Schauspieler, Shakespeare und die Bierrede

Paul Scheerbart

Theatertexte


Alter Schauspieler, Shakespeare und die Bierrede

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In der Nähe von Dahlem gibt es eine höchst feudale kleine Kneipe; sie heißt Krüger-Tempel.

Inhaber ist ein alter, ehrwürdiger Schauspieler, mit Namen Krüger. Einrichtung: alles Eiche – Wände, Tische, Stühle etc.
Nur die Gläser und Flaschen sind aus Glas. Es sitzt sich famos in diesem Tempel.

Trank neulich einen sanften Dämmerschoppen bei Krüger. Und der alte Herr setzte sich an meinen Tisch und erzählte mir von seinem Leben.

»Ach«, sagte er gutmütig lächelnd, »Sie glauben ja gar nicht, wie glücklich ich bin, daß ich dem Theater endlich entrinnen konnte.Hier ist es doch viel gemütlicher. Allerdings: Wir haben hier natürlich auch, wie es jetzt in allen besseren Lokalen üblich ist, eine kleine Bühne, auf der sich drei Personen ganz bequem bewegen können.«

Er zeigte mir eine erhöhte Nische, zog da einen alten Sanimetvorhang fort – und da war eine kleine Bühne – sechs Meter in der Breite, vier Meter in der Höhe – und ebensoviel in der dritten Dimension.
Wir setzten uns wieder, und ich fragte teilnehmend:

»Was hat Sie denn so sehr am Theater geärgert?«

Da versetzte er mit drohend geballter Faust: *

»Der alte Shakespeare! Zunächst hat er sich alle seine Dramen von einem wüsten Lord schreiben lassen. Und dann: wir nannten ihn immer unsern Gott – aber den Titel hat er nicht verdient. Denn Shakespeares Lord dramatisierte nur alte, damals vor drei Jahrhunderten sehr bekannte Novellen. Das haben wir ja jahrelang gar nicht gewußt.«
»Ja«, sagte ich, »das kommt davon, wenn man sich gar nicht um die Literatur bekümmert. Das kommt davon.«

Er fuhr fort:
»Das Höhnen steht Ihnen ganz gut. Aber sagen Sie blos das Eine: bei diesem alten Engländer konnte man immer die Hälfte oder zwei Drittel oder noch mehr ganz ruhig fortlassen. Es kam gar nicht darauf an. Ist das nicht eine Beleidigung des Schauspielers, wenn man ihm Stücke zu spielen gibt, bei denen es immer auf eine Hand voll Noten gar nicht ankommt?«
»Freilich«, erwiderte ich, »Möllere und Lessing sind ganz andre Leute. Aber – Sie lassen an dem alten Herrn auch nicht ein gutes Haar.«
»Doch! doch« sagte da der alte Krüger, »Shakespeare oder jener wüste Lord war ein sogenannter Formalist. Er konnte mit der Sprache so umgehen, daß einem Hören und Sehen verging. Das klippte und klappte oft so kalauerhaft zusammen, daß man jahrelang geglaubt hatte, – da stäke was dahinter. Es steckt aber nichts dahinter. Deshalb ist dieser Lord grandios, wenn er Idioten vorführt oder radebrechende Franzosen. Und darum sage ich: Shakespeare ist der größte Bierredner aller Zeiten; in einer Bierrede verlangt man keinen Sinn – man will den Unsinn.«

»Aber hören Sie mal, Herr Krüger«, sagte ich da, »gehen Sie mit Ihrem alten Gott nicht zu schlimm ins Gericht?«
»Keineswegs!« versetzte Krüger.
Wir tranken zusammen eine Flasche ganz alten Rheinwein.


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