Nabu-Kin

Paul Scheerbart

Verlassenes


Nabu-Kin

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Salmanassar der Zweite hatte sich in Kalach am Tigris, nicht weit ab von Ninive, einen riesigen Palast erbaut, dicht neben dem großen Palast seines verstorbenen Vaters, des Königs Assurnasirabal, den alle Götter sehr liebten und sehr verehrten. Aber Salmanassars Palast war doch noch größer als der Palast seines Herrn Vaters.

In diesem großen Palast, der eigentlich aus sehr vielen Palästen bestand, lebte auch ein kleiner Zwerg, der Nabu-Kin hieß und die Laute schlug und Witze riß tagaus und tagein. Der kleine Zwerg hatte einen sauber gekräuselten schwarzen Vollbart und gekräuseltes, sehr umfangreiches Haupthaar, unter dem das Zwergengesicht noch kleiner aussah.

Und dazu hatte Nabu-Kin eine Sklavin, die sich als Riesendame sehen lassen konnte. Und sie war viel stärker als die kräftigsten Krieger von des Königs Leibgarde. Nana-Bel-Usur hieß die Sklavin; der König hatte sie dem Zwerg in lustiger Laune geschenkt. Nana wurde sie kurzweg genannt und sie trug noch immer das Lammfleisch und die Datteln in den kleinen Pförtnerpalast, allwo immer viele Offiziere, Bogenschützen und Speersoldaten aus- und eingingen und ein sehr lautes Leben in die Bude brachten. Hier verkehrte auch sehr oft der kleine Nabu-Kin; und Nana schützte ihn und nahm immer seine Partei.

Hatte da doch neulich der Wagenlenker Samas dem kleinen Nabu-Kin zugerufen:

»Du Knirps, du kannst in die Löwenhöhle springen; die Löwen tun dir nichts; sie bemerken dich gar nicht; so kleine Knirpse lassen sie leben. Die Löwen sind viel zu faul, um eines so kleinen Happens wegen das große Maul aufzutun«.

Das hatte Nana gehört, die gerade mit gekochtem Lammfleisch hereinkam; sie stellte die Schüssel hin und gab dem Wagenlenker Samas eine Maulschelle, daß ihm das Blut aus der Nase spritzte.

Alles lachte.

Nabu-Kin aber sagte:

»Jedenfalls brauche ich nicht so viel Lammfleisch zu essen wie die großen Leute. Eine schwere Arbeit ist das Essen. Das Trinken ist leichter.«

Das Trinken besorgte nun der Kleine in sehr ausgiebigem Maße. Und er schlug dabei die Laute und riß Witze, gute und schlechte. Alles lachte immer und achtete nicht viel darauf, wie der Witz aussah.

Einmal aber – vergriff sich der Kleine. Das kam so.

Die Krieger des Königs hatten wieder am Westmeer bei Tyrus und Sidon eine gute Portion Schlachten geschlagen und beide Städte gezwungen, Tribut zu zahlen. Das machte dem König großes Vergnügen; denn Tyrus und Sidon waren damals sehr reiche phönizische Handelsstädte.

Die Sieger kamen im Triumphzug nach Kalach zurück.

Und die Leibschwadronen des Königs, lauter wilde berittene Bogenschützen, beschlossen, dem König eine kriegerische Ovation zu bringen. Hundert Offiziere der Leibschwadronen hieben kurz vor den Toren von Kalach hundert Gefangenen aus Sidon und Tyrus mit gewandtem Säbelschnitt die Köpfe ab und hingen sie an der Brust ihrer Pferde an den Haaren auf.

Und so ritten sie in den großen Palasthof, in dessen Mitte der König auf hohem Thron saß und die Ankömmlinge mit gnädigem Kopfnicken begrüßte.

