Die Reform der Dramentitel

Paul Scheerbart

Theatertexte


Die Reform der Dramentitel


Gestern ging ich wieder zu meinem alten Theaterfriseur, der mir so lange die Haare brannte – damals, als sie noch pechrabenschwarz waren. Der Mann mit der Brennschere freute sich nicht wenig, als er mich nach so vielen Jahren wiedersah.

Er wollte mir einige schmeichelhafte Bemerkungen über mein vortreffliches Aussehen sagen, aber ich lächelte schmerzlich, wies mit dem linken Zeigefinger auf meinen Scheitel und sagte:
»Sparen Sie Ihre Begeisterung. Meine Haare sind so weiß wie der Schnee auf dem Nordpol.«
»Lassen sich ja färben!« rief er lachend. »Wollen Sie die Haare dunkelbraun, blond oder schwarz haben – oder vielleicht rot gefällig? Ich kann das ganz schnell machen, mache so was alle Tage.«
»Hören Sie auf!« sagte ich. »Ich bin kein Betrüger. Ich will keinen meiner Mitmenschen mit meinen Locken betrügen. Aber – brennen können Sie mir mein nordpolschneeweißes Haupthaar wie einst- als es noch schwarz war- wie Ebenholz. Entschuldigen Sie, daß ich so poetisch werde, wenn ich von meinen alten Haaren spreche.«

»Oh!« sagte er, während er schon mit Kamm und Bürste vorging, »das tut nichts. Ich werde jetzt auch poetisch. Ins Theater komme ich ja meiner umfangreichen Tätigkeit wegen nur selten. Aber dafür lese ich jetzt mit großem Eifer die Titel der Theaterstücke. Das ist doch auch eine poetische Beschäftigung.«

»Ja<<, versetzte ich, »die meisten Menschen sind ja heute so beschäftigt, daß sie eigentlich sämtlich sich nur mit den Titeln aller Werke beschäftigen können. Daher kommt wohl auch das große Ansehen, das heutzutage alle Titel genießen. Wir leben ja in der großen Titularzeit. Nun reden Sie weiter. Was haben Sie denn bei Ihrem Titelstudium entdeckt?«

»Ich habe«, sagte er leise, »entdeckt, daß sämtliche Dramentitel dringend einer Reform bedürfen. So geht’s nicht weiter. Ein junger Dichter hat nämlich neulich ein Stück mit einem Titel geschrieben – der Titel schmeißt sämtliche andern Dramentitel einfach um. Deshalb müssen alle Titel – auch die der älteren Dramen- reformiert und umgewandelt werden.«

»Wie heißt denn«, fragte ich neugierig, »dieser gemeingefährliche Dichter? Und- wie heißt sein Stück?<<

»Schmidt-Bonn heißt der Dichter«, erwiderte der Theater­ Friseur, »und sein Stück heißt: Hilfe! ein Kind ist vom Himmel gefallen.«

»Ein guter Titel!« rief ich heftig. Er aber – der Friseur – fuhr fort:

»Natürlich! Der Titel schmeißt alles um. Darum müssen auch die Titel der älteren Stücke umgewandelt werden. Sonst halten sie die Konkurrenz nicht mehr aus. Und darum habe ich den Theatern vorgeschlagen, nach dem Schema Schmidt-Bonn Reformtitel einzuführen. Für Othello könnte stehen: Ein Schnupftuchräuber wird zum Leutnant befördert. Ach, das finde ich so poetisch. Für Macbeth empfehle ich: Sie werden sehen dickes, geronnenes Menschenblut an den Händen des Königs und der Königin. Das zieht! Nicht wahr? Und für Julius Caesar sage ich einfach: Potentat, du wirst mit kaltem Stahl ge­spickt. Für Coriolan sage ich stolz und sehr vornehm und sehr aristokratisch: Ich werde mal mein Vaterland ganz gehörig verhauen. Ja – bei solchen Titeln kann die Wirkung nicht ausbleiben. Der Titel für Harnlet hat mir Schwierigkeiten gemacht, schließlich bin ich geneigt, folgendermaßen für Harnlet zu sagen: Weh dem, der mir nicht glaubt, daß ich total verrückt bin! Halten Sie das für genügend? Sie sind ja so schweigsam.«

»Ihre Unterhaltung«, sagte ich, »interessiert mich so sehr, daß ich Sie nicht unterbrechen wollte. Der Harnlettitel genügt. Fahren Sie fort in Ihrem Titular-Vortrage.«

Und er fuhr fort- anderthalb Stunden hindurch- alle bekannten Theaterstücke bekamen neue Titel.

Und meine Locken wurden dabei immer herrlicher – viel herrlicher als damals, da sie noch schwarz waren – wie Ebenholz.


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Revision 31-12-2022

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