gross. Bilde Dir das nicht ein. Ich werde nun zur Dampfwolke werden. Pass auf!“
Und Kaidôh sieht und fühlt plötzlich lauter heissen weissen Dampf um sich. Er bemerkt, dass seine Fäuste schon weitab von seinen Körperseiten sind.


ngg_shortcode_14_placeholderUnd er nimmt wahr, dass seine Beine mit grosser Schnelligkeit durch die Welt fliegen, während sein Kopf stille steht.
Der grosse Kaidôh hat die Empfindung, seinen Kopf wieder oben zu haben.
Und da sieht er ganz vergnügt in die Dampfwolken, die auf—  und abwirbeln —  und Liwûna sind —  was ihm unbegreiflich zu sein scheint.
„Sollte meine Sehnsucht ebenfalls unbegreiflich sein?“
Also fragt er sich selbst.
Und er hört aus den Wolken ein tausendstimmiges ‚Ja!‘ erschallen.
„Das klingt ja so,“ ruft er nun erstaunt, „als wenn Liwûna aus unzähligen Wesen bestände. Ist meine Liwûna in der Mehrzahl da?“
Und wiederum tönt ihm das tausendstimmige ‚Ja!‘ um die Ohren.
„Was ist verständlich in dieser Welt?“
Also fragte flüsternd Kaidôh —  der Riese. Und ihm wurde so kalt in dem weissen heissen Dampf, und er sagte zusammenschauernd:
„Nur Narren denken über Alles nach.“
Er wollte nicht mehr nachdenken.
Die Dampfwolken verzogen sich langsam, und ein gelbes grelles Licht drang körperhaft wie Wasser von allen Seiten rieselnd auf ihn ein.
Und er fühlte wieder wohltuende Wärme. Weiche Tropfen betupften seine Haut, sodass er wieder staunte —  denn er hatte lange nicht so deutlich seine Haut empfunden.
„Du bist mitten in einer grossen Gassonne.“
So rief ihm zischend wieder mal eine Stimme zu, die er niemals gehört hatte.
Und er sah einen Schlangenkopf vor sich —  der sprach kalt und lachend:
„Liwûna ist zur Knotenschlange geworden.“
Und er fühlte, wie ihr hellgrüner ungeheurer Schlangenleib mit den vielen Knoten sich um alle seine Glieder wand und nur die Arme und den Kopf freiliess.
In Liwûnas hellgrünem Schlangengesicht war die Schlangenhaut so fein, dass Kaidôh die schwarzen Adern deutlich unter der Haut sehen konnte; er sah in den Adern das schwarze Blut dahinströmen wie wilde Wasserfälle; er unterschied sogar weisse Schaummassen in den schwarzen Fluten.
Die Schlange sagte ruhig:
„Du hast gehört und hast gesehen, dass ich in sehr vielen Gestalten Dir erscheinen kann. Ich kann Dir in unendlich vielen Gestalten erscheinen. Wenn Deine Liwûna das schon kann, denkst Du da, dass grosse Sterne das nicht auch können? O ja —  sie können das. Jedes Stück Welt erscheint anderen Sinnen anders. Da das Erscheinen aber ein Sein ist, so ist jedes Stück Welt auch immer wieder etwas Andres, in jedem Augenblick —  zu gleicher Zeit das Eine und auch das Andre —  Alles, was es scheinen oder sein kann —  ist es auch immer. Und was vom Stück gilt, wird wohl vom Ganzen erst recht gelten. Auch der Allgeist ist nur in unendlich grosser Mehrzahl zu denken. Und mit einem so unbegreiflich grossen Geiste willst Du Dich vereinen? Weisst Du, wie Dein massloser Wunsch zu behandeln ist? Ich dächte, du könntest Dir die Frage selber beantworten.“
Kaidôh sah, dass Liwûnas Schlangengesicht immer wilder blickte, ihre zwei grossen Augen wurden ganz weiss und traten weit vor. Die schwarzen Adern schwollen heftig an. Und der Riese Kaidôh hatte ein Gefühl, als würde ihm der ganze Rumpf durch den Schlangenleib vom Kopfe getrennt —  er fühlte seinen Rumpf nicht mehr und glaubte, nur noch Kopf zu sein und weiter Nichts.
Und ihm gingen die Gedanken ganz und gar durcheinander, und es befiel ihn plötzlich eine zuckende Angst —  Angst vor dem Wahnsinn.
Und er rief laut:
„Liwûna! Liwûna! Ich will nicht mehr das Ganze. Es ist zu gross. Es ist zu viel. Ich will nur einen Teil —  nur ein Stück von der Welt. Ich will nicht mehr das Gewaltigste.“
„Was willst Du also?“ fragte die Liwûna rauh.
„Ich will,“ erwiderte der Kaidôh scheu, „eine vereinfachte Welt. Und mit der will ich zusammen eins werden.“
Und Kaidôh fühlte wieder seinen Rumpf unter sich aber seine Fäuste schienen ihm noch weiter entfernt zu sein —  seine Arme standen steif im rechten Winkel zum Körper.
„Eine einfache gewaltige Stunde!“
Also schrie Kaidôh in grässlicher Angst.
Und die Knotenschlange verschwand.
Alles wurde dunkel.
„Ich will sterben,“ flüsterte der grosse Riese, „denn das Leben ist zu schwer zu ertragen. Der rasende Wirrwarr ist zu gross. Man verliert zu oft den Kopf, und Alles wird sinnlos. Und ich sehne mich doch nur nach der gewaltigen Stunde —  und die finde ich doch nur —  wenn ich sterbe.“
Seine letzten beiden Worte klangen dumpf hallend durch die Finsternis, und ferne Echos riefen höhnisch zurück:
„Ich sterbe! Ich sterbe!“
Und er fliegt lange dahin ohne jeden Gedanken —  in die Finsternis.
Dann aber fühlt er, dass er nur mit Mühe weiter kann. Er muss stehen bleiben.
Er versucht, die Fäuste aufzumachen und die Finger auszuspreizen, als wenn er Halt suchen möchte —  da er ja keinen Boden unter den Füssen fühlt.
Und er kann die Fäuste aufmachen; es geht so ganz allmählich.
Und ihm ist so, als hänge er in der Finsternis.
Und er weiss nicht, wo er ist.
„Ich wusste,“ sagte er, „allerdings niemals, wo ich war. Das weiss ja Keiner. Daran muss man sich gewöhnen.“
Winde pfeifen um seine Ohren.
Und bald braust ein Sturm heulend durch die finstre Welt.
Es dröhnt in der Ferne, als würden gewaltige Schlachten geschlagen, und es knattert, als platzten grosse Granitsterne entzwei. Und dazu pfeift es gellend in keifenden hohen Tönen. Und es knallt und faucht und stöhnt und rasselt. Und es knistert, als flögen brennende Funken durchs All. Und dann bricht was Grosses zusammen, dass Milliarden Scherben durcheinander splittern.
Und bei alledem ist es stockfinster.


ngg_shortcode_15_placeholderUnd dem Kaidôh wird das Sturmgetöse unerträglich, er ruft weich:
„Liwûna! Das ist zu viel! Mach den Sturm einfacher! Mach ihn zur Musik mit Melodieen, denen ich folgen kann.“
Und der Sturm wird zur Musik mit langen weichen Tönen.
Unzählige Geigen erklingen und wiegen sich und schaukeln sich und schwirren, und die Töne dehnen sich aus und schwellen an und jubeln auf und klagen und summen und ziehen wieder hinaus in die Ferne in langen Zügen —  in die Unendlichkeit hinein.
Und Kaidôh wird von so vielen Empfindungen bestürmt, dass er sie nicht auseinanderhalten kann und unter dem Wirrwarr der Empfindungen ebenso leidet wie unter dem rasenden Sturmgepolter.
Der grosse Riese glaubt, die Musik wolle die Unendlichkeit auflösen, er aber kann alles Unendliche nicht mehr ertragen. Er flüstert wieder wie zu sich selbst: „Auch das ist zu schwer für mich!“
Und dann sagt er, wie die Gegenwinde immer weiter anschwellen und ihn immer weiter fortzuziehen suchen: „Liwûna, gieb Worte dazu!“
In der dunklen Ferne sieht er einen langen dünnen Stab —  gebildet aus lauter blutroten Rubinen —  auf—  und niedersteigen —  auf—  und niedersteigen —  wie ein Taktstock.
„Das ist ein Scepter!“ hört er die Liwûna neben sich sagen.
Er wundert sich nicht, dass sie das neben ihm sagt, während doch das Scepter so weit weg ist. Er will nur noch Worte hören.
Und er hört Worte.
Viele Männerstimmen singen.
Das Erste versteht er nicht —  es ist ein vielstimmiger Gesang —  und sehr gedämpft ist er.
Wie sie aber lauter singen, versteht er —  diese Verse:

„Wir mussten neulich so furchtbar lachen:
Ein Alter sprach so voll Herzeleid;
Er wollte die herrlichsten Verse machen
Zum Lobe der tiefen Unendlichkeit.
Ihm aber gelang nicht das kleinste Gedicht,
Und dazu schnitt er noch ein Gesicht,
Als wenn die Unendlichkeit böse wär.
Ach Alter, wo kamst Du eigentlich her?
Mach Dir doch nicht das Leben so schwer.
Was machst Du blos für Sachen?
Man muss ja so furchtbar lachen.“

Die Geigen summten weiter, doch die Töne schliessen sich nicht mehr zu Melodieen zusammen.
Liwûna sagt:
„Du hörst nur Kopfnaturen in der Finsternis.“
Kaidôh denkt an die schlafenden Sternriesen und findet es seltsam, dass er selbst so lange ohne Schlaf durch die Welt schwebte. Er vergleicht das Sterben mit dem Einschlafen, wird aber durch ein Trompetengeschmetter aufgestört. Helle Hörnerklänge jubeln dazwischen. Die Geigen sind nicht mehr zu hören.
Mit einem Male wirds still, und tiefe Männerstimmen sprechen im Chor:

„Diese ganze Welt ist nur Sein Alltagsmantel,
Und wir Alle sind nur schlechter Zwirn.“

Tausend Echos hallen die Worte auf allen Seiten wider. Und es erklingen helle Glocken in einer lustigen Klimpermelodie. Dem Kaidôh kommt das Geklinge so bekannt vor. Tiefe Frauenstimmen singen dazu:

„Du kannst die ganze Welt verstehen,
Wenn Du vermagst, sie schweigend anzusehen.
Doch rufst Du dabei mal: Ich habs!
So kriegst Du einen derben Weltenklaps.“

Kaidôh will lächeln, denn er sieht ja nichts.
Er bleibt finster.
Die Glocken verstummen.
Eine tiefe Bassstimme, die so knarrt, spricht vertraulich in Kaidôhs nächster Nähe:

„Umfangreich sind die Weltengräber,
Aber wen verblüfft das noch?
Jeder schneidige Alldurchstreber
Findet unten doch ein Loch
In dem grossen Grabestrichter.“

 


ngg_shortcode_16_placeholderEs bleibt nach diesen Worten ein fernes Brummen wie von Bienenschwärmen in der Finsternis, und Kaidôh denkt wieder an den Schlaf und möchte träumen. Und er träumt von weiten Wunderländern, die er noch nie gesehen hat, und ihm ist plötzlich so, als offenbare sich ihm plötzlich das ganze Allwesen, und es durchrauscht ihn; es wird ihm Alles so klar —  traumklar.
Da weckt den Träumer ein zwitscherndes Flötengedudel, und lachende Kinderstimmen singen zu den Flötentönen:

„Gross ist das Weltensein!
Alles gehört hinein.
Gestern noch kam ein Kind,
Schrie wie ein wilder Wind,
Pries den ganzen Weltenlauf,
Blies sich dabei drollig auf,
Tat, als läge jede Note
Fein seciert auf seiner Pfote,
Und sprach von einem Wunderland,
Das allen Weisen unbekannt,
Als wärs fürwahr sein Vaterland.
Wir sagten: So —  so —  so!
Du bist recht zauberfroh!
Und das jenseits war seine Mütze.
Das Bekannte nannte er Pfütze.
Kindchen, lass das Schreien bleiben,
Sonst wird Dich ein Floh vertreiben.“

Und die Flöten dudeln —  und entfernen sich nach allen Richtungen.
Es steckte eine Marschmelodie in den Versen.
„Köpfe können doch nicht marschieren!“ sagt Kaidôh.
Er wagt es nicht, noch einmal zu träumen.
Tiefe Frauenstimmen sprechen im Chore:

„Dunkel bleibt uns immer was.
Doch es giebt ein Träumen
Ueber allen Räumen.“

Nachdem die Echos auf diese Worte lange nachgehallt haben, ist das Bienengebrumm abermals zu hören.
Es wird etwas heller.
Dumpfe Pauken dröhnen in der Ferne, und Trommeln rasseln wie Ketten, und zu dem Getöse singen viele Stimmen schreiend durcheinander:

„Jede tolle Narrenpein
Wird ja wohl notwendig sein.“

Diese Verse werden sieben Mal wiederholt, und die Stimmen —  es sind lauter Knabenstimmen —  schreien jedesmal lauter, sodass der Gesang schliesslich zum Gekreisch wird, das schliesslich in Gewimmer umkippt und dann plötzlich weg ist.
Und nun wirds allmählich hell.
Und Mondlicht umfliesst den grossen Kaidôh.
Es wird so still, dass Kaidôh sein Herz klopfen hört.


ngg_shortcode_17_placeholderMit weit ausgebreiteten Armen dreht sich der Riese langsam um sich selbst.
Und er sieht in der Runde in sieben tiefe Schluchten, in denen Nebelschatten geisterhaft auf und nieder gleiten. Im Mondenschein glänzen die Nebel wie bewegte Schleiergebilde —  wie geisterhafte Rauchgewänder.
Hier ist Alles so ruhig wie auf einem Friedhof.
Zwischen den Schluchten liegen grosse Bergnasen im hellen Mondenschein —  Gletscher, die aus unzähligen Sternen bestehen.
„Ich suchte vielleicht doch nur das Stille!“ flüstert Kaidôh, und seine Augen irren über die Mondscheinpracht, und er geht ganz auf in dieser Glanzwelt, in der die Geheimnisse des ganzen Alls zu schlummern scheinen. Er vergisst sein ganzes Leben.
Und nach einer Weile spricht er fragend:
„Die gewaltigen Stunden des Lebens —  sollten sie immer stille Stunden sein?“
Die Bergnasen sind ihm so nahe.
Und nun sieht er die Gletscher in zitterndem Zauberschein —  so glanzreich.
„Irrsinnige Schönheit!“ flüstert er zaghaft.
Und er wagt nicht zu atmen. Er dreht sich langsam, ohne es zu wollen. Und seine Augen verlieren sich in den glänzenden Gletschern, die hoch aufragen —  und seine Augen verlieren sich in den Schluchten, die tief hineingehen in Nebelreiche.
Und aus den Nebeln der sieben Schluchten kommen nun sieben grosse Walfische —  sie schwimmen in den Nebeln, als wären sie im Wasser. Schwarz und weiss schachbrettartig karriert ist das Fell der Walfische. Wie sie mit den grossen dicken Köpfen aus den Schluchten heraus sind, heben sie die Schwänze hinten hoch auf, sodass ihre Leiber krummen Schwertern nicht so unähnlich sehen.
Und nun sprechen die Walfische im Chore, während sich Kaidôh noch immer langsam mit ausgebreiteten Armen um sich selber dreht:

„Ja nun wollen wir singen das lange Lied,
Das so still wie ein Schwan durch das Weltmeer zieht,
Unser Lied von der sternraumentrannten Zeit
Mit der weiterhinflammenden Ewigkeit.“

Das klang so dunkel und schwer, als hätten die grossen Tiere grosses Leid zu tragen.
Nach einer längeren Pause, in der sich Kaidôh nicht mehr dreht, flüstern die Tiere —  geheimnisvoll wie Mondscheinnebel;

„Morgen Heute Gestern
Sind drei liebe Schwestern,
Aber nicht die Ewigkeit.
Wir aber wollten zum Herzen des Lichts
Und da die Ewigkeit umfassen.
Urplötzlich aber begriffen wir Nichts
Und mussten alles Denken lassen.“

Der Riese horcht und schaut die Tiere lange an, deren weisse Hautquadrate heftig leuchten im Mondenlicht, während die schwarzen dunkler sind als alle Andre.


ngg_shortcode_18_placeholderSodann spricht ein Walfisch allein —  seine Stimme dröhnt so wie tausend rauhe Bässe:

„Als langes wüstes Träumen
Erschien uns alles Leben.
Stumpf wie altes Weltgewürm
Schwammen wir nun ohne Worte
Durch den langen Himmelsraum,
Kamen so an eine Pforte,
Deren weite Schallgewölbe
Auf Säulen ruhten, die aus Glas bestanden
Und blitzten, dass wirs überall empfanden.
Als wir nun sehr bald bemerkten,
Dass die Schläge sich verstärkten,
Riss uns die Geduld —  wir schimpften;
Unsre dicken Walfischfelle brannten.“

Nach diesen sehr kräftig gesprochenen Versen räusperten sich die Wale, wackelten bedächtig mit den hinten hoch anfragenden Schwanzflossen hin und her und sprachen —  abermals im Chore:

„Und mit vielen Donnerworten,
Die wir itzo singen werden,
Brüllten uns die Säulen an.“

Dröhnend sprach hiernach der Walfisch mit der rauhen Bassstimme:

„Es sangen die Säulen!“

Und im mächtigsten Posaunentone sangen die Walfische, was die Säulen gesungen hatten:

„Also scheuert Ihr nicht ab
Eure Weltnatur.
Diese Pforte sei für Euch
Starres Sinnbild nur
Und ein Jenseitsgruss.
Denn hier geht es zu den Weltgesichtern,
Die auch hinter allen Räumen lachen,
Und auch hinter allen Farbenlichtern
Leben aus den Sehnsuchtsträumen machen.
Zwar zu der Jenseitsherrlichkeit
Kommt ganz allein die Weltenzeit.
Die geht so leicht durch diese Pforte
Und weilt an manchem Wunderorte;
Sie hängt beinah an jeder Weltallsfalte,
Nicht nur an der, die sich mit Sternen schaukelt;
Sie ging nach vielen Seiten,
Ohne zu verschwinden,
Und pflegte fortzuschreiten,
Ohne wegzugehen.
Die in Räumen sich befinden,
Werden niemals das verstehen.
Es schwebet die leichte Unbekannte
Nicht über dem ganzen Allgewande,
Doch hat sie viel davon gesehen.
Wollt Ihr das Ganze sehen, seht Ihr Nichts,
Wollt Ihr das Ganze hören, hört Ihr Nichts.
Ihr schwimmt im räumlichen Faltenschooss
Und wisst von Formen und Farben blos.
Und die andren Höhen Weiten und Tiefen,
Die im Allgewande wachten und schliefen
Und weder Höhen, noch Weiten, noch Tiefen sind —
Für Euch sind sie nicht da.
Ihr wisst nicht, was geschah.
Was wisst Ihr von dem Ganzen?
Mit dem könnt Ihr nicht tanzen.
Doch hier vor unsrer Säulenpforte
Entwickelt sich ein Ahnungsspiel
Von andrer Sinne Sehnsuchtsziel.
Atmet doch in jedem Augenblick
Noch manches andre Weltgeschick,
Das weder Lichter noch Schatten kennt
Und nicht vom Einen zum Andern rennt.
Und jede selige Stunde
Wird von dem Ahnungsspiel durchglänzt,
Dass eure Sehnsuchtsallkunde
Sich licht—  und schattenlos ergänzt.
Ja, nur Zeit und Ewigkeit
Stehn mit einem Bein in andren Sphären,
Des Gewürmes Wenigkeit
Soll in Sehnsucht sich verzehren
Und ein Ahnungsspiel gebären.
Diese Pforte sei für Euch
Starres Sinnbild nur
Und ein Jenseitsgruss
Von der Allnatur
Mit den Faltengebilden
Aus den Rauschglanzgefilden.“

Nach diesem langen Gesange rufen die Wale sämtlich, als wär ihnen ein Stein vom Herzen gefallen:

Schluss!

Es steckte viel Trutzigkeit in diesem kleinen Wort.
Und die sieben Wale im karrierten Fell kommen mit ihren dicken Köpfen dem Kaidôh in Brusthöhe ziemlich nahe, sodass die Köpfe einen Kranz um seinen Oberkörper bilden. Während sich nun Kaidôh mit ausgebreiteten Armen um sich selber dreht, steichen seine Hände, ohne dass ers will, über die Köpfe der Wale.
Und die Wale sinken nach dieser Berührung langsam in die Tiefe, in der ein blutrotes Rubinmeer funkelt. Die blutroten Rubine sind natürlich lauter grosse Sterne.


ngg_shortcode_19_placeholderKaidôh kann nicht den Kopf bewegen und sieht so nichts von dem Meere. Er hört nur unten die Wale noch einmal singen.
Der Gesang klingt so lächelnd.
Die Wale singen:

„Nun schwimmen wir wieder ohne Begehren,
Wir ahnen der Welten Sehnsuchtsziel —
Und wollen uns Garnichts weiter erklären,
Wir bleiben beim grossen Ahnungsspiel.
Und thun wir auch vielen Skorpionen leid,
Wir sind doch die Weisen —  im Narrenkleid.“

Es hallt lange in den Schluchten nach.
Die Wale tauchen im Rubinmeere unter, und klatschend schlagen die Rubinwogen über den schwarz und weiss karrierten Leibern zusammen. Ein Brausen steigt empor und weckt in den Schluchten dumpfes Donnergetöse.
Kaidôh reisst weit seine beiden Augen auf, dass sie leuchten wie Phosphorsonnen und aussehen, als sähen sie Unsägliches.
Der Mondschein zergeht. Oben im Himmel erscheinen viele Sterne. Und ganz hinten über den sieben Schluchten erscheinen sieben ungeheure Sternriesen mit Raketenarmen und unzähligen Köpfen, die goldene Hörner haben und bunte Brillantenaugen. Die Leiber der Riesen sind goldene und silberne Astknorren, um die sich Opalschlangen winden. Und Alles funkelt und glitzert. Die blauen und roten und grünen Sternfarben brennen gewaltig in die Nacht hinauf.
Die Bergnasen und die Schluchten sind dunkelbraun und nicht sehr hell.
Kaidôh sagt leise:
„Nun will ich das Letzte!“
Da spricht der Sternriese, der zuerst erschien:

„Ja! Wir Grossen preisen nie das Letzte,
Denn das Letzte giebt es nicht.
Wen das Unbegreifliche verletzte,
War noch nie ein Rauschgedicht.“

Kaidôh versucht, seine Arme zu heben, und will damit sagen, dass er auch das Unbegreifliche empfangen wolle mit weit offenen Armen.
„Es muss aber doch einen Abschluss geben!“ ruft er heftig beim Armheben aus.
Und der zweite Sternriese erwidert ihm:

„Das Unaufhörliche durchlacht auch diesen Raum,
Und nur ein Farbenspiel ist jeder Todestraum.“

Kaidôh bemerkt, dass die Sternriesen ganz einfach sprechen —  trotz ihrer vielgestaltigen Körper. Und er fühlt, dass ihm die einfache Sprache der Sternriesen so wohl thut —  er wollte ja das Einfache.
Nun wird ihm die ganze Welt immer einfacher.
Und er will nur noch das, was doch geschieht.


ngg_shortcode_20_placeholderIn seiner Nähe weilt wieder seine Liwûna. Wohl sieht er sie nicht, jedoch er fühlt sie wie einen kühlen Luftzug, und sie spricht feierlich:
„Jetzt kann ich Dich verlassen.“
Und sie thut, wie sie sagte.
In der Ferne hört er sie noch einmal in schweren Tönen rufen:
„Kaidôh! Kaidôh!“
Er will sie noch einmal sehen und ruft:
„Liwûna!“
Indessen —  nur Echos antworten in der Ferne.
Die Echos wollen garnicht aufhören, rufen immerzu:
„Liwûna! Liwûna!“
Wie die Echos nur noch ganz schwach aus der weiten Ferne über die Berge herübertönen, spricht Kaidôh still zu sich selbst:
„Ist Liwûna ein Echo geworden? Ein Allecho? Ein Sehnsuchtsallecho?“
Und er denkt über die Sehnsucht nach und möchte wissen, ob ihre Macht so weit reicht wie Zeit und Ewigkeit.
Und der dritte Sternriese giebt ihm Antwort —  in leichten Worten —  diesen:

„Nur wo immer viele Dinge
Gründlich sich verändern sollen,
Fühlt die Sehnsucht sich zu Hause.
Ist der Wandel der Erscheinung
Gründlich eingeleitet worden,
Macht die Sehnsucht, dass sie fortkommt.“

Kaidôh hebt seine Arme höher und versucht die Finger noch immer weiter auszuspreizen —  ihm ist, als würden sie immer länger.
Und er fühlt sich so frei.
Er spricht nach ein paar stillen Augenblicken hart und deutlich:
„Der Schatten ist fort. Nun ist Alles einfach. Ich bin allein“
Und der vierte Sternriese flüstert, dass es zischt:

 

Doch glaube nicht,
Dass dies das Letzte sei.
Dem Letzten folgt
Noch immer Mancherlei.“

ngg_shortcode_21_placeholderAus den Schluchten dringen Töne an sein Ohr, die er nicht versteht —  sie sprechen von Tod und Einsamkeit —  von rasendem Rausch und festlichem Zusammenbruch. Und die Töne stören den grossen Kaidôh; er empfindet, dass er bereits in seiner gewaltigen Stunde lebt —  und er empfindet gleichzeitig schmerzlich, dass dem Gewaltigen noch etwas fehlt —  dass es noch nicht voll ist —  dass ers noch nicht vollendet nennen kann.
Er hebt die Arme höher und höher.
Es wird heller auf den Bergnasen und in den Schluchten, die den grossen Kaidôh wie Radspeichen anmuten.
Und der fünfte Sternriese brüllt heftig:

„Es giebt auch keine vollendeten Sachen;
Die Kugeln drehen sich zu viel,
Die Weisen müssen zu viel lachen.“

Ein Ahnungsspiel entwickelt sich vor Kaidôhs Augen; er bildet sich ein, Geister zu bemerken und diese Geister mit Sinnen wahrzunehmen, die er bislang nicht gekannt und nicht besessen hat. Und er hat die Überzeugung, tiefer ins All blicken zu können, und es durchzuckt ihn: er erkennt in der Tiefe des Alls einen grossen Riesen, der ganz allein da sitzt und sich nicht rührt. Und er hält diesen einsamen Riesen für die grosse Ruhe, die da kommen soll in dem Reich, das weder Licht noch Schatten kennt. Und er bildet sich trotz Allem wiederum ein, das Ganze verstanden zu haben.
„Er ist allein und ruhig!“ sagt Kaidôh.
Aber der sechste Sternriese brüllt wie ein Donnerwetter:

„Auch in jenem Jenseits,
Das wir hinter Licht und Schatten wissen,
Ist die grosse Welt kein Ruhekissen;
Das Unaufhörliche kann nie vollendet sein.
Durch Schlaf und Tod gehts nur zu neuer Lebenspein
—  Aber auch zu neuer Lebenslust — „

Kaidôh hebt die Arme ganz hoch, dass sich seine Hände hoch überm Kopfe beinahe berühren.
Er wartet auf einen Augenblick, der gewaltiger ist als alle andern.
Die Sternriesen verblassen allmählich.
Die Bergnasen kommen noch näher.
Der siebente Sternriese spricht —  mit abgewendeter Stimme:

„Wo du auch hinüberfliehst,
Niemals kommst du an das letzte Ziel!
Preise jede Welt und auch die Sterne.
Alles, was du hier so siehst,
Ist ja nur ein feines Lichterspiel,
Eine grosse Wunderweltlaterne.“

Und Kaidôh fühlt, während die Bergnasen immer näher und näher kommen —  auf seinen Fingerspitzen und auf seiner Kopfhaut einen scharfen Druck.


ngg_shortcode_22_placeholderUnd er fühlt Boden unter seinen Füssen.
Rauschende Lichtfülle bricht hernieder und macht die Bergnasen und die Schluchten ganz hell —  so hell, wie’s tausend Sonnen kaum vermögen.
Kaidôh ist nicht geblendet: er sieht seine Welt in einem neuen Licht.
Die Bergnasen sind keine Gletscher mehr, es sind bunte Fliesenterrassen mit bunten Wasserfällen und bunten Springbrunnen, mit Blumenhecken und spiegelnden Teichen, mit Turmkanten Gallerieen Säulenhallen und blanken Treppen.
Ein glänzendes Fliesenreich!
Da sind keine Häuser, die Kaidôh nicht mag, da sie an schwerfällige Schnecken und Schildkröten erinnern. Und doch bildet das Ganze ein grosses Bauwerk mit sieben Terrassennasen und mit sieben Terrassenschluchten.
Und Kaidôh jauchzt.
Diese Welt ist einfach.
Mit dieser einfachen glänzenden Terrassenwelt kann er sich verbinden —  mit all den bunten Fliesen, die so einfach sind, kann er Eines werden.
Und er wirft den Kopf ins Genick —  das geht langsam nur —  doch es geht.
Die Sternriesen sind unsichtbar.
Der Himmel ist dunkelblau und so voll leuchtender Strahlenglut —  wie ein ewiges Rauschdach.
Und Kaidôh sieht oben aus seinen Fingerspitzen weisse Flammen herausflackern.
Und er fühlt, dass seine Hände brennen.
Und er jauchzt.
Er fühlt seine Hände nicht mehr —  er fühlt Fliesenterrassen.
Und er jauchzt.
Und seine Arme brennen.
Und es brennt seine Stirn —  und er sieht nicht mehr mit seinen alten, grossen Augen.
Unter seinen Fusssohlen fühlt der brennende Kaidôh Eiseskälte —  das Rubinmeer ist gefroren.
Weisse Flammen lodern um Kaidôhs ganzen Leib.
Aber nun beginnt ein neues Sehen und ein neues Fühlen für den grossen, lodernden Kaidôh —  er sieht mit Fliesenaugen in die hohe Welt —  und er fühlt mit den sieben Terrassennasen.
Während sein Riesenleib in hell blitzenden weissen Lichtflammen verbrennt, verbindet er sich mit den sieben Terrassennasen und mit den sieben Terrassenschluchten.
Und er schaut anders in die hohe Welt —  als ein buntes einfaches Fliesenrad.
Und die Eiseskälte unter seien Füssen zerfliesst —  er geht ganz auf in dieser vereinfachten Welt.
Die Bergnasen mit den Schluchten erwachen zu einem neuen Leben —  und ihnen ist so als hätten sie lange geträumt.
Und das ganze Rad dreht sich und funkelt —  und schwankt nun mit den sieben Sternriesen zusammen hin und her —  hin und her —  hin und her.
Das ganze Rad dreht sich und funkelt.
Die Sternriesen drehen sich langsam mit und funkeln auch.
Und das Rad schwankt mit den sieben Sternriesen zusammen hin und her und schwebt dann weit hinüber in die Nacht hinein, dass die ganze lichtrauschende Weltblüte bald so klein erscheint —
—  wie ein einfacher Lichtpunkt.


Index:Bucher – Liwûna und Kaidôh

alle Texte von Paul Scheerbart – ein fognin Projekt – bitte unterstützen:

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