Da ritten denn die hundert Offiziere im gestreckten Galopp siebenmal um den Thron. Und dann blieb alles regungslos stehen und alles brüllte siebenzigmal:

»Salmanassar!«

Immer nur den großen Namen des von allen Göttern auch sehr geliebten und sehr verehrten Königs von Assyrien und Umgegend.

Nach diesem fürchterlichen Gebrülle löste der eine Offizier seinen abgeschnittenen Feindeskopf von der Pferdebrust ab, schleuderte ihn mehrmals an den Haaren herum und warf ihn dann in hohem Bogen über das Haupt des Königs hinweg.

Der König blickte lächelnd empor und sah, wie der abgeschnittene Kopf sich oben in der Luft drehte und in der Sonne glänzte. Ein paar Blutstropfen fielen dem König auf die Nase; darüber jedoch ward er keineswegs unwillig.

Die neunundneunzig anderen Feindesköpfe flogen auch so im großen Parabelbogen hoch über den Kopf des Königs hinweg; aber einzeln. Diese Schmeißprozedur dauert drei volle Stunden. Dann schrien die Herren Offiziere wieder siebenzigmal:

»Salmanassar!«

Und dann gings noch siebenmal im gestreckten Galopp im Kreis um den Thron Salmanassars des Zweiten, wobei die Pferde getrieben wurden, recht oft auf die abgeschlagenen Feindesköpfe mit den Hufen zu trampeln.

Diesem Schauspiel wohnte auch Nabu-Kin bei.

Der König war ganz entzückt von dem echt kriegerischen Arrangement; nicht so der kleine Zwerg und Lautenschläger. Der sagte im Palast des Pförtners, allwo es nachher sehr hoch herging und viel Wein getrunken wurde, mit hämischem Gelächter:

»Die Herren Offiziere haben ein sehr unvollkommenes Schauspiel zum Besten gegeben. Der Mensch besteht doch nicht bloß aus dem Kopf. Wo blieben denn die modernden Gliedmaßen der Feinde? Wo sind sie geblieben? Das frage ich. Warum wurden nicht die Bäuche der Feinde über das Haupt des allmächtigen Königs hinübergeschleudert? Warum wurden nicht die anderen Rumpfteile der Feinde so geschleudert wie die Köpfe? Fehlten den anderen Rumpfteilen die Haare? Das schadete doch nicht; die Rumpfteile ließen sich doch an Lederriemen binden. Nicht drei Stunden: drei Tage hätte dieser kriegerische Festzauber währen müssen. Welch ein unvollkommenes Fest! Kriegerisch war’s ja. Das ist nicht zu leugnen. Eine Heldentat! Schon das viele Blut, das dabei herumspritzte, stempelt das Schauspiel zu einem wahrhaft kriegerischen Ereignis. Ich aber frage: Wo blieb der übrige Feind? Wo blieben Rumpf und Extremitäten? Können wir die nicht noch auftreiben und nachträglich dem König über das Haupt werfen? Der König wird sich mächtig dabei amüsieren und neun Zehntel des phönizischen Tributes an seine große kriegerische Palastgarde verteilen.«

Jeder Satz dieser Rede löste ein ungeheures Gelächter aus. Nabu-Kin wurde gefeiert wie ein Sieger und mußte Kriegsweisen zur Laute singen; komische Kriegsweisen. Und die sang er mit seiner krächzenden Stimme, daß der Palast des Pförtners unter dem unaufhörlichen Gelächter der Krieger zitterte und bebte.

Nur einer hatte mit verschmitztem Gesicht in der Ecke gesessen und nicht gelacht. Das war der Eunuch Miskun. Der ging nachher zum König und berichtete ihm den ganzen Spaß haarklein und wortgetreu; Miskun hatte ein gutes Gedächtnis; er hatte in der Priesterschule fast alle sumerischen Hymnen auswendig gelernt und war überhaupt im Auswendiglernen ein Meister.

Was aber tat der König?

Ei, der König wurde fuchswild. Mit seinem königlichen Scharfsinn merkte er ja gleich den Hohn in der langen Rede des kleinen Nabu-Kin. Ei! Der König sprang wie ein Besessener umher und zerschlug fünfzig alte Töpfe und viele Schalen aus gebranntem Ton; sein Zimmer ward zur Scherbenkammer.

Und dann sann Salmanassar auf einer stillen Gartenbank am Gestade des großen Tigris auf Rache; er wollte sich in sehr kriegerischer Form rächen. Dem Kleinen einfach den Kopf abschlagen lassen? Nein: Das war keine Rache.

Nach langem Nachdenken ließ er die Sklavin Nana-Bel-Usur rufen und ihr sagen, sie möge den Nabu-Kin wie eine Amme auf den Arm nehmen und so zu ihm bringen.

Der Ammenspaß wurde ausgeführt, obwohl Nabu-Kin sich zuerst sträubte.

»Nimm«, sagte der Zwerg schließlich, »nassen Ton mit, damit der König uns was Schriftliches geben kann. Es könnte vielleicht doch nötig sein.«

Nana tat, wie der Kleine wollte. Und dann gingen sie zum König, der in einem kleinen Landhaus am Tigris wartete, und zwar ganz allein, was selten geschah.

Der König sagte zu Nana:

»Halte den Kleinen an den Füßen!«

Sie tats, der Zwerg schrie und sagte:

»Dabei muß ich sterben. Laß los!«

Da ließ die Sklavin los und der Zwerg berührte mit den Händen den Erdboden. Aber Nana berührte zugleich mit der Faust des Königs linke Backe, daß ihm das Blut aus Mund, Nase und Augen quoll und er der Länge nach hinstürzte.

Da sagte zu ihm der witzige Zwerg:

»Halt, mein lieber König! Du willst dich rächen. Der Eunuch Miskun hat gepetzt. Er soll’s büßen. Wir aber sagen nichts von diesem Backenstreich, wenn du uns gleich schriftlich gibst, was ich dir diktieren werde. Schreibe! Wir sind augenblicklich zu Zweien stärker als du.«

Der Kleine zog seinen Dolch, der einen feinen Handgriff aus geschnitztem Affenknochen hatte, und der König stand langsam auf.

Nana reichte ihm breit grinsend die nasse Tontafel.

Der König sah, daß er unvorsichtig gehandelt hatte; er mußte sich in das Unvermeidliche fügen, denn er war ganz allein.

Und der Zwerg und Lautenschläger Nabu-Kin diktierte mit seiner krächzenden Stimme:

»Ich, der König Salmanassar, der die Götter liebt und verehrt und auch von ihnen geliebt und verehrt wird, bekenne hiermit bei Assur, Bel und Marduk, daß ich soeben eine fürchterliche Ohrfeige von Nana-Bel-Usur, die schon viele Ohrfeigen verteilt hat, bekommen habe, weil ich mich erfrechte, mich an Nabu-Kin wegen einer höhnischen Rede zu rächen. Ich weiß jetzt, daß der Witz eine größere Macht ist als das blanke Schwert. Lächerlich gemacht zu werden, ist sehr peinlich. Dieses alles darf nur dann veröffentlicht werden, wenn ich nochmals wagen sollte, mich an meinem geliebten und verehrten Zwerg Nabu-Kin zu vergreifen.«

Unterzeichnet ward dieses Schriftstück mit dem königlichen Siegelzylinder aus Lapislazuli, der über den feuchten Ton gerollt wurde.

Dann verabschiedeten sich die beiden, überließen den Eunuchen Miskun ruhig dem rachsüchtigen Salmanassar und flohen auf raschen Rossen schnurstracks durch die syrische Wüste ins ferne Ägypten, allwo die Tontafel des Nabu-Kin bei einer großen Mumie neulich von Engländern gefunden wurde. Sie wird im Londoner Kensington-Museum aufbewahrt.

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