Das Technische im Theater

Paul Scheerbart

Theatertexte


Das Technische im Theater


Wir fuhren mit dem Dampfer nach Spitzbergen. Und als wir zu den Orkney-Inseln kamen, wurden die Felsen auf allen Seiten immer schroffer und wilder. Und ich hatte die Empfindung, daß sich die Felsen uns nähern wollten.
Und so wars auch. Das heißt, wir fuhren sehr bald durch einen ganz engen Kanal, in dem die Felsen rechts und links wie in gewaltigen Irrgängen hoch emporragten, so daß man vom leuchtenden blauen Himmel ganz hoch oben nur einen schmalen Streifen sah.
Es war im letzten Sommer.

Neben mir saß ein sehr fideler Ingenieur – Victor Hannemann hieß er. Und in diesem gigantischen Felsentorweg sprach dieser Herr Hannemann über das Technische im Theater.

»Wissen Sie«, fragte er lachend, »daß wir vor zwanzig Jahren als Schüler der Technischen Hochschule in Charlottenburg mächtig stolz waren? Wir sagten immer: die Technik kann alles – besonders auf der Bühne – da ist der Technik nichts unmöglich – rein gar nichts.«
Ich blickte zu den Felsen empor – und sah da plötzlich Vögel – aber es waren viele Millionen – und ganz große Vögel, die von den Fischen des Meeres lebten. Sie saßen da ganz gemütlich auf den vielen Klippen und blickten ruhig auf unsern Dampfer herunter.

Herr Hannemann sah auch die vielen großen Vögel, ließ sich aber in der Entwicklung seines Theaterthemas nicht stören.

»Sie glauben gar nicht«, sagte er ganz ernst, »wie stolz wir damals waren. Und dann bin ich sehr oft ins Theater gegangen. Und dann wurde mir sehr bald vor der Göttlichkeit unserer Technik doch etwas seltsam zumute. Alles sollte die Technik können? Ebenso leicht könnte man sagen, daß die Kunst des Malers jede Landschaft vollständig wiedergeben kann. Nun – an diese Vollