Der brennende Harem

Paul Scheerbart

Verlassenes


Der brennende Harem

Ninivitische Bibliotheks-Novellette

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In Ninive war’s – in der großen Bibliothek des Assurbanipal – auf einer hochgelegenen Terrasse dicht am Tigris.

Unten auf dem Tigris fuhren gerade fünf Barken des Königs Assurbanipal vorüber; die Griechen nannten diesen König Sardanapal. Er war schon recht alt und lag in der einen Barke ganz still da und sah in den großen Strom, in dem große schwarze Schwäne herumschwammen.

Im Westen ging die Sonne unter und machte die Wellen des Tigris ganz bunt.

Das sah auch oben auf der Bibliotheksterrasse ein alter Priester, der Piru hieß und aus Babylon stammte. Piru saß in einem bequemen Fellstuhl, und neben ihm saß sein Neffe Gimilla, der feuchten Ton vor sich hatte und darauf in Keilschrift mit Elfenbeinstift einritzte, was ihm der Onkel diktierte.

Langsam sprach der alte Priester Piru, während sein Neffe Gimilla die Keile in den nassen Ton ritzte:

»Es sind schon zwanzig Jahre her. Es war damals gerade das zwanzigste Jahr in der Regierung unseres großen Königs Assurbanipal, den die Götter beschützen mögen. Des Königs Vater Asarhaddon hatte sein Reich kurz vor seinem Tode geteilt und den Norden mit Assyrien und Ninive dem König Assurbanipal gegeben – den Süden aber mit Babylon und Babylonien dem Halbbruder des Assurbanipal, dem König Saosduchin. Zwanzig Jahre hatten die beiden Brüder friedlich nebeneinander regiert – Saosduchin in Babylon und Assurbanipal in Ninive. Da zettelte Saosduchin, der König von Babylon, eine Empörung an – und zwischen Ninive und Babylon gab’s einen jahrelangen furchtbaren Krieg. Und ich war in Babylon und sah, daß die Babylonier immer schwächer wurden. Ich war Bibliothekar im Palast des Königs Saosduchin – auch Bibliothekar in vielen Tempeln. Und große Unruhe ergriff mich. Aufgehäuft in den Bibliotheken lagen unzählige Tontafeln mit Keilschrifttext; die ganze babylonische Literatur lag da. Aber ich war in Unruhe. Wenn die assyrischen Krieger die Stadt Babylon eroberten, so würde, das sah ich voraus, die Brandfackel überall alles zerstören – und die Tontafeln würden mit zerstört werden. Das machte mich so unruhig, daß ich beschloß, soviel wie möglich von den Tontafeln bei Seite zu schaffen und in Sicherheit zu bringen. Das war eine schwere Arbeit. Und sie konnte nur teilweise gelingen. Nur das beste konnte ich heimlich fortschaffen. Und ich lief Gefahr, dabei ertappt zu werden und den Kopf zu verlieren. In den Tempeln ging’s noch an, da konnte man andere Priester überreden, die Tontafeln rechtzeitig an einen sichern Ort zu bringen. Und wo man in den Tempeln nachlässig war, da konnte man leicht eigenhändig das Beste fortschaffen, da ja in vernachlässigten Tempeln aufmerksame Aufsicht zu mangeln pflegt.«

Piru hielt inne, und der kleine Gimilla, der noch keinen Bart hatte, ritzte eifrig die letzten Keile in den feuchten Ton und blickte dann empor.

Es war die Sonne schon untergegangen. Und es wurde dunkel. Alle Sterne funkelten bald am hohen tiefschwarzen Himmelsgewölbe.

»Hole«, sagte Piru, »die Lampen. Wir werden noch lange zu schreiben haben. Die Nacht ist milde. Unten plätschert der Tigris. Und kein Wind weht. Es ist noch schwül. Aber es wird sich schon abkühlen.«

Gimilla ging ab und holte zwei kleine Öllampen und stellte sie neben seine Tontafeln auf den sehr niedrigen Tisch, der vor ihm stand.

Und Piru diktierte wieder:

»Anders lag die Sache in der Bibliothek des königlichen Palastes. Saosduchin, der König, war sehr heftig. Und wer ihm vom Fortschaffen der Tontafeln etwas gesagt hätte, der hätte gleich das Henkerschwert im Genick gefühlt – und dann gar nichts mehr gefühlt. Ich hatte ein kleines Zimmer in der Bibliothek für mich allein. Das lag auch dicht am Wasser – am Euphrat. Das Wasser war aber dort ganz dicht vor dem Fenster. Die Bibliothek lag ein wenig tiefer als der Spiegel des Euphrat. Ich wollte nun so gern einen unterirdischen Gang bauen, um die besten Tontafeln heimlich fortschaffen zu können. Die Nähe des Wassers jedoch ließ mir den Plan unsinnig vorkommen. Hier waren alle unterirdischen Gänge scheinbar unmöglich. Aber gerade, sagte ich mir lächelnd, weil sie hier unmöglich erscheinen, deshalb könnte man wohl schon früher darauf gekommen sein, von hier aus – gerade von hier aus dicht am Euphrat – unterirdische Gänge anzulegen. Und ich untersuchte das Terrain.«

Er hielt abermals inne.

Dem kleinen Gimilla hingen die Haare ins Gesicht, die Öllampen erhellten die Haare, daß sie glänzten – und auch der feuchte Ton glänzte. Die Sterne am Himmel glänzten natürlich auch. Der kleine Gimilla ritzte die Keile in den Ton und sah dann seinen Onkel lange an und sagte:

»Onkel, du machst ja so lange Pausen. Ich kann sehr schnell schreiben. Und ich verschreibe mich nicht. Wenn ich erst mitten drin bin, so kann’s viel schneller gehen. Sprich nur, so schnell du willst, ich komme schon mit.«

Piru lächelte und meinte:

»Du weißt, daß ich alt bin. Und deswegen hast du nicht Angst, ich könnte zu schnell sprechen. Aber schreibe nur weiter.«

Der alte Priester saß einige Zeit ganz unbeweglich. Seine Züge wurden starr, dann diktierte er wieder:

»Eigentlich lag mein Zimmer vor einer Bucht des Euphrat. Rechts und links waren ganz hohe Festungswälle und starke Mauern mit hohen Türmen. Mein Zimmer und der dazu gehörige Teil des Palastes lag also sehr geschützt. Und so nahm ich an, daß hier trotz der tiefen Lage der Bibliothek unterirdische Räume sein könnten. Und ich suchte nach ihnen auch im oberen Teile der Wände – mit einer kleinen Leiter aus Pistazienholz. Wir brauchten die Leiter, die mit Achat und Lapislazuli verziert war, um die oberen Stockwerke der Gestelle zu erreichen, auf denen die Tontafeln lagen. Da oben neben einem sehr großen Gestell gab die Wand nach, und ich kam in einen langen, sehr langen dunkeln Gang. Wohl drei Stunden ging ich mit Öllampe, Hacke und Spaten in dem Gange, und da fand ich keinen Ausgang. Der Ausgang war zugemauert. Ich arbeitete zwei Monate, um die Zumauerung zu durchbrechen. Es war eine sehr schwere Arbeit. Und dann kam ich in ein zerfallenes Haus, das in abgelegener Gegend lag. Alle Tontafeln des Palastes brachte ich dorthin, legte an ihre Stelle wertlose Tafeln, auf denen Übungsstücke standen. Und dann kam die Belagerung des Palastes. Und ich holte die letzten Stücke. Und da brach Feuer im Palaste aus – im Harem des Königs brannte es lichterloh. Und die Haremsfrauen und Eunuchen schrien wie die Wahnsinnigen. Niemals werde ich dieses furchtbare Gekreisch vergessen – niemals – bis an mein Lebensende nicht. Und aus dem Palaste heraus konnte niemand, denn draußen stand der Assyrer, der alles niederschlug. Nun wollte ich den Bedrängten zu Hilfe kommen – ihnen von dem geheimen Gang erzählen. Und – ich wagte es nicht. Ich fürchtete das Geschrei der wahnsinnigen Frauen. Die wahnsinnigen Frauen konnten so leicht meinen Gang verraten – und dadurch all die Tontafeln in Gefahr bringen. Auch fürchtete ich, daß man den Fliehenden nachsetzen könnte. Denn es müßte den Belagerern auffallen, wenn plötzlich das Geschrei aufhören sollte. Man würde, dachte ich, schon vermuten, daß sie sich durch geheime Gänge ins Freie retteten. Und ich bekam’s nicht fertig, die Sterbenden zu rufen. Sie kreischten wie die Wahnsinnigen. Und ich stand in meinem finstern Gange und roch den Brandgeruch. Und ich vermochte nicht, mich zu bewegen. Ich gab den ganzen brennenden Harem dem Feuertode hin. Und ich rettete meine Tontafeln. Aber Hunderte von Menschenleben waren vernichtet – durch mich. Und ich kann das wahnsinnige Todesgekreisch nicht vergessen. Meine Tontafeln standen mir höher als die lebendigen Menschen. Ich konnte damals nicht mich von der Stelle bewegen. Aber ich hätte mich ermannen müssen. Was kam’s denn auf all das Geschreibsel an. Ich hör’s immer wieder um meine Ohren kreischen – den Todesschrei von Hunderten. Ich werde daran zu Grunde gehen. Ich halt’s nicht mehr aus. Aber die Tontafeln wurden alle gerettet. Der siegreiche König Assurbanipal hat alle Tontafeln des königlichen Palastes zu Babylon nach Ninive bringen lassen und nie erfahren, um welchen Preis sie gerettet wurden. Der König Assurbanipal hat den Tod seines Halbbruders Saosduchin, der mit seinem ganzen Harem in den Flammen seines Palastes zu Grunde ging, immer lebhaft beklagt. Saosduchin war eigensinnig und wollte sich nicht ergeben. Aber seinem Harem fiel’s nicht ein, eigensinnig zu sein – die Weiber und Eunuchen hätten alles hingegeben, wenn sie ihr Leben hätten retten können. Ich hätt’s retten können. Und ich hab’s nicht getan.«

Ganz starr saß der alte Priester Piru da und blickte in die Weite. Der kleine Gimilla hörte mit Schreiben auf, er war fertig. Die eine der kleinen Lampen verlöschte. Gimilla sank zur Seite und schlief ein. Piru erhob sich und trug die Tontafeln vorsichtig, aber mit zitternden Fingern zum Brennofen, wo noch gearbeitet wurde. Sieben Mal ging der alte Piru, denn es waren sehr viele Tontafeln, die Gimilla in dieser Nacht beschrieben hatte.

Dann verlöschte auch die andere Lampe, und der alte Piru ließ den kleinen Gimilla ruhig weiter schlafen, ging leise in sein Zimmer und legte sich auf seinen Diwan und zündete eine kleine Hängelampe an und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen und weinte.

Eine kleine Maus kam aus der Ecke des kleinen Gemachs, setzte sich auf die Hinterbeine und blickte verwundert den weinenden Mann an. Die Mäuse, deren es viele in der Bibliothek gab, schadeten dieser nicht, da sie Tontafeln nicht annagten.


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