Cervantes

Paul Scheerbart

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Cervantes

VORWORT

ngg_shortcode_0_placeholderEin Abenteuer seltsamster Art, das ich in einfa­cher sehlichter Form im folgenden wiedergeben will, brachte mir den Schöpfer des komischen Romans, Don Miguel de Cervantes Saavedra, so nahe – wie ich’s mir immer gewünscht hatte. Ich hoffe, dass der grosse Spanier durch die Erzählung meines Abenteuers auch dem geneig­ten Leser so nahe gebracht wird – wie mir selbst. Ich habe mich im äusserlichen an die Art des Don Quichotte angelehnt. Da ich aber na-turgemäss meine Erzählung nicht dem spani­schen Meisterwerk entsprechend in vier Bänden niederlegen konnte, so habe ich mich darauf be­schränkt, das vorliegende Buch in vier Kapitel zu teilen. Statt der Kapitelzahlen habe ich Buchsta­ben gewählt – und zwar in jedem Viertel die neun Buchstaben, die im Namen des spani­schen Dichters enthalten sind; diese Ovations­manier war bekanntlich im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert sehr gebräuchlich -und schien mir darum hier erlaubt zu sein.

Charlottenburg, 23. März 1904 Der Verfasser


DAS ERSTE VIERTEL

C

Handelt von der Schmiede und von den starken Schmiedegesellen.

ngg_shortcode_1_placeholderDunkelrot ging der Vollmond über den Wiesen auf. Aber nur die obere Hälfte des Vollmondes war sichtbar. Und das machte sich sehr geheim­nisvoll. Ich kam vor die grosse Schmiede des Herrn Sandmann und sah den Herrn Sandmann vor seiner Türe stehen, die Pfeife rauchen und in die Abenddämmerung hineinschauen. In der grossen Schmiede glühten dunkelrot auf zwanzig Ambossen starke Eisenstangen. Und starke Schmiedegesellen schlugen mit ihren Bei­len auf die dunkelrot glühenden Eisenstangen los, dass die Funken nur so rumspritzten. Ich begrüsste den Herrn Sandmann und sagte leise: »Könnten Sie mir nicht ein paar Spanier, die vor dreihundert Jahren in Spanien die Ta-gesgrössen vorstellten, aus der Unterwelt her­aufholen?« »Da sind Sie«, versetzte jener ruhig, »vor die richtige Schmiede gekommen. Das wollen wir gleich besorgen.« Und der Herr Sandmann befahl seinen Ge­sellen, mit dem Hämmern aufzuhören, Hess mich in die Schmiede hinein und Hess die gros­sen Türen gleich hinter mir zuschliessen. Dann wurden die Ambosse etwas zur Seite geschoben, und die zwanzig Gesellen mussten sich mit zentnerschweren Stampfeisen im Kreise aufstellen. Der Herr Sandmann erweiterte den Kreis, bis er einem Eiumriss ähnlich sah, und Hess dann seine Gesellen den Erdboden zerstampfen – aber so, dass alles bullerte. Und dann gab’s einen Knacks in der Mitte, und die Erde brach auf, und ich sah eine Lanze und ein umgestülptes Seifenbecken – das hob sich immer höher – und darunter sah ich dann den alten Don Quichotte de la Mancha, hinter ihm Sancho Pansa und vor ihm den Dichter Cervantes. Alle drei sassen auf dem Rücken des alten Rosinante, der jedoch schneeweiss und so gross wie zwei alte Elefanten war. Die Schmiedegesellen verzogen keine Mie­ne. Ich aber war sprachlos.


E

Handelt von den drei alten Spaniern, die von ih­rem weissen Pferde langsam heruntersteigen.

ngg_shortcode_2_placeholder»Da sind wir wieder mal aus dem Boden ge­stampft!« sagte der dicke Sancho Pansa. »Aber meine Herren«, fuhr er fort, »bringen Sie eine Leiter, damit wir langsam herunterstei­gen können. Ich wäre ja wohl imstande, an dem langen vollen Schweife des Rosinante hinabzu-klettern, aber mein Herr, der Don Quichotte de la Mancha, würde das Klettern nicht für ritterlich halten, und unserm Dichter, dem Herrn Cervan­tes Saavedra, dürfte das Klettern schwerfallen, da er ja seine linke Hand in der Schlacht bei Lepanto anno 1570 verloren hat; der ganze linke Arm ist ihm heute noch steif. Wäre der Ro­sinante nicht in den dreihundert Jahren so ge­wachsen, so wäre die Leiter natürlich nicht nö­tig. Ich glaube, dass nach dreitausend Jahren der Rücken des Rosinante so gross sein wird wie die Provinz la Mancha, so dass man Städte auf dem Rücken unsres unsterblichen Schimmers erbauen könnte.« Don Quichotte sagte ernst mit seiner knar­renden Stimme: »Mein Sohn Sancho, du bist hier nicht in einer Volksversammlung! Rede nicht immerzu -das schickt sich doch nicht.« Währenddem hatten die Gesellen die Leiter gebracht, und Cervantes stieg gewandt, wenn auch langsam, herunter. Unten angekommen, zog er gleich seinen Degen, so dass ich recht erschrak. Aber der spanische Dichter sagte zum Herrn Sandmann: »Bitte, lassen Sie den Degen putzen und schleifen. Unter der Erde rosten die Eisensachen immer noch; es ist recht unangenehm.« Währenddem stieg Don Quichotte sehr langsam und umständlich auf der Leiter herun­ter, da er durch Schwert, Schild und Lanze recht behindert wurde. Ich stellte mich nun dem Dichter Cervantes vor, indem ich meinen Namen sagte; wir nah­men dabei unsre Zylinder ab. Da rief der Sancho, der jetzt auch recht ge­mächlich auf der Leiter herunterstieg: »Mein Herr Cervantes trägt einen schrägen Zylinder vom Jahre 1604. Aus welchem Jahre stammt Ihr Zylinder?« Diese Frage war an mich gerichtet, und ich antwortete errötend: »Aus dem Jahre 1888!« Ich konnte nicht anders, da ich gewohn-heitsmässig stets die Wahrheit sage. Sancho aber bemerkte, als er den Erdbo­den betrat und auf mich zukam: »Ein sehr ehrwürdiges Alter hat auch Ihr Zylinder. Alle Achtung! Eine Jahreszahl mit drei Achten.« Da lachten die Schmiedegesellen im Chore. Und ich lachte mit.


R

Berichtet vom Hufbeschlag und von den Eisbei­nen und von der Jugend des Cervantes.

ngg_shortcode_3_placeholderDon Quichotte wurde befragt, ob sein Ritter­schwert auch geputzt und geschliffen werden müsste, was jedoch der edle Ritter ernst vernein­te. Aber der Rosinante sollte neue Hufe be­kommen. »Die müssen gross sein!« rief der Herr Sandmann und Hess den Schimmel in den Hin­tergrund führen, allwo man gleich mit der schweren Arbeit begann. Sancho sagte nun zu den Schmiedegesel­len: »Meine Herren, kenne Sie vielleicht jene Tiere, die wir ohne Erbarmen »Schweine« nen­nen müssen?« Man bejahte das, und Sancho fuhr fort: »Dann geben Sie mir von diesen sogenann­ten Schweinen einige Eisbeine.« Er bekam das Gewünschte, zog sein Taschenmesser hervor und ass damit, als wenn er vierzig Tage gefastet hätte. Cervantes setzte sich neben mir auf eine Bank, und Don Quichotte stellte sich uns gegen­über und stützte sich mit beiden Händen auf seine Lanze und sprach: »Unser Dichter, Don Miguel de Cervantes Saavedra, war in seinem Leben ein handfester Herr, der nicht immer seinen Zorn mit seinem Witze bekämpfte. Zu Alcalä de Henares ward er am 9. Oktober 1547 geboren als der jüngste Sohn des Don Rodrigo de Cervantes und der Dona Leonor de Cortinas. Und gleich in seiner frühsten Jugend war unser Dichter so aufs Lesen erpicht, dass er auf der Strasse die weggeworfe­nen Papiere sammelte, und immerzu las, blos um seine Wissbegierde zu stillen. Die Folge da­von war natürlich, dass er schon im Knabenalter viele Sonette verfasste. Die Eltern leiteten seine Erziehung und zogen dann mit ihren Kindern nach Madrid.« Jetzt wurden dem Rosinante die neuen Hufe aufgeschlagen, und dabei machten die Gesellen einen solchen Spektakel, Dass Don Quichotte nicht weiterreden konnte und mit zorniger Miene zu seinem alten Pferde hinüber­blickte. Sancho Pansa, der Stallmeister, sass jedoch an einem Amboss und ass seine Eisbeine und liess sich nicht stören. Der Herr Sandmann stand neben dem Sancho und bewunderte dessen Esslust mit grossen Augen.


V

Don Quichotte redet weiter, während sich San­cho auch dadurch nicht im Essen stören läßt.

ngg_shortcode_4_placeholderDer spanische Ritter gebot den Schmiedegesel­ len, etwas weniger geräuschvoll zu arbeiten- was denn auch sofort geschah.
Danach redete der hagere Mann in der ei­ sernen Rüstung weiter, während sich Sancho Mostrich bringen Hess:
»In Madrid wurde unser Dichter ein Schüler des gelehrten Juan Lopez de Hoyos, der auch ein Dichter war. Don Miguel sollte nun auch an der Universität studieren. Seine Eltern Hessen ihm die Wahl zwischen Theologie, Jura und Me­ dizin. Aber diese Fakultätswissenschaften mach­ ten dem jungen Cervantes gar keinen Spass – im Gegenteil. Unser Dichter schwärmte nur für die »schönen« Wissenschaften, übte sich in allen da­ mals bekannten Versarten, ging recht oft ins Schauspielhaus und interessierte sich besonders lebhaft für die Theaterstücke des Lope de Rue- da. Der Lope de Vega war damals noch nicht in Mode.«
Bei den letzten Worten drehte sich Cervan­ tes zu mir um und sagte leise:
»Ist es nicht das grösste Vergnügen für ei­ nen Dichter, wenn er von den Gestalten, die er selber geschaffen hat, gelobt und gefeiert wird? Ist das nicht, wenn man so sagen darf, eine gradezu göttliche Freude?«
Ich verbeugte mich und bejahte das; hinter uns standen ein paar Schmiedegesellen, die sich heimlich in die Seite stiessen; Cervantes hatte eine sehr stark gebogene Adlernase, blitzende Augen und kastanienbraune lange Haare und einen vollen kastanienbraunen Bart, der den weissen spanischen Kragen umkräuselte.
»Als unser Dichter«, fuhr Don Quichotte fort, »einundzwanzig Jahre war, verfasste er eine Elegie auf den Tod der Königin Isabella und ausserdem viele Sonette, Romanzen und andere Gedichte – auch ein Schäfergedicht, das sich »Filena« betitelte.«
»Werde blos nicht langweilig!« rief da der Sancho dazwischen, warf die von ihm abgenag­ ten Knochen ungeniert auf die Erde und Hess sich noch ein Eisbein bringen und ein Glas Bier dazu.
Die Schmiedegesellen lachten und bedien­ ten ihn eifrigst.
»Ihr wisst wohl nicht«, sagte da der Sancho, »dass ich eigentlich ein König bin. Ich habe eine Insel regiert.«
Da machten die Schmiedegesellen grosse Augen.
Rosinante wieherte-


A

Don Quichotte redet immer noch weiter – be­sonders vom kümmerlichen Leben.

ngg_shortcode_5_placeholder»Der Sancho«, fuhr nun Don Quichotte mit er­ hobener Stimme fort, »ist wohl der König einer Insel gewesen. Und das hat er mir zu danken. Leider hat er es in seiner Königszeit versäumt, sich königliche Manieren anzugewöhnen. Da ich aber einmal dabei bin, von der Jugendzeit unsres Dichters, dem ich alles verdanke, zu re­ den, so sei mir gestattet, noch einiges von sei­ nem Leben in Madrid hinzuzufügen. Seinen El­ tern ging es nicht gut Ende der sechziger Jahre, und dem Don Miguel ward es immer schwerer, sich über Wasser zu halten. £s fehlte an allen Ecken und Enden. Das kümmerliche Leben be­ gann. Hier muss ich aber gleich feierlichst erklä­ ren, dass derjenige, der das kümmerliche Leben nicht kennen lernt, überhaupt vom grossen Le­ ben gar nichts kennen lernt und dazu bestimmt ist, ein Tropf zu bleiben oder eine Droschke zweiter Güte. Wer das Wohlleben nicht lassen
kann, wird nicht viel erreichen – am allerwenig­ sten in der Kunst. Deswegen ist es ganz ungehö­ rig, so viel über das schlechte Leben der Dichter zu lamentieren. Das schlechte Leben erzeugt doch den Humor – und der ist doch die Haupt­ sache in Poesie und Kunst. Das gute Leben er­ zeugt keinen Humor – höchstens Mist. Die Schmiedegesellen werden mich verstehen.«
Da lachten die Schmiedegesellen so laut, dass man das Geklapper an Rosinantens Hufen minutenlang nicht hören konnte.
Sancho erhob sich, klopfte sich auf den Bauch und sagte ganz ernst:
»Ich, der ich König war, weiss sehr wohl, wie das schlechte Leben aussieht. Als ich König war, hat man mir nämlich nichts zu essen gege­ ben.«
Da mussten die Schmiedegesellen abermals lachen.
Don Quichotte stiess aber mit seiner Lanze auf den Boden, dass alles zitterte, und danach sprach er:
»Unser Dichter hatte leider in seiner Ju­ gendzeit noch nicht den Wert des schlechten Lebens kennen gelernt, und deshalb ward er anno 1569 Kammerdiener.«
Don Quichotte setzte sich nach diesen Worten auf einen Amboss.
Und es wurde ganz still in der Schmiede.


N

Man spricht von einem grossen Kardinal und von einem grossen Kammerdiener.

ngg_shortcode_6_placeholder»Wie«, fragte der Herr Sandmann, »kam denn das mit dem Kammerdiener? Das ist ja eine ganz merkwürdige Geschichte.«
Ein Schmiedegeselle kam und brachte dem Herrn Cervantes den Degen zurück – fein ge­ schliffen und poliert.
Cervantes erhob sich, betrachtete seineYi Degen, steckte ihn in die Scheide und sprach -ziemlich schnell – und öfters stotternd:
»Ja, ja, meine Herren – mein Don Quichot­ te hat ganz recht; ich verstand damals noch nicht, wie wertvoll das schlechte Leben – für uns Dichter – und für alle – Menschen ist. Der Kardi­ nal Julio Aquaviva kam damals nach Madrid -als Gesandter des Papstes – Pius des Fünften. Ein Kardinal versteht es, sehr gut zu leben. Und ich machte leider die Bekanntschaft des Kardi­ nals – und lernte seine guten Weine kennen -seine Puten und Austern – Schnecken und Ha­ sen.«
»Tausend ja!« rief da der Sancho, »dabei bekomme ich noch mal Appetit.«
»Mein Sohn Sancho!« rief aber der Ritter auf dem Amboss, »halte deinen Mund.«
Sancho kraute sich hinter den Ohren und ging zum Rosinante, dem das vierte Hufeisen aufgenagelt wurde – in Stuhlplattengrösse.
Cervantes sprach weiter:
»Und da Hess ich das Dichten sein und folgte dem Herrn Kardinal Aquaviva nach Rom und wurde sein Kammerdiener und – hielt aus -ein ganzes Jahr. Danach aber wollte mir das gute Leben – nicht mehr behagen. Damals sah ich schon – den dicken Sancho Pansa – vor mir. Er wurde lebendig vor mir. Und ich empfand doch, dass diese zweite Hälfte – meines Ichs -nicht zu allen Zeiten angenehm – ist. Die Ge­ mütlichkeit kann auch langweilig werden – und das gute Leben auch. Und deshalb wurde ich damals Soldat, und deshalb will ich heute auch mal wieder auf Abenteuer ausziehen, denn diese Schmiede ist mir ebenfalls zu gemütlich.«
Ich zog meinen Zylinder und fragte höflich, ob ich die drei Spanier begleiten dürfte.
»Aber selbstverständlich!« erwiderte Don Miguel.
Don Quichotte erhob sich von seinem Am-boss, rückte seine Rüstung zurecht, nahm seinen Schild und sagte zu mir:
»Wenn Sie wollen, können Sie auf meinen Schultern sitzen.«
Ich sagte »ja« und dankte dem Ritter in den verbindlichsten Worten.
Sancho rief:
»Unser alter Schimmel ist wieder mal be­ schlagen.«
Und da wurde denn der Rosinante in die Mitte der Schmiede geführt.
Und Alle bewunderten das grosse alte Pferd.


T

Erzählt von der Gelenkigkeit des alten Rosinante.

ngg_shortcode_7_placeholderNun stand der riesige Schimmel da in der Mitte der Schmiede und stiess mit dem Kopf nicht an die Decke, dieweil die grosse Schmiede nicht ohne Grund den Namen der »Grossen« führte.
Aber die Türen der Schmiede waren für das Pferd viel zu klein.
Und die Schmiedegesellen krauten sich hinter den Ohren, klopften dem grossen Tier auf die Beine und sahen zu dem riesigen Körper hinauf, der nicht mehr so mager aussah wie einst vor dreihundert Jahren.
»Wie kommen wir hinaus?« fragte ich leise.
Don Quichotte lächelte fein und sagte still:
»Ich kenne mein Pferd, und mein Pferd kennt mich. Passen Sie auf.«
Dann winkte der Ritter seinem Rosinante mit der Lanze, hob das Schild auf, zeigte auf die jetzt wieder geöffnete Doppeltür der Schmiede und pfiff dazu.
Rosinante sank wie ein Kamel erst auf die Kniee der Vorderbeine und legte dann auch die Hinterbeine platt an die Erde, schob den Kopf vor und bewegte sich nun, wie sich eine Schlan­ ge bewegt – und kam so auf die Dorfstrasse, allwo der Schimmel sich gleich wieder aufrich­ tete und dann so dastand auf seinen vier Bei­ nen, als wäre gar nichts vorgefallen.
Die Schmiedegesellen klatschten in ihre schwieligen Hände, dass es durch das ganze Dorf schallte.
Alle Dorfbewohner eilten rasch nach Hau­ se, da sie glaubten, es gäbe eine grosse Schlä­ gerei.
Cervantes aber zog seinen geschliffenen Degen und fuchtelte damit in der Luft herum, so dass wir alle nicht wussten, was es jetzt geben würde.
Der Vollmond schien ganz hell.
Die Bäume in der Dorfstrasse waren noch ohne Laub – aber sehr nass – so dass die Zweige im Mondlicht glänzten.
Die Luft war frisch und mit Nebelstreifen durchzogen.
Der Frühling kam.


E

Enthält die Darstellung eines ungeheuren Zwei­kampfes, aus dem ein grosser Dichter als Sieger her­ vorgeht.

ngg_shortcode_8_placeholder»Rosinante, ich fordre dich zum Zweikampfe heraus!«
Also rief mit starker Stimme der Dichter Cervantes.
Und was tat das Tier?
Die Haare seines Schweifes sträubten sich plötzlich nach allen Seiten, so dass das Pferd hinten wie ein Igel aussah. Und die Haare stan­ den ganz steif.
Und nun bemerkten wir alle, wie die Schweifhaare immer glänzender wurden und breiter: der Schweif wurde allmählich – zu tau­ send Floretts.
Der Rosinante drehte den Kopf nach hin­ ten, wieherte sehr laut und fuchtelte hinten mit seinen blanken Klingen ganz unheimlich auch in der Luft herum und ging dabei rückwärts – auf den Dichter Cervantes los.
Wir alle hielten den Dichter für verloren -der aber begegnete den tausend Klingen mit verblüffender Gewandheit, schlug Quarten und Quinten und Septimen, so dass es prächtig durch die Frühlingsnacht klang und die Dorfbe­ wohner die Betten über die Ohren zogen, um blos nichts mehr von den mörderischen Kämp­ fen zu hören.
Wie nun der Dichter Cervantes immer hefti­ ger seinen Gegner bedrängte, dessen Floretts scheinbar immer länger wurden, da geschah es, dass die Dichterklinge plötzlich rotglühend wur­ de, so dass die Pferdeklingen für einen Augen­ blick scheu nach allen Seiten auseinanderging­ en.
Diesen Augenblick benutzte der Dichter, um seinen glühenden Degen mitten in die Schweifklingen hineinzustossen.
Und Rosinante wieherte furchtbar laut auf.
Und im selben Moment sass dort, wo so lange der Schweif sass – eine Windmühle.
»Hoho!« rief der Dichter lachend, »gegen Windmühlen kämpfen wir nicht. Ich bin doch nicht der von mir erschaffene Don Quichotte. Ich bin doch nicht der Ritter von der traurigen Gestalt. Keineswegs! Rosinante, ich habe ge­ siegt!«
Cervantes steckte seinen glühenden Degen ein, und der Herr Sandmann rief:
»Mein Herr, Sie werden sich Ihre Scheide verbrennen.«
»Scheide mit Stahleinlage!« sagte Cervan­ tes.
Wir sahen alle die Windmühle an und sperrten den Mund auf.
Cervantes aber sagte:
»Wundern Sie sich doch nicht so sehr, meine Herren! Sie sollten doch schon an die Wunder gewöhnt sein. Sie leben doch in einer Zeit, in der es Wunder genug gibt – alle Tage -Sie leben in einer wundervollen Zeit. Holen Sie lieber die Leiter.«
Fünf Schmiedegesellen rannten in die Schmiede, um die Leiter zu holen.


S

Wie man den Nachtwächter behandelt und die Dorfstrasse verlässt.

ngg_shortcode_9_placeholderDas grosse Pferd, dem hinten eine Windmühle angewachsen war, bestieg zuerst der Herr Cer­ vantes.
Dann kletterte Don Quichotte auf der Leiter empor, und ich folgte ihm und setzte mich auf die Schultern des Ritters, so dass ich meine Füs-se auf seinem Harnisch zusammenhaken konn­ te.
Kaum jedoch hatte sich’s Sancho Pansa hinter uns bequem gemacht, als auch schon der Nachtwächter des Dorfes eiligst herangetrabt kam und heftig schrie:
»Steigen Sie runter! Steigen Sie runter, meine Herren! Auf einem so grossen Pferde darf man nicht durch dieses Dorf reiten – das könnte ja die andern Pferde scheu machen.«
»Wenn S i e nur nicht scheu werden«, ver­ setzte der dicke Sancho und warf dabei mit dem linken Fusse die Leiter um, so dass sie dem Nachtwächter auf den rechten Arm fiel.
»Im Namen des Gesetzes!« brüllte der Wächter, »Sie sind allesamt verhaftet. Steigen Sie sofort runter und folgen sie mir zur Wache. Ich werde Ihnen zeigen, wer hier zu sagen hat. Sie sollen nicht ungestraft hier solche Narren­ possen aufführen. Fastnacht ist längst vorbei.«
Sancho hatte währenddem einen grossen Sack mit Mehl aus der Windmühle herausgeholt und ihn schnell mit seinem Taschenmesser auf der einen Seite aufgeschlitzt.
Nun warf der dicke Sancho dem Nacht­ wächter plötzlich den aufgeschlitzten Mehlsack auf den Kopf – so dass dem armen Nachtwäch­ ter Hören und Sehen verging und er an Spre­ chen nicht mehr denken konnte.
Die Schmiedegesellen lachten wieder im Chore und klatschten in die Hände.
Gleichzeitig erhob sich ein starker Wind, so dass sich die Flügel unsrer Windmühle rasch in Bewegung setzten.
»Passen Sie auf!« rief mir Sancho zu, »wir brauchen keine Luftschrauben und keine Dampferschrauben, unsre Windmühle ist besser als jede andre Schraube.«
Und so war’s auch, denn Rosinante streckte die Vorderfüsse hoch in die Höhe, sprang hoch und stieg empor; die Windmühlenflügel arbeite­ ten tadellos.
Wir hörten noch die Schmiedegesellen laut schreien und klatschen – dann aber ging’s pfeil­ schnell in die höheren Lüfte empor – immer hö­ her – zum Vollmonde hinauf – als wollten wir in den hinein.
Ich musste mir meinen Zylinder fest in die Stirne drücken – so schnell ging’s nach oben -durch die Frühlingsluft und durch die Nebelstrei­ fen durch himmelwärts.
Wir hörten hinter uns das Schnurren der Windmühlenflügel und sahen vor uns die Mäh­ ne des Rosinante mächtig flattern- und rechts und links davon die beiden Vorderbeine des Ro­ sinante, die mit ihren neuen Hufen weit hin­ ausgriffen in die Frühlingsluft. Die Vorderbeine des Pferdes bewegten sich so, als müssten sie das Pferd und uns im Gleichgewicht erhalten.
Die Spanier schienen an derartige Luftritte gewöhnt zu sein.
Der Vollmond wurde ganz hell und schien uns ins Gesicht und wurde immer grösser.

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DAS ZWEITE VIERTEL

 

 

C

Handelt von dem Luftritt und von der Schlacht bei Lepanto.

ngg_shortcode_11_placeholder»Halten Sie Ihren Zylinder fest!« rief der Herr Cervantes zu mir hinauf.

Ich schlang fester meine Beine um Don Quichottes Hals und drückte meinen Zylinder tiefer in die Stirn, die Vorderbeine des Rosinante leuchteten im Mondeslicht wie Geisterarme, und Cervantes sprach hastig und sehr laut, dass es durch die Frühlingsnacht schallte:
»Der Sultan von Konstaninopel, Selim der Zweite, hatte seine Flotte im Jahre 1570 nach Cypem geschickt, und die Venetianer baten den Papst Pius V. um Hilfe, und der ernannte den Herzog von Pogliano – Marco Antonio Colonna-zum Ober-Admiral der Papstflotte. Nun kamen noch die Spanier dazu – unter Juan Andrea Doria. Und ich trat unter dem neapolitanischen Kapitän Diego de Urbina – als gemeiner Soldat -in den Dienst der vereinigten Heere. Anfangs ging alles bei uns herzlich schlecht – die Türken eroberten Nikosia. Dann aber wurde Don Juan von Österreich – ein natürlicher Sohn Karls des Fünften – unser Generalissimus. Und da kam’s am 7. Oktober 1570 zur grossen Schlacht bei Lepanto. Ich lag fieberkrank in meiner Kabine, als ich den ersten Kanonendonner hörte. Da hielt’s mich nicht mehr im Bett. Ich sprang auf und war bald mitten im ärgsten Getümmel, kämpfte wie zehn Löwen – bis ich zwei türkische Flintenkugeln in der Brust – und eine Kugel in der linken Hand hatte. Da war ich blessiert – und musste nach Messina ins Hospital. Wir aber hatten gesiegt.«
»Donnerwetter!« schrie Sancho hinter mir, »gleich mit drei Kugeln auf einmal. Gut, dass ich nicht dabei war.«
»Mein Sohn Sancho«, sprach Don Quichot­ te unter meiner Brust, »du warst zu allen Zeiten ein Hasenfuss, und damals spieltest Du in unse­ rem Dichter Don Miguel noch keine Rolle – ich selber dagegen um so mehr.«
Ich starrte auf das umgestülpte Seifenbek-ken, das dem Don Quichotte immer noch als Helm diente.
Und die Sterne des Himmels funkelten im Himmel überall, und der alte Vollmond wurde von weissen Frühlingswolken umhüllt.


E

Welches vom Soldatenleben handelt – desglei­ chen von den verdammten Seeräubern.

ngg_shortcode_12_placeholderAber Don Miguel de Cervantes Saavedra war über die Zwischenbemerkungen des Sancho Pansa und des Don Quichotte sehr ungehalten und redete nun sehr heftig und sehr laut in den Sternenhimmel hinein:
»Ihr Beiden, die ihr da hinter mir sitzt, tut euch vorläufig nicht so dicke – damals wart ihr blos ein paar Embryos. Ich aber war sehr stolz auf meine Verstümmelung, trug, als ich aus dem Hospital herauskam, meinen linken Arm in einer seidenen Binde und verheimlichte den Verlust meiner linken Hand keineswegs – was mir durchaus ein martialisches Ansehen gab. Ich war damals anno 1571 erst gute 24 Jahre alt und noch nicht in der Lage, alle Dinge dieser Welt von der komischen Seite zu nehmen. Ich war, trotzdem ich viele Verse machte, Soldat vom Scheitel bis zum Zeh – und zwar ein spani­ scher Soldat. 1572 war ich bei einer Expedition gegen Tunis, 1573 vor Goleta, 1574 in Genua -ausserdem sah ich Florenz, Venedig und Neapel Lucca, Palermo, Messina und viele andere Städte. Fünf Jahre lebte ich als Kriegssoldat und als ein sehr tüchtiger – erhielt aber keine Aus­ zeichnung und keine Belohnung. Und da gaben mir der Don Juan von Österreich und der Her­ zog von Sessa grosse prächtige Empfehlungs­ schreiben, mit denen ich nach Madrid gehen sollte. Und so schiffte ich mich denn auf der spa­ nischen Galeere elSolem – im September 1575 um nach Madrid zu segeln. Und am 26. September 1575 trafen wir auf ein Geschwader von Seeräubern aus Algier. Und diese ver­ dammten Seeräuber waren in der Übermacht -fünf Schiffe gegen eins. Wir fochten wie die Teufel. Aber die Galeere des Dali Mami nahm unsre spanische. Und ich wurde mit meinem Bruder und vielen andern spanischen Edelleu-ten der Sklave dieses verdammten Dali Mami. Wenn ich daran denke, so kommt mir die Ge­ schichte ganz und gar nicht komisch vor.«
Mir jedoch kam das umgestülpte Seifen­ becken, das ich mit meinen beiden Händen festhielt, sehr komisch vor, und ich haute plötz­ lich mit meinen beiden Fäusten drauf los, dass es unheimlich durch die Nachtluft klang.
Don Quichotte sagte feierlich mit seiner ro­ stigen Stimme:
»Mein Herr, Sie scheinen zu meinen, dass mein Helm ein Pferdeschenkel ist. Das ist eine sehr irrtümliche Meinung. Sie tun gut, die Ge­ genstände, die sich Ihrer Betrachtung darbieten, nicht immerzu zu verwechseln.«
Ich sagte stotternd:
»Seien Sie nicht – böse – verzeihen – Sie!«
»Stottern Sie«, rief da der Herr Cervantes, »um mich nachzuahmen und dadurch zu ver­ höhnen?«
»Keineswegs! Keineswegs!« sagte ich hastig.
Sancho sang danach ein spanisches Liebes­ lied – mit einer Stimme – die so klang – als wenn sie gebraten wäre.


R

Wie sich Sancho auf einem Kirchturm zu helfen weiss.

ngg_shortcode_13_placeholder»Sancho, halt’s Maul!« rief der Herr Cervantes.
Und ich sah unter uns eine Kirche mit zwei Türmen. Dem einen Turme fehlte die Spitze, und auf diesen stellte der Rosinante seine vier Füsse mit den neuen Hufeisen; Mauerstein und Hufeisen knirschten und knackten, als sie zu­ sammentrafen; der Rosinante wieherte.
»Sancho, gib uns was zum Abendbrot!« rief nun der Herr Cervantes.
Sancho lachte und sagte:
»Leicht gesagt! Hätte schon gerne selber was gegessen. Aber mein Schnappsack ist leer wie ein ausgeräubertes Dorf. Wäre ich nun nicht der weltkluge Sancho, so würde ich verzweifeln und meinem Leben durch einen Sprung in die Tiefe ein knochenzerbrechendes Ende bereiten. Doch da ich so klug bin, erfasse ich den Speer meines edlen Ritters von der traurigen Gestalt -und mache den Speer durch Anpusten so lang wie einen Kirchturm, dass der Speer bis auf das Strassenpflaster hinabreicht. Und dann klettre ich an diesem Riesenstock hinunter und hole was.«
Und er tat, wie er gesagt hatte.
Don Quichotte lobte ihn dafür, und der Herr Cervantes bat mich, von den Schultern sei­ nes Ritters herunterzuklettern und in die Wind­ mühle durch das kleine Fenster hineinzusteigen.
Ich tat das natürlich mit grösster Behendig­ keit. Und als ich im Fenster zurückblickte, sah ich, wie der spanische Dichter über den Kopf seines Helden hinüberkroch und an dessen Rük-ken vorsichtig herunterglitt.
Danach war ich mit dem spanischen Dichter zusammen in der Mühle, während San-cho unten in der Stadt seinen Schnappsack füllte und der Don Quichotte ganz steif auf sei­ nem Rosinante sitzen blieb – wie ein altes Denkmal aus der ehrwürdigen Ritterzeit.
In der Mühle hörten wir ein geheimnisvolles Knistern und Rauschen, obschon die Windmüh-lenflügel sich draussen nicht bewegten. Als wir die Treppe hinunterstiegen und die Plattform des Kirchturms betraten, hörten wir in der Mühle einen Esel schreien.
Wir setzten uns – d. h. Cervantes und ich -auf eine alte Holzbank und blickten über die Stadt hinweg zum fernen Horizont.
Der Mond schien jetzt wieder ganz hell, doch Hess sich bei dem Mondenlicht nicht viel erkennen, so dass ich den Spanier neben mir fragte, wo wir uns denn eigentlich befänden.
»Ja«, versetzte der, »warum wollen Sie denn das wissen? Wollen Sie nicht lieber das Weitere von meiner Gefangenschaft in Algier hören?«
Ich bat selbstverständlich meiner Frage we­ gen um Entschuldigung und sagte, dass ich sehr gerne das Weitere von Algier hören würde.
Wir sassen so, dass wir vor uns zunächst die beiden Beine des Herrn Don Quichotte und die vier Beine des Rosinante sahen; zwischen diesen sechs Beinen sahen wir die unbekannte Stadt im Mondenschein.


V

Von dem, was man erleben kann, wenn man vorzügliche Empfehlungsschreiben bei sich trägt.

ngg_shortcode_14_placeholder»Stellen Sie sich nur vor«, fuhr der Herr Cervan­ tes fort, »was der verdammte Seeräuber Dali Mami dachte, als er meine beiden Empfehlungs­ schreiben in meinen Taschen fand: er hielt mich für einen masslos reichen und vornehmen Herrn – denn der Don Juan von Österreich und der Herzog von Sessa – das waren damals fast die berühmtesten Persönlichkeiten im ganzen mittel­ ländischen Meer. Der verdammte Dali Mami dachte nun natürlich, ein riesiges Lösegeld aus mir herauszuschlagen, und hielt mich in Ketten unter ständiger Bewachung. Dabei wurde mir recht eigentümlich zu Mute. Ein erster Fluchtver­ such nach Oran misslang; wir mussten auf un-serm Boote zurück, und ich wurde als Rädels­ führer so stramm behandelt, dass mir die Augen übergingen. Etwas komisch kam mir die Sache allerdings vor, und mein Held, dessen lange Beine wir jetzt sehen, bekam immer mehr Leben vor meinen Augen – sah allerdings noch lange nicht wie eine Parodie aus. Der echte Humor entspringt immer einer Qualzeit, die uns lang­ weilig geworden ist. 1576 wurden mehrere Be­ kannte und Freunde losgekauft, und ich gab dem Fähnrich Gabriel de Castaneda einen Brief an meine Eltern mit. Und die brachten all ihr Geld zusammen, auch die Mitgift meiner Schwe­ ster – ungefähr 300 Goldgulden. Aber dem ver­ dammten Dali Mami war’s nicht genug, und ich kaufte meinen Bruder Rodrigo los. Das geschah im August 1577. Rodrigo sollte ein bewaffnetes Fahrzeug senden und mich mit Gewalt und List befreien.«

Das Haupt des Cervantes sank nach diesen Worten auf seine Brust, so dass er ganz alt und verfallen aussah.
Da kam Sancho mit seinem vollen Schnappsack – am Speere kletternd – wieder zum Vorschein.
Und gleichzeitig kamen zwei Frauen aus der Mühle heraus und die Treppe herunter.
»Das ist«, flüsterte Sancho leise, »meine Frau Therese und die berühmte Dulcinea von Toboso.«
Die beiden Damen tanzten auf der Plattform ganz ohne jeden Laut eine Seguedilla und verschwanden dann wieder.
»Gut, dass sie nicht gesprochen haben!« rief Sancho.
Und er brüllte darauf so wie eine alte Kuh, dass der Herr Cervantes wieder den Kopf auf­ hob.


A

Erzählt von Hassans Garten und von der unter­ irdischen Republik.

ngg_shortcode_15_placeholder»Meine Herren«, rief dann der Sancho, »Sie ha­ ben in mir den besten Kammerdiener aller Zei­ ten.«
Und er packte seinen Schnappsack aus.
Da kamen denn zum Vorschein: dicke Blutwürste, Kaviar, Weissbrote, Schwarzbrote, grosse Butterstücke, Sardellen, saure Gurken, geräucherte Flundern, Schweineschinken, ge­ bratene Hühner, Enten, Hummern und Brat­ würste und zehn Flaschen Portwein.
»Du Schlemmer!« sagte der Don Quichotte, als er alle diese Dinge von oben herab ansah.
Nun assen wir und tranken dazu.
Und der Herr Cervantes fuhr in seiner Er­ zählung fort.
»Wissen Sie«, sagte der Spanier, in der rechten Hand ein saure Gurke – mit finstrer Mie­ ne, »was es heisst, eine Verschwörung leiten? Oh, ich hab’s kennen gelernt. Drei Meilen von Algier besass der Alcaide Hassan einen Garten, in dem ein Christensklave namens Juan die Auf­ sicht führte. In diesem Garten befand sich eine unterirdische Höhle, und in dieser Höhle lebten ungefähr fünfzehn spanische Edelleute, die alle aus Algier fliehen wollten. Wir hatten zwei ver­ traute Sklaven – den einen nannten wir den »Gärtner« – der bewachte unsere Höhle. Der an­ dre Sklave brachte uns die Nahrung wie ein Sancho Pansa und hiess der »Vergolder«. Der Garten lag in der Nähe des Meeres, und wir warteten auf ein befreundetes Schiff, das uns er­ lösen sollte. Das kam nun auch Ende September des Jahres und wollte nachts an den Strand kommen, wurde aber zweimal von Fischern ent­ deckt und musste sich zurückziehen. Wir wuss-ten in der Höhle nichts von diesen missglückten Versuchen. Und der »Vergolder« wollte sich wie­ der mal eine Portion Geld verdienen und verriet dem Alcaiden Hassan die ganze Verschwörung, die zu leiten ich die Ehre und das Vergnügen hatte. Wir kamen alle gleich bei Nacht und Nebel in den Kerker, und dann sollte ich dem Has­ san die Mitschuldigen sagen, die uns mit ihrem Schiffe abholen wollten. Das lief natürlich wie­ der auf Erpressungen hinaus, denn solche Ver­ schwörungen waren einfach damals in Algier nicht erlaubt. Und jede entdeckte Verschwörung wurde den Aussenstehenden stets sehr teuer. Ich Hess mich daher ruhig foltern und verriet die, die uns mit ihrem Schiffe retten wollten, mit keiner Silbe. Das fiel mir recht schwer; die Daumen­ schrauben können einen Menschen wahnsinnig machen – glücklicherweise konnten sie mir nur an der rechten Hand angebracht werden, da ich ja die linke nicht mehr hatte. Aber auch die verschiedenen anderen Folterwerkzeuge…«
»Erzählen Sie blos nicht davon«, schrie jetzt der Sancho erbärmlich los, »sonst vergeht mir der ganze Appetit.«
Der Herr Cervantes lachte kurz auf, aber er sprach nicht weiter von den Folterwerkzeugen. Und mich berührte das auch sehr angenehm, da ich einen grossen Hunger verspürte und jetzt mit Eifer den Bratwürsten und Sardellen zusprach.
Wir assen und tranken dazu und schwiegen einige Minuten hindurch und dachten nach.
Don Quichotte in seiner Denkmalsstellung auf dem grossen Rosinante nahm sich im Mon­ denschein recht romantisch aus – es wirkte besonders sehr eigentümlich, als er sich ein kleines Kaviarbrötchen in den Mund steckte …


N

Enthält hauptsächlich die Geschichte vom Werte der Kühnheit

ngg_shortcode_16_placeholder»Der Gärtner wurde gehenkt!« sagte der Herr Cervantes.
»Ach du meine liebe Zeit!« rief der Sancho, während er die Schultern ängstlich nach allen Seiten bewegte.
»Mein Sohn Sancho«, sprach der Don Quichotte, »hab dich nicht immer so albern! Gib mir lieber noch eine halbe Ente.«
Sancho spiesste die halbe Ente auf einen spitzen Stock, den er von unten mitgebracht hatte, und reichte das Geflügel dem Ritter hin­ auf.
Und der Herr Cervantes fuhr fort.
»Ich wurde natürlich wieder meinem hab­ süchtigen Dali Mami übergeben und der setzte mich wieder fest, dass ich nicht drei Schritte frei herumgehen konnte. Doch unternahm ich noch vier grossartig angelegte Fluchtversuche. Und sie schlugen alle fehl. Und ich verzweifelte beinahe; wenn mich nicht die Wut aufrechtgehalten hätte, dann wär’s aus gewesen. Diese Wut aber macht immer wieder neuen Mut. Und so wollte ich schliesslich die ganze Stadt Algier mit Hilfe der damals dort befindlichen Christensklaven er­ obern. Es gab damals an die 25000 Christen­ sklaven in Algier. Die Geschichte wäre geglückt, wenn nicht fast alle so mutlos gewesen wären. Es ist eben nichts so verächtlich als das Ver­ zweifelte.
Und es ist eigentlich gar nicht zu bedauern, wenn die Sklavennaturen, die nichts zu unter­ nehmen wagen, einfach zugrundegehen. Nun hören Sie aber, was aus denen wird, die die nö­ tige Wut und dementsprechend die nötige Kühnheit im Leibe haben! Dem Alcaiden Has­ san gefiel ich meines Mutes wegen so sehr, dass er sagte: »Um meine Hauptstadt, meine Sklaven und Schiffe zu sichern, muss ich diesen ver­ stümmelten Spanier in meine Macht bekom­ men, um ihn streng zu bewachen.« Das hatte ich nun davon! Er kaufte mich für 500 Goldgulden. Und auf diese Weise war’s nun noch viel schwie­ riger geworden, mich loszukaufen.
500 Goldgulden bedeuteten damals ein grosses Vermögen. Hassan behandelte mich gut. Aber ich platzte vor Ungeduld. Und da wurde mein tatenlustiger Ritter, der jetzt vor uns sitzt auf seinem grossen Pferde und Entenknochen isst, immer lebendiger vor meinen Augen. Aus Witz und Wut entsteht der Humor. Sancho, giess uns die Gläser voll.«
Sancho tat es, und wir tranken jeder drei grosse Gläser Portwein.
Und die Stadt schien mir dabei immer hel­ ler zu werden – und immer grösser.
Cervantes schmiss darauf sein Glas so hef­ tig auf die Plattform des Turms, dass das Glas in tausend Stücke zersprang, die in hohen Bogen in die unbekannte grosse Stadt hineinflogen.


T

In welchem von dem Werte der Furchtsamkeit ge­ plaudert wird, während unheimliche Gespenster er­ scheinen und verschwinden.

ngg_shortcode_17_placeholder»Na«, begann nun der dicke Sancho Pansa, als er satt war, »unser Dichter hat ja nun seinen trefflichen Mut so energisch an die grosse Glok-ke gehängt, dass mir noch immer die Ohren brummen. Da das nun aber so aussieht, als wollte sich unser Dichter selber loben, so muss ich schon einige Worte über die Bedeutung der Furchtsamkeit sagen. Die Furchtsamen sind im­ mer viel schlauer und haben daher stets grössere Erfolge zu verzeichnen als die Kühnen. Wäre der Herr Cervantes in Algier weniger kühn gewesen – so hätte er Zeit gehabt, jeden seiner Flucht­ versuche etwas schlauer anzulegen. Und unser Dichter hätte dann nicht solange in Ketten zu schmachten brauchen.«
»Es tat mir aber«, sagte Cervantes, »die schlechte Zeit in Algier sehr gut – denn ich lernte Geduld im Unglück.«
Da stiegen die Treppe der Windmühle ein Pfarrer und ein Barbier herunter, die trugen eine Dame.
»Das ist«, sagte Sancho, »die berühmte mi-komikonische Infantin, die ja jedem Menschen, der Leben und Taten des scharfsinnigen Edlen Don Quichotte de la Mancha kennt, auch be­ kannt sein dürfte.«
Schweigend gingen die Beiden mit der In­ fantin zum Speere des Don Quichotte und Hes­ sen sich an dem in die Stadt hinab – wie der dicke Sancho.
Und diesen dreien folgten noch viele andre Gestalten, von denen Sancho behauptete, dass sie sämtlich dem Herrn Cervantes angehörten -für alle Ewigkeit.
Und dazwischen sprach Sancho immer wie­ der von der Bedeutung der Furchtsamkeit.
Don Quichotte rief aber plötzlich von sei­ nem Pferde herab:
»Mein Sohn Sancho, verachte nicht so sehr die Dummheit! Wenn der Kühne auch dumm ist – dafür hat er doch Unternehmungsgeist – und der bringt immer Glück. Wie weit hast du es denn mit deiner Schlauheit gebracht?«
»Bis zum König!« brüllte Sancho ärgerlich.
Aber der Don Quichotte sprach lächelnd:
»Titel und Würden bringen nur Bürden. Als König hast du, mein lieber Sohn Sancho, doch nichts zu essen bekommen.«
»Nun«, erwiderte Sancho, »immer haben Sie gesagt, dass im Essen auch nicht alles Glück der Welt enthalten sei. Und jetzt soll auf einmal konstatiert werden, dass ich als König Unglück hatte, als ich nichts zu essen hatte? Im übrigen -wie kommen Sie, Herr Don Quichotte de la Mancha, dazu, komische Sprichwörter an fal­ scher Stelle zu gebrauchen? Ich dächte, dazu hätte ich nur ein Recht – nicht Sie!«
»Meine Geister sollen still sein!« brüllte da der Dichter Cervantes.
Und Sancho verkroch sich.
Und aus der Mühle kamen leise und schweigend alte spanische Edelleute heraus – die gingen alle zum Speere des Don Quichotte und Hessen sich an dem Speere in die Stadt hinunter.
Ich sah den Geistern zu.
Der Mond schien hell und klar.


E

Handelt von der Erlösung und von dem freundli­chen Pater.

ngg_shortcode_18_placeholderHerr Cervantes wandte sich zu mir um und sprach:
»Sie müssen noch den Schluss von meinem Abenteuer in Algier hören. Der Hassan hatte mich also für 500 Goldgulden gekauft – und wollte nun 1000 Goldgulden für mich haben. Das war der Erfolg meiner Tapferkeit; Sancho hatte ganz recht, als er den Wert der Tapferkeit recht tief stellte. Nun war damals mein Vater gestorben. In Madrid gab es aber eine Sklaven­ erlösungsbehörde – zu der brachten meine Mut­ ter und meine Schwester 300 Goldgulden, damit ich ausgelöst werden könnte. Nun – das langte eben nicht. Zwei Trinitariermönche, Fray Juan Gil und Fray Antonio de la Bella, waren im Mai 1580 im Auftrage der spanischen Skla­ venerlösungsbehörde nach Algier gekommen. Nun wollte aber der Alcaide Hassan 1000 Gold­ gulden für mich haben, und ich wurde gefesselt auf Hassans Schiff gebracht und sollte mit ihm nach Konstantinopel – für immer. Da hat sich aber der Pater Gil aufs Bitten gelegt – und so er­ klärte der Hassan schliesslich, dass er mich für 500 Goldgulden freigeben würde. Und da hat der Pater Gil für mich die Kaufleute in Algier angepumpt – und am 19. September 1580 – war ich erlöst. Und Anfang 1581 war ich wieder in Spanien.«
Cervantes atmete tief auf.
Sancho sagte leise:
»Wenn der Pater nicht gewesen wäre – so würde ich nie das Licht der Welt erblickt haben.«
»Mein Sohn Sancho«, sagte da Don Qui­ chotte auf seinem hohen Pferde, »du machst doch stets deine Scherze zur unrichtigen Zeit.«
»Und Sie, Herr Don Quichotte«, erwiderte Sancho, »benehmen sich immer sehr feierlich, wenn’s gar nicht nötig ist.«
»Still!« sagte Cervantes.
Da hörten wir in der Windmühle den Esel schreien.
»Der ruft mich!« sagte Sancho.
Und Sancho ging in die Windmühle hinein.


 S

Enthält das, was Cervantes und Don Quichotte jetzt noch kennen lernen möchten.

ngg_shortcode_19_placeholderDa stand Cervantes auf und sagte zu mir feier­ lich:
»Wissen Sie, was wir, mein Don Quichotte und ich, jetzt noch kennen lernen möchten?« Ich stand auch auf und sagte schnell: »Das möchte ich sehr gerne wissen.« »Nu«, erwiderte Cervantes schmunzelnd, »den japanisch-russischen Krieg!«
»Wenn’s geht«, sagte ich rasch, »möchte ich den auch gerne kennen lernen.«
»Das geht!« versetzte Cervantes.
Und da gingen wir zusammen in die Wind­ mühle.
Und kaum hatten wir die Türe hinter uns zugemacht, so hörten wir wieder die Windmüh­ lenflügel klappern und rauschen.
Wir flogen wieder zum Himmel empor.

ngg_shortcode_20_placeholder

DAS DRITTE VIERTEL

C

Wie es nun zunächst im Innern der Windmühle zuging – und was allda geredet wurde.

ngg_shortcode_21_placeholderSancho hatte im Innern der Windmühle seinen alten Esel vorgeholt und streichelte ihn, was sich natürlich das gute Tierchen gern gefallen Hess.
Der Herr Cervantes ging zu dem Fenster, durch das man vom Rücken des Rosinante aus in die Mühle hineinsteigen konnte, und sprach durch das Fenster zu dem reitenden Don Quichotte:
»Mein lieber Ritter, zieh die Zügel fest an und reite steil in den Himmel hinauf, aber nicht in die Sterne hinein – nur soweit, dass uns die Erde nicht mehr mitreisst – dann kann der Rosin­ ante und die Windmühle im Schatten der Erde stehen bleiben – und die Erde kann sich weiter drehen – bis wir den Kriegsschauplatz unter uns haben – dann schiessen wir runter.«
»Wollen wir«, fragte Sancho Pansa, »Partei ergreifen und ebenfalls schiessen?«
»Nein«, versetzte der spanische Dichter, »Wir haben im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert oft genug Partei ergriffen.«
Er trat vom Fenster zurück und setzte sich auf einen alten wackligen Barockstuhl mit hoher Rückenlehne und fuhr nun fort, von seinem Le­ ben zu erzählen, während Sancho und ich auf der Ofenbank Platz nahmen und der Esel hin­ auslief zu den Müllerknechten:
»Als ich im Jahre 1581 nach Spanien zu­ rückkam, ging’s sehr bald wieder fort – auf den Azoren gab’s Unruhen – und ich ging zur Unter­ drückung der Unruhen mit. Das war aber meine letzte Kriegstat in meinem damaligen Erdenda­ sein. Danach weihte ich mein Leben den Mu­ sen.«
»Sie schrieben leider«, bemerkte jetzt der Sancho, »zuviel Verse, die ihrem Rufe nicht sehr förderlich waren. Die Galatea, jener Schäferro­ man, den Sie im Jahre 1584 in Madrid heraus­ gaben, hätte ganz und gar in Prosa geschrieben werden müssen; die vielen Verse dazwischen machen das meiste ungeniessbar.«
»Finden Sie nicht«, sagte nun Herr Cervan­ tes zu mir, »dass dieser Sancho als Kritiker ein­ fach unbezahlbar ist?«
Ich stimmte dem lächelnd zu, und Sancho sprach weiter:
»Das, was ich über die Verse des Dichters Cervantes gesagt habe, wird durch eine Äusse­ rung des spanischen Verlagsbuchhändlers, Juan de Villaroel, bestätigt. Herr de Villaroel schrieb nämlich an unsern Dichter wörtlich: »Von Ihrer Prosa kann ich viel erwarten, aber von Ihren Gedichten durchaus nichts.« Eine derartige Äus­ serung ist ja hart, aber durchaus gerecht. Die Li­ teraturgeschichte wird diese Meinungsäusserung des alten spanischen Verlagsbuchhändlers nur bestätigen können.«
Jetzt lachte der Herr Cervantes so heftig, dass ihm die Tränen in den kastanienbraunen Bart rollten – und dass durch die Erschütterung des ganzen Körpers der wacklige Barockstuhl einen Knacks bekam und zusammenbrach.
Aber rasch half Sancho dem Gefallenen wieder auf die Beine.


E

Erzählt vom Heiraten und auch von der Dulcinea von Toboso und von der Therese Pansa.

ngg_shortcode_22_placeholderSancho setzte seinen lachenden Dichter auf ein altes Kanapee und sprach nun stehend weiter, was sich seltsam ausnahm, da er schräge zum Fussboden stand, dieweil der Rosinante mit der Windmühle fast senkrecht zum Himmel aufstieg; hätte sich die Windmühle nicht zum Rücken des Pferdes hinübergebogen, so wäre in der Müller­ stube alles durcheinandergefallen; es erklärt sich auch auf diese Weise sehr leicht der Zusammen­ bruch des alten Barockstuhls. Sancho aber sagte schiefstehend:
»Am 12. Dezember 1584 heiratete unser Dichter seine aus Esquivias gebürtige Ehefrau, -Donna Catalina de Palacios Salazar y Vozme-diano. Da kurz zuvor die Galatea erschien, so muss man selbstverständlich diese Galatea mit der Catalina in Zusammenhang bringen. Aber -man muss auch die berühmte Dulcinea von To­ boso mit der Gemahlin des Dichters in Verbin­ dung bringen – und last not least – entschuldigen Sie das Englische! – ist zu konstatieren, das auch meine Frau Therese Pansa eigentlich bloss die eine Hälfte der Frau Cervantes ist, während die andere als Dulcinea zu bezeichnen wäre.«
»Wie?« rief der spanische Dichter, »Du lüg­ nerischer Stallmeister! Du verhungerter Inselkö­ nig, Du willst behaupten, dass meine halbe Frau Deine ganze Frau ist?«
Darauf erwiderte der Sancho ganz ernst:
»Sie können doch nicht bestreiten, Herr Don Miguel, dass Ihre verehrte Frau Gemahlin erst 1626 gestorben ist – also zehn Jahre nach Ihrem Tode, da Sie selbst, Herr Don Miguel, doch anno 1616 starben. Das steht doch in je­ der besseren Literaturgeschichte.«
Nach diesen Worten wurde aber die Mül­ lerstube so schräg, dass Sancho ausrutschte und auf den Rücken fiel, während ich von der Ofen­ bank herunterglitt und so zu Falle kam, dass ich dabei zum Fenster hinaussehen konnte.
Und da sah ich durch das Fenster den dun­ kelblauen Himmel mit vielen runden Sternen, die so glänzten wie kleine Mondscheiben.
Auch ein paar Nebelflecken sah ich zwi­ schen den Sternen.


R

Verständige Unterhaltung, die das spanische Theaterleben zum Mittelpunkt hatte.

ngg_shortcode_23_placeholderAber mit einem Ruck kam die Müllerstube wie­ der in die richtige Lage; die Windmühle und der Rosinante standen plötzlich oben im Lufträume still.
Und kaum stand der Sancho wieder auf seinen Beinen, so sprach er auch schon wieder:
»Als nun das Jahr 1584 vorübergegangen war – unser Dichter stand gerade im achtund-dreissigsten Lebensjahre – da kam auch schon wieder das kümmerliche Existenzmalheur zum Vorschein. Die Donna Catalina hatte wohl eine
gute Familie, aber kein gutes Geld – sagen wir lieber: gar keins. Unser Dichter war eben vom Schicksale dazu auserlesen, Humor in sich zu erzeugen – dicken festen Humor – mich – den dicken festen Sancho Pansa.«
Ich setzte mich auf meine Ofenbank, und der Herr Cervantes steckte sich eine Zigarre an und gab mir auch eine, während Sancho breit­ beinig dastehend weiterredete wie ein zorniger Pfarrer:
»Man sieht aber gleich, wie schwer es ist, den richtigen Humor zu bekommen, der »Alles« von der komischen Seite zu nehmen vermag -denn statt nun gleich den edlen Don Quichotte und den noch edleren Don Sancho zu schreiben – schrieb er zehn Jahre hindurch Dramen -Theaterstücke – wohl an die 30 Stück.«
»Mein Sohn Sancho«, sagte da der Don Quichotte, indem er seinen Barbierbeckenkopf durch das Müllerfenster schob, »schnapp nur nicht mitsamt deinem Schnappsack über; jetzt tust Du Dich schon Don titulieren, und wir kön­ nend womöglich noch erleben, dass Du Dich Professor nennst.«
»Dazu hätte ich«, erwiderte Sancho, »mei­ nes anerkannten Rationalismus wegen wohl ei­ ne ganz rationelle Berechtigung. Um aber auf die 30 Dramen des Don Cervantes zurückzu­ kommen, so ist zu bemerken, dass diese wohl in den 10 Jahren von 1584-1594 verfasst, jedoch nicht so sorgfältig aufbewahrt wurden, dass sie alle heute noch zu lesen sein könnten, da etliche verloren gingen.«
»Meine Herren«, rief nun der Don Quichot­ te lustig, »blicken Sie einmal zum Fenster hin­ aus, so werden Sie den Atlantischen Ozean zu Ihren Füssen sehen – in 22 Minuten zieht die Stadt New York unter uns vorbei.«
Wir stürzten ausser Sancho an die Fenster und sahen in der Tiefe – ganz tief unten – den vom Monde durchglänzten Atlantischen Ozean.


V

Fortsetzung der verständigen Unterhaltung, die im vorigen Kapitel begonnen wurde.

ngg_shortcode_24_placeholderAls wir uns nun sattgesehen hatten an dem gros­ sen Ozean und an der ganzen sich unter uns drehenden Erdkugel, gingen wir wieder an unsre Plätze, und Sancho setzte seinen Vortrag folgen-dermassen fort:
»Erst im Jahre 1615 gab der bereits ehren­ voll erwähnte Verlagsbuchhändler, Herr Juan de Villaroel, einige von den Theaterstücken des Herrn Cervantes in den Buchhandel – und zwar unter dem Titel: »Ocho Comedias y ocho Entre-mes nuevos, nunca representados«. Auch diese waren dem Grafen Lemos dediziert, und der Verfasser erklärte in einem gelehrten Vorwort,
dass er der erste gewesen sei, der hier aus den 5 Akten der Komödie 3 Akte gemacht habe und auch allegorische Personen hineingeführt habe. Hierdurch werden wir gleich überzeugt sein, dass diesen Theaterstücken nicht so viel Grosses anhaftete, um heftigere Meinungsäusserungen hervorzurufen. Und so dürfen wir uns auch gar nicht wundern, wenn unser Dichter Don Miguel einfach seitwärts ging, als der grosse Lope de Vega mit seinen Theaterstücken populär zu wer­ den begann. Übriggeblieben für den Literatur­ freund sind allein die beiden Cervantes-Stücke »los Tratos de Argel« und »la Numancia«. Das erstere behandelt das Leben in Algier, das zweite ist ein Trauerspiel.«
»Sancho«, rief Cervantes, »schlaf bei dei­ nem Vortrage nicht ein.«
»Ich komme ja gerade dadurch«, versetzte Sancho, »in das richtige Fahrwasser, indem ich zum Schlüsse nur sagen will, dass die ganze Theaterkunst eigentlich nur eine Kunst für die Jünglinge und Backfische ist und nicht allzuemst genommen werden sollte, da die Theaterdichter bei ihrer Theaterdichterei mehr an das Geld, das dabei rausspringt, denken – als an die Kunst. Und deshalb begrüsse ich den Misserfolg, den der Dichter Cervantes auf dem Theater erlebte, mit hellem Hallo – weil dadurch unser lieber Dichter gerade gezwungen wurde, an seinen grossen komischen Roman ranzugehen, dem der Ritter im Müllstubenfenster und meine We­ nigkeit ihre Weltexistenz zu verdanken haben.«
»Bist du nun fertig?« fragte der Herr Cer­ vantes.
Und der Sancho sagte leise:
»Ja, wenn mir jetzt die Berechtigung zuer­ kannte wird, mich »Professor« zu nennen.«
»Meinetwegen!« sagte der Herr Cervantes.
Da sprang der Sancho so hoch in die Höhe, dass er mit dem rechten Fusse die Mül­ lerstubendecke berührte.


A

Berichtet vom Beamtenstande und vom Ehe­ stande und von anderen Dingen.

ngg_shortcode_25_placeholder»Zunächst, mein Sohn Sancho«, sagte der Ritter im Fenster, der mit seinen beiden Beinen auf dem Rücken seines Rosinante stand, »muss ich Dir bemerken, dass die Meinungen, mit denen Du uns ergötzen wolltest, nicht als massgebliche zu betrachten sind, sintemal Du vom Wesen der Kunst eigentlich keinen blassen Schimmer hast und in puncto Belesenheit recht viel zu wün­ schen übrig lassen dürftest.«
»Dann erzählen Sie doch«, gab Sancho rauh zurück, »die Lebensgeschichte unsres Dich­ ters alleine weiter. Es ist ja bekannt, dass Sie sich immer sehr gerne reden hören. Sie können sich meinetwegen auch »Professor« nennen – ich mache mir gar nichts draus.«
Darauf legte sich der dicke Stallmeister lang auf den Fussboden hin, streckte seine Glieder recht behaglich aus und zündete sich ebenfalls eine Zigarre an.
Don Quichotte aber sprach mit gewandten Gesten und lebhaftem Minenspiel:
»Meine Herren, vergessen Sie nicht, dass jetzt unter uns die Vereinigten Freistaaten von Nordamerika vorbeiziehen. Sie brauchen nicht hinauszublicken, da es gerade in Nordamerika regnet und Regenlandschaften von der Vogel­ perspektive aus nur einen einfachen Wolkenein­ druck hinterlassen. Wir aber wollen nicht verges­ sen, dass der Herr Cervantes vom 38. bis zum 48. Jahre seines Lebens Theaterstücke schrieb, da er als verheirateter Mann für seinen Haus­ stand sorgen musste. Und das ist der Vorzug des Ehestandes, dass er den Ehemann zur Anspan­ nung aller seiner Kräfte zwingt. Und geht die Kraft auch manchmal nach der falschen Rich­ tung hin verloren, die Kraft wird doch immer gestählt, und die Muskeln und Nerven bleiben in der Übung. Demnach ist es auch nicht zu be­ dauern, dass der Herr Cervantes im Jahre 1594 nach Sevilla übersiedelte und dort der Unter-kommisionär des Antonio de Guevara wurde, der damals zum Hauptproviantkommisionär bei den indischen Flotten und Kriegsheeren ernannt worden war. Dieser Beamtenstand hat unserm Dichter noch mehr die humoristischen Adern zugespitzt als der Ehestand. Jetzt aber schauen Sie zunächst mal hinaus; wir haben, wenn ich nicht irre, bereits den Grossen Ozean zu unsern Füssen.«
Wir sahen nun alle drei zu den Fenstern hinaus, und der Herr Don Quichotte hatte sich nicht geirrt – der Grosse Ozean war schon unter uns und glänzte im Mondenschein.
Sancho Pansa warf seinen Zigarrenstummel in das grosse Meer hinunter und rief lachend:
»Passen Sie auf, meine Herren, wenn mein Zigarrenstummel in den Ozean stürzt, wird es zischen. Lauschen Sie!«
Wir lauschten – aber wir hörten nicht einmal das alte Meeresrauschen – nur ein Klap­ pern in den Flügeln der Windmühle war für uns vernehmbar.
Dann hörten wir Sanchos Esel schreien.
Und dann wieherte der Rosinante.


N

Erzählt das, was man darin finden wird.

ngg_shortcode_26_placeholderWährend nun die Wassermassen des Grossen Ozeans unter uns vorbeizogen – sehr tief unter uns – denn der Rosinante stand mit seiner Mühle sehr hoch, gingen wir in der Müllerstube auf und ab und plauderten von der Steuerverhältnissen in Spanien am Ende des sechzehnten Jahrhun­ derts.
Cervantes sagte:
»Ich reiste damals in verschiedenen Provin­ zen herum – als Steuererheber. Und dabei lernte ich das menschliche Leben immer mehr kennen, und es kam mir immer mehr sehr lächerlich vor. Und meine beiden Reisegefährten waren damals schon der Don Quichotte und der Sancho Pan-sa. Schon 1597 – also in meinem 50. Lebensjah­ re – waren Stücke meines Romans im Entwürfe völlig fertig.«
»Da möchte ich aber etwas bemerken!« sagte Sancho.
»Tu das!« versetzte der Dichter.
Und der Sancho sprach:
»Sehen Sie mal, meine Herren, unser Dich­ ter musste die grösste Komödie schreiben: die Komödie des Ehrgeizes und der Herrschbegier­ de. Das war’s! Und darum musste er allmäch­ tiger und verhasster Steuererheber werden. Se­ hen Sie da nicht wieder den leitenden Faden in diesem Dichterleben? Und ist es nicht so humor­ weckend, wenn man als ehrgeiziger Mensch eine herrschende Stellung bekommt und dabei von keinem Spanier hochgeschätzt wird? So erging’s unserm Dichter!«
»Mein Sohn Sancho«, sagte Don Quichotte wieder durchs Fenster, »werde blos nicht zu klug, sonst erkennt man Dich nicht wieder; eine gewisse Dosis Dummheit haftet an jedem Genie, und wer wie Du für ein solches gelten will, soll bemüht sein, immer wieder die berühmte Dosis in Erinnerung zu bringen.«
»Das können Sie, Herr Don Quichotte«, gab der Sancho zurück, »sich ebenfalls merken. Aber sehen Sie sich, meine Herren, nur die Ad­ lernase unseres Dichters genauer an. Muss ein Mann mit einer solchen Nase nicht leicht in Streit geraten? Muss er nicht besonders mit de­ nen in Streit geraten, die ihm Steuern zahlen sollen? Und ist es deshalb nicht auch ganz na­ türlich, dass der Herr mit der abgenommenen linken Hand oftmals wegen Scherereien ins Gefängnis kam? Und ist es daher nicht ganz so, wie es sein muss, wenn er im Gefängnis zu Ar-gamasilla, welches Nest in der Provinz La Man­ cha liegt, seinen grossen Roman vom scharf­ sinnigen Edlen Don Quichotte de la Mancha endlich regulär niederzuschreiben begann? Ich sage: endlich! Und damit habe ich wohl dieses Wort nicht missbraucht, denn die erste Nieder­ schrift begann unser Dichter im Jahre 1603 – im 56. Lebensjahre. Allerdings im Jahre 1604 er­ schien die erste Hälfte des Don Quichotte in Madrid schon im Druck! Grade heute vor 300 Jahren geschah das!«
Nach diesen Worten hörte man in der Mül­ lerstube einen grossen Kanonendonner aus der Tiefe herauftönen.
»Wird«, fragte Cervantes, »auf der Erde die­ ser Tag gefeiert?«


T

Die anmutige Schilderung eines Kriegsschauplat­zes, der bei Nacht und Nebel aus der Vogelperspekti­ve betrachtet wird.

ngg_shortcode_27_placeholder»Nein!« rief Don Quichotte, »wir haben den Kriegsschauplatz unter uns und tun gut, uns jetzt wieder auf Rosinantens Rücken zu setzen, um die Gegend gründlich inspizieren zu können.«
Schnell kletterte Cervantes durchs Fenster und setzte sich vorne aufs Pferd, hinter ihn setzte sich Don Quichotte – und ich setzte mich wieder auf die Schultern des scharfsinnigen Ritters.
Und dann bewegten sich wieder die Wind­ mühlenflügel und wir schössen pfeilschnell hin­ unter.
Und wir sahen bei Nacht und Nebel im hellen Mondenschein – Wladiwostok und Port Arthur – die Russen und die Japaner – Panzer­ kreuzer und Torpedobotszerstörer – grosse elek­ trische Scheinwerfer und kleine eilige Dampfbar-kassen.
Und das machte alles den Herren Cervan­ tes und Don Quichotte einen fürcherlichen Spass.
Sancho, der jetzt hinter mir auf Rosinantens Rücken stand, hatte weniger Vergnügen an die­ sem militärischen Schauspiel, und er sagte in sehr verdrossenem Ton:
»Dazu bin ich doch wirklich nicht aus der Unterwelt herausgekrochen, um mich hier in ve-ritable Lebensgefahr zu begeben. Ich wollte den dreihundertsten Geburtstag unsres scharfsinni­ gen Ritters feiern helfen – weiter nichts. Ich be­ fürchte jedoch, dass wir hier oben als Zuschauer erkannt werden könnten – und dann schiessen sie uns ihre dummen Granaten ins Gesicht.«
»Mein Sohn Sancho«, sagte Don Quichotte, »Du bist und bleibst ein Hasenfuss für alle Ewig­ keit. Hast du denn gar kein Verständnis für krie­ gerische Unternehmungen?«
»Nein! Nein! Gar keins!« schrie der Sancho.
Da sahen wir, wie aus einer Strandkanone in Port Arthur eine lange Feuersäule hervor-schoss.
Und dass bewegten sich die Lichtkegel der elektrischen Scheinwerfer auf dem Meere hin und her – auf und ab – sehr hastig – so wie Spin­ nenfinger.


E

Enthält die Schilderung eines Kriegsabenteuers, das die bedenklichsten Folgen haben könnte.

ngg_shortcode_28_placeholderNun hörten wir den Donner der Geschütze ganz deutlich.
Und auf den japanischen Kriegsschiffen sa­ hen wir jetzt auch die Feuersäulen aus den Ge­ schützen herausschiessen.
Und dann sahen wir, wie die Granaten und Bomben am Strande und auf den Schiffen auf­ schlugen und masthohe Flammen erzeugten -und Rauch – und Gekrache – und Gebrüll und Geschrei.
Der Herr Cervantes lenkte den Rosinante tiefer hinab, und da sahen wir denn noch mehr -und die donnernden Geschütze wurden so laut, dass man sich gar nicht mehr unterhalten konn­ te.
Und während wir nun eifrigst hinabblickten – da gab’s plötzlich dicht hinter uns einen furcht­ baren Krach.
Und Sancho schrie durch den Kanonen­ donner hindurch:
»Die Windmühlenflügel sind uns abge­schossen.«
Gleichzeitig aber schwankte ich seitwärts und fühlte, dass Don Quichotte vom Pferde stürzte.
Ich griff nach seiner Lanze und wollte sie in die Höhe reissen – da fühlte ich aber etwas Schweres unten an der Lanze – und sah, dass da unten der Sancho an der Lanze zappelte – und nun mit allen Kräften bemüht war – an der Lanze nach oben zu klettern – während ich mit Don Quichotte immer weiter nach unten sank.
Glücklicherweise sass Don Quichotte sehr fest im Steigbügel, und Sancho konnte ein Pfer­ debein ergreifen.
Und so kamen wir wieder langsam nach ungeheurer Anstrengung in die richtige Stellung.
Unter uns donnerten die Kanonen und Tor­ pedos ohne jede Unterbrechung.
Und wie ich mich grade für gerettet hielt, wurde mir plötzlich durch einen Granatsplitter mein Zylinder vom Kopfe gerissen, dass er im grossen Parabelbogen hinuntersank ins wilde Schlachtengetümmel.
Mein Zylinder vom Jahre 1888!
Sancho hatte es gesehen, als er grade in Don Quichottes linken Steigbügel mit dem rechten Fusse hineinstieg.
»Ich geb‘ Ihnen eine Müllermütze!« rief der dicke Stallmeister zu mir hinauf.
»Das nenne ich Geistesgegenwart!« rief der Herr Cervantes, riss den Rosinante zur Seite und stieg empor – immer höher – und hielt den Ro-sinante erst an, als wir chinesisches Gebiet unter uns hatten.
Ich biss mir auf die Zunge aus Versehen.
Sancho aber sagte zu mir:
»Sie, mein Herr haben mein Leben gerettet. Sie bekommen eine Müllermütze zum Anden­ ken.«
Ich dankte ihm sehr.

Und die Windmühlenflügel standen still.


S

Wie der dicke Sancho Pansa zum Ritter von den Bomben geschlagen wurde – nebst dem, was den drei Spaniern einen grossen Schreck einflösste.

ngg_shortcode_29_placeholderAls wir nun die Windmühlenflügel ansahen, da bemerkten wir, dass nur noch zwei vorhanden waren, die zu einander im rechten Winkel stan­ den.
»Ach du liebe Zeit!« rief Sancho, »daher wären wir bald alle mitten ins Kampfgetümmel gefallen. Es ist nur ein Wunder, dass sich der Rosinante so lange hat halten können. Die zwei Flügel arbeiten ja ganz anders. Und dem Rosin­ ante wird es nicht möglich sein, sich auf die Dauer im Gleichgewichte zu erhalten.«
Wir kletterten nun alle Vier ins Innere der Mühle, und da sprach Sancho zum Don Qui­ chotte gewandt – folgendermassen:
»Nach dieser Heldentat, Herr Don Quichot­ te, müssen Sie mich zum Ritter von den Bom­ ben schlagen. Sie haben sich damals in Valencia zum Ritter von den Löwen gemacht, als Sie sieg­ reich aus dem Kampfe mit den Löwen hervor­ gingen. Da ich heute siegreich aus dem Kampfe mit den Bomben hervorgegangen bin, so müs­ sen Sie mich zum Ritter von den Bomben schla­ gen – sonst stürze ich mich einfach zum Fenster hinaus und brech mir auf chinesischem Gebiete das Genick.«
»So knie nieder!« sagte Don Quichotte.
Und das tat der Sancho und wurde dann der Ritter von den Bomben.
Da rief der Cervantes erschrocken:
»Kinder, ich sehe einen roten Streifen im Osten. Die Morgenröte! Die Morgenröte!«
Da bekamen auch die beiden andern Spa­ nier einen grossen Schreck.
Ich aber verstand nicht, warum sie so er­ schraken.

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DAS LETZTE VIERTEL

C

Erzählt von der Müllermütze, von der Morgen­ röte – vom Stall und von den Sporen – und von den Widmungen.

ngg_shortcode_31_placeholderIch bekam nun zunächst von Sancho meine Müllermütze.
»Sie haben mir«, sagte Sancho, »das Leben gerettet. Dafür müssen Sie belohnt werden.«
Ich sprach dem Geretteten in den höflich­ sten Worten für die grosse Belohnung meinen Dank aus und wollte dann wissen, warum die Morgenröte so schrecklich für die Spanier sei.
»Oh«, sagte Sancho, »Sie dürfen nicht ver­ gessen, mein Herr, dass wir Geister aus der Unterwelt sind und demzufolge eine permanente Abneigung gegen das Sonnenlicht haben; wir sind doch nicht daran gewöhnt. Würden wir uns mal den Sonnenstrahlen preisgeben, so würden wir das fürchterlichste Gliederreissen bekom­ men.«
»Don Quichotte«, rief da der Herr Cervan­ tes, »du musst Dich auf den Rosinante setzen und ihm die Sporen geben. Die Müllerknechte werden von Zeit zu Zeit schreien: »Es geht in den Stall«. Dann wird der Rosinante kräftig mit den Beinen ausgreifen – und die verdammte Morgenröte wird hinter uns verschwinden. Reite, mein Ritter, schräge in die Höhe. Wenn wir weit genug fort sind – können wir oben wieder an­ halten. Wenn wir nur erst die Schmiede wieder erreicht haben!«
Es geschah alles, wie der Herr Cervantes gesagt hatte.
»Armer Rosinante!« sagte Sancho.
Die zwei Windmühlenflügel klapperten wie­ der.
»Sehen Sie«, fuhr nun Sancho zu mir ge­ wandt fort, »als der Don Quichotte vor 300 Jah­ ren in Madrid erschien, da musste sein Verfasser erst noch ein Buscapie schreiben, um die Neu­ gierde zu reizen – durch Anspielung auf bekann­ te Persönlichkeiten. So schwer ist es, ein gutes Buch ins Volk zu bringen. Ja, ja! Plebs bleibt Plebs. Vor 300 Jahren las der nur Ritterromane. Daher musste der Don Quichotte die engsten Beziehungen zu diesen Ritterromanen haben. Merken Sie sich das! Heute zu Ihrer Zeit liest der einfache Mann nur Zeitungen – also: wenn Sie ein Buch unters Volk bringen wollen jetzt im Jahre 1904 – so muss dieses Buch die engsten Beziehungen zur Zeitungslektüre haben – even­ tuell diese verhöhnen – oder so ähnlich.«
»Sancho«, rief der Herr Cervantes dazwi­ schen, »nun rede mal über die Widmungen.«
»Was jedoch«, sprach Sancho feierlich, »die Widmungen des Herrn Cervantes anbetrifft, so ist darüber das Folgende zu sagen. Wir mussten uns bei der Herausgabe des Don Quichotte nach einem Beschützer umsehen und wandten uns daher an den Herzog von Bejar und fragten ihn, ob er wohl die Widmung annehmen möch­ te. Und der Herzog wollte anfangs nicht. Erst als der Herr Cervantes das erste Kapitel vorgelesen hatte nahm der Herr Herzog an und wurde mit uns zusammen unsterblich. Sonst hat der Herr Cervantes zumeist nur aus Dankbarkeit gewid­ met – so dem Grafen von Lemos, Don Pedro Fernandez de Castra, der unser bester Mäcen war – neben dem Erzbischof von Toledo, Don Bernardo de Santoval. Na – alle Beide sind ja für ihr Mäcenatentum auch von uns unsterblich gemacht worden. Im zwanzigsten Jahrhundert widmet man zumeist, um Parteifarbe zu beken­ nen – so als wenn die Dichtung ein grosses Par­ lament wäre.«
Es gab einen Ruck und wir fielen alle Drei auf den Fussboden der Müllerstube.
Rosinante wieherte dabei – und das klang unheimlich.


E

Worin berichtet wird, wie Rosinantens Vorder­ beine mit Mehlsäcken beschwert werden – und über welche Dinge in der Müllerstube debattieret wurde.

ngg_shortcode_32_placeholderDon Quichotte kletterte durchs Fenster in die Müllerstube und sagte heftig:
»So geht’s nicht weiter! Der arme Rosinante hampelt sich ja die Beine aus. Die abgeschosse­ nen Windmühlenflügel haben uns aus dem Gleichgewicht gebracht.«
Da rief Sancho:
»Die Müllerknechte müssen die Vorderbeine des Rosinante mit Mehlsäcken beschweren – dann wird das arme Tier wohl besser in der Luft stehen können.«
Die Müllerknechte, die sich schon ganz hei­ ser geschrieen, taten, was der Sancho ge­ wünscht hatte.
Und wir sahen den Müllerknechten bei ihrer schwierigen Arbeit zu, während Persien tief unter uns vorüberzog – wie eine wellige weisse Wolke.
»Es ist aber«, sagte der Don Quichotte, »sehr irrtümlich, wenn man glauben möchte, ich sei blos eine Parodie auf alles ideale Streben. Hauptsächlich wird in mir die Tapferkeit ver­ höhnt, wie im Sancho die Feigheit verhöhnt wird und in der Dulcinea die Tugend. Ausser­ dem bin ich ein guter Mensch und ein Feind al­ ler Schlechten. Und auch diese meine Güte wird mir zur Komödie.«
»Ich habe mir«, fiel hier der grosse spani­ sche Dichter selber ein, »die grösste Mühe gegeben, Alles komisch zu nehmen – besonders aber mich selbst. Und aus diesem letzteren Bestreben ist es herzuleiten, dass der Don Quichotte so ein braver ehrlicher Kerl wurde.«
»Denn«, rief Sancho, »wer sein eignes Licht untern Scheffel stellt, wird sich nicht die Taschen mit fremden Geldern füllen.«
»Und es ist«, sagte Don Quichotte, »fraglos das Schlimmste, wenn man nimmt, was uns nicht gehört.«
»Aber auch diese Ehrlichkeit kann man komisch nehmen!« sprach der Sancho.
So sprachen die drei Spanier weiter, wäh­ rend die Müllerknechte dem armen Rosinante die Mehlsäcke an die Füsse banden.
Und ich fragte nach dem falschen zweiten Teil des Don Quichotte, und da wurde der Herr Cervantes gleich sehr lebhaft und heftig.
»Stellen Sie sich vor«, sagte er mit funkeln­ den Augen, »ich hatte mich nach der Heraus­ gabe des ersten Teils mit meiner Frau in die Ein­ samkeit zurückgezogen und durch die Freund­ lichkeit meiner Mäcene fast 8 Jahre in Ruhe ge­ lebt, 1613 gab ich meine Musternovellen heraus – da erscheint ein Jahr darauf der zweite Teil des Don Quichotte von Alonso Fernandez de Avel-laneda aus Tordesilla. Und dieser Kerl, der gar nicht mal so hiess – wohl aber, wie ich wusste, ein Schauspieldichter aus Arragonien war – hatte obendrein noch für Lope de Vega Partei ge­ nommen und mich als Schauspieldichter in den siebenten Rang gesetzt.«
»Und das«, rief Sancho, »können Sie noch nicht einmal heute nach dreihundert Jahren ko­ misch nehmen?«
Cervantes lachte und sagte gemütlich zu mir:
»Ja, es ist doch sehr vergnüglich, wenn uns-re Geschöpfe so lebendig werden, dass sie uns selber Moral predigen können. Na – jedenfalls kam der echte zweite Teil meines Don Quichotte 1615 heraus.«
»Und da«, sagte Don Quichotte, »wurde al­ len Lesern auch meine philosophische Bedeu­ tung klar. Ich bin eben auch der grosse Hohn auf alle wirkliche und wahre Grösse. Ich bin die spanische Grandezza an sich … der Grössen-wahn, der da weiss, dass er komisch ist. Ich bin die lebendige Selbstironie des kühnsten Dich­ ters, der je gelebt hat.«
»Und ich«, rief Sancho, »bin ganz bestimmt auch ein Philosoph und mindestens so bedeu­ tend wie der Ritter von den Löwen – da ich doch der Ritter von den Bomben bin.«
Während sich nun die Spanier also ganz gemütlich weiterzankten, waren die Müller mit ihrer Arbeit fertig geworden und kehrten nun laut fluchend in die Mühle zurück.
Der Rosinante spitzte seine langen weissen Ohren.


R

Was In der Müllerstube ausserdem noch passiert.

ngg_shortcode_33_placeholder»Bombensicher«, sagte Sancho, »ist aber unser Dichter stets ein Exemplum dafür, dass es Hu­ moristen stets ein bischen schlecht gehen muss, wenn sie was ordentliches schaffen sollen. Wie lange musste die Menschheit auf den zweiten Teil des Don Quichotte warten! Volle zehn Jah­ re! Wäre die falsche Fortsetzung nicht gekom­ men, so hätten wir die richtige nie gehabt.«
»Mein Sohn Sancho«, sagte der Don Qui­ chotte, »es muss nicht blos den Humoristen, sondern allen denen, die was Ordentliches lei­ sten sollen oder wollen, zeitweise schlecht gehen – denn die menschliche Natur ist träge von Ju­ gend auf, und alle Leute fürchten immer, dass sie sich überarbeiten könnten.«
»Sie sprechen«, sagte ich nun scharf, »ei­ gentlich nur das aus, was ich auch schon öfters ausgesprochen habe.«
»Dann trinken Sie doch«, sprach Sancho zu mir, indem er mir auf die rechte Schulter schlug, »mit dem alten Ritter von den Löwen Brüder­ schaft. Sie gehören zusammen.«
Da lachte der Herr Cervantes und sagte la­ chend:
»Kinder, jetzt haben wir aber keine Zeit mehr zum Scherzen. Herr Ritter von den Löwen, bitte, seien Sie so freundlich und sagen Sie noch ein paar Worte über meine andren Bücher. Wir müssen bald wieder in die Unterwelt zurück.«
Herr Don Quichotte räusperte sich mit der Hand am Munde und sprach:
»Anno 1613 erschienen, wie schon er­ wähnt, die Novelas ejemplares. Diese zwölf No­ vellen waren Erinnerungen aus der italienischen Soldatenzeit des Verfassers – und aus seiner Sklavenzeit in Algier. Da in Spanien zu jener Zeit eigentlich nur Übersetzungen italienischer No­ vellen existierten, so machten diese zwölf Mu­ sternovellen ihrer Originalität wegen ein gewis­ ses Aufsehen. Allerdings – original daran war wohl nur das Stoffliche und nicht das Formale. Eine neue Form hat sich unser Dichter eigentlich nur in dem Roman geschaffen, in dem ich selbst der Held zu sein die Ehre habe. Im Jahre 1614 erschien dann die Reise nach dem Parnass, Viage al Pamaso – in Terzinen wurde da der Verfall der spanischen Literatur behandelt. Das Büchlein ist in acht Kapiteln geschrieben – nach dem Muster des Cesar Caporale, eines italieni­ schen Dichters des sechzehnten Jahrhunderts. 1615 kamen dann die schon erwähnten Zwi­ schenspiele mit ein paar andern Schauspielen heraus – und gleich danach der zweite Teil dessen, der ich selber bin. Anfang April 1616 wurde noch Trabajos de Persiles y Sigismunda vollen­ det – eine Nachahmung des Theagenes und der Chariklea des Heliodorus. Dieser Persiles ist erst nach des Dichters Tode 1617 von seiner Ge­ mahlin Catalina herausgegeben.«
Wie der Don Quichotte grade das Wort »Catalina« aussprach, sah ich, dass der eine Mehlsack von dem linken Vorderbeine des Rosi-nante runterrutschte und in die Tiefe fiel – ich glaube, er fiel ins Schwarze Meer.
Der Rosinante musste aber geschlafen ha­ ben, denn kaum war der Sack gefallen, so fiel der Schimmel selber nach der rechten Seite um, so dass die Beine mit den Mehlsäcken sich drehten wie Windmühlenflügel – und wir in der Windmühle drehten uns mit – da flogen alle Mö­ bel und alle Spanier durcheinander.
Ich aber hielt mich krampfhaft am Fenster fest und sah dann, wie die Müllerknechte aber­ mals auf dem Pferde herumkrabbelten und mit grosser Mühe sein Gleichgewicht wieder herstell­ ten.
Ich blickte mich scheu um und sah die drei Spanier zwischen den Möbeln der Müllerstube auf dem Fussboden liegen.


V

Handelt von Dingen, die zu dieser Geschichte und zu keiner andern gehören.

ngg_shortcode_34_placeholderDie Müllerknechte fluchten draussen ganz mar­ tialisch, und ich sagte schnell, indem ich mich umdrehte:
»Könnten sie nicht die Lanze des Herrn Don Quichotte zum Fenster hinausstecken und durch Anpusten soweit verlängern, wie es nötig ist, um das Schwergewicht des Rosinante wie­ derherzustellen?«
Sancho sagte:
»Es ist nur gut, dass Sie auch mal einen schlauen Einfall haben. Das wollen wir so ma­ chen, denn das Gefluche der Müllerknechte ist nicht anzuhören.«
Und er machte es so, wie ich gesagt hatte; es wurde draussen wieder still; die Knechte zo­ gen sich in die Mühle zurück.
Don Quichotte jedoch schlang seinen rech­ ten Arm um den Hals des Cervantes und küsste die Stirne seines Dichters und sagte:
»Nun will ich noch erzählen, wie es mit unserm Dichter zu Ende ging. Ostern 1616 zog er, um seine Brust zu stärken, nach Esquivias, allwo seine Frau Catalina geboren war. Aber er blieb da nicht lange, da es immer schlechter mit ihm wurde; er musste schleunigst nach Madrid zurück. Hier liess er sich die letzte Ölung geben und schrieb dann einen sehr witzigen Brief an den Grafen Lemos. In diesem Briefe widmete er seinem alten Mäcen sein letztes Werk, den Persi-les. Und dann starb der Dichter am 23. April 1616. – 68 Jahre und sechs Monate alt. Irdische Schätze hinterliess der Dichter nicht – wohl aber andre. Begraben wurde der Dichter seinem Wunsche entsprechend bei den Trinitanerinnen ganz einfach – nicht einmal ein Leichenstein zeigt an, wo der Dichter Don Miguel de Cervan­ tes Saavedra ins Innere der Erde hinein gelassen wurde.«
Cervantes sass zwischen den Möbeln neben Don Quichotte – und Haar und Bart waren dem Dichter während der letzten Erzählung schnee-weiss geworden.
Ich stand ganz still und wagte kaum zu at­men.


A

Verschiedenes – und was uns abermals in der Müllerstube passierte.

ngg_shortcode_35_placeholderUnd Sancho Pansa sagte nun, indem er sich be­ mühte, so leise wie möglich zu sprechen:
»Kaum aber war unser Dichter begraben, so war sein Ruhm geboren. Im Laufe der letzten drei Jahrhunderte erschienen 400 Ausgaben in Spanien. Und ausserdem erschienen fast ebenso viele Übersetzungen – nicht weniger als 200 Übersetzungen in England, so dass ich wohl be­ haupten könnte, ich wäre der Urheber, der Grossvater des englischen Humors. In deutscher Sprache sind nur 70 Übersetzungen erschienen. Diese Zahl wird sich hoffentlich bald verdreifa­ chen, damit ich auch behaupten kann, ich wäre der Grossvater des deutschen Humors.«
»Mein Sohn Sancho«, sagte nun Don Qui­ chotte mit weicher Stimme, »Du bist doch wirk­ lich nicht imstande, eine Sache mit Ernst zu be­ handeln. Zuweilen muss ich das bedauern.«
Nach diesem Wort brach die Lanze in der Mitte durch, und ich sah wieder, wie unser Schimmel nach rechts überkippte. Und in der Müllerstube standen wir plötzlich alle auf dem Kopfe, was ganz natürlich zuging, da ja die glücklicherweise sehr niedrige Stubendecke nach unten kam, während das Pferd seine mit Mehlsäcken beladenen Vorderbeine auf seinen Bauch legte – und somit in der Luft auf dem Rücken lag.
Da riss mir aber die Geduld, und ich sagte heftig:
»Aber, meine Herren, das Umgestülptwer­ den mag wohl für die unsichtbaren Zuschauer ein Vergnügen sein – mir macht es keinen Spass.«
Da sagte Sancho:
»Mir auch nicht!«
Cervantes und Don Quichotte sagten das auch.
Ich aber wusste wirklich nicht, was ich dazu sagen sollte – ich schwieg.


N

Wie wir draussen waren.

ngg_shortcode_36_placeholder»Diesem Zustande wollen wir rasch ein Ende machen!« sagte der scharfsinnige Ritter Don Quichotte de la Mancha.
Und er liess von den Müllerknechten vier lange Balken zu den Fenstern hinausstecken.
»So«, sagte der Ritter darauf, »jetzt ver­ lassen wir diese ramponierte Müllerstube, damit uns nicht noch die Kacheln des Ofens auf die Nase fliegen. Und wir verlassen diese Stube durch die vier Fenster – jeder durch ein beson­ deres Fenster. Und draussen legen wir uns auf die Bretter so hin, dass der Rosinante für die Folge im Gleichgewicht bleibt.«
»Ich möchte aber«, warf ich ein, »nicht ger­ ne hinunterfallen.«
»Dann werden Sie eben angebunden!« sag­ te Sancho.
Das geschah nun, nachdem die Müller­ knechte das Pferd wieder umgedreht hatten.
Und dann lagen wir Vier sehr bald mit dem Bauch auf dem Balken, während unter uns in der Tiefe das Schwarze Meer vorbeizog.
Ich umklammerte fest meinen Balken und blickte hinunter in die Fluten des Schwarzen Meeres, die im Mondenschein glitzerten.


T

Von der grossen Gefahr, die von Osten kommt.

ngg_shortcode_37_placeholderNun hörte ich die Spanier leise miteinander sprechen, und mehrmals hörte ich, dass sie vom Schiessen sprachen.
»Ob sie«, dachte ich, »mich beschiessen wollen?«
Doch das war wohl nicht der Fall, denn ich hörte den Don Quichotte sagen:
»Das Pferd steht nicht fest genug – wir kom­ men zurück. Ich sehe auch schon wieder ein paar rote Streifen im Osten. Wir müssen dem Rosinante ein paar Kugeln ins Fell jagen – sonst kommen wir nicht zur Zeit in die Schmiede.«
»Laden wir rasch unsre Pistolen!« sagte Sancho.
»Jawohl«, sagte der Herr Cervantes, »es ist die höchste Zeit – ich fühle schon ein bedenkli­ ches Zucken in den Beinen.«
Und ein paar Augenblicke später hörte ich fünf oder sechs Pistolenschüsse.
Und mir war so, als würde ich mit meinem Balken noch weiter in die Welt hinausgescho­ ben.
Auf allen Seiten sah ich jetzt nur noch grosse strahlende Sterne und Mondenschein.
Der Balken unter mir schwankte auf und ab, als hätte ich riesige Meereswellen unter mir.


E

Enthält, wie sich der Leib des Rosinante verän­derte – und wie es weiterging.

ngg_shortcode_38_placeholderMit grosser Mühe gelang es mir endlich, mich umzublicken – und da sah ich denn, dass die Mühle zusammengedrückt war wie eine alte Hutschachtel, und der Leib des Rosinante hatte sich verlängert.
Und je länger ich hinsah – um so länger wurde der Leib des Rosinante.
»Das müssen wohl die Pistolenschüsse ge­ tan haben!« dachte ich dabei.
Und dann sah ich auf dem langen Leibe des Rosinante wieder die drei Spanier reiten.
Aber die drei Spanier waren jetzt riesig gross – Don Quichottes Lanze schien in die Ster­ ne hineinzuragen.
Und mir schwand das Bewusstsein.


S

Wie alles endete.

ngg_shortcode_39_placeholderIch fühlte plötzlich ein Dutzend harte Menschen­ hände an meinem Körper.
Ich riss erschrocken die Augen auf – und sah den Herrn Sandmann mit seinen Schmiede­ gesellen.
Die Gesellen lachten, und einer sagte:
»Jawohl, hätten wir nicht feste zugepackt, so wären Sie mit den Spaniern in die Unterwelt gefahren. Der Schimmel flog wie ein Pfeil.«
»Ich danke sehr! Ich danke sehr!« stotterte ich.
Und dann bat ich den Herrn Sandmann, mich schnell hinauszubringen – an die frische Luft.
Und man brachte mich hinaus.
Und da sah ich über den nassen Wiesen die Sonne aufgehen – ganz dunkelrot – so dun­ kelrot wie der Mond am Tage vorher.
»Sie sind 36 Stunden fortgewesen!« sagte der Herr Sandmann.
»So! so!« sagte ich.
Und ich starrte in die dunkelrote Sonne und freute mich, dass ich keine Angst vor ihr zu haben brauchte.
Ich nahm meine Müllermütze ab und stand ganz still.


alle Texte von Paul Scheerbart – ein fognin Projekt – bitte unterstützen:

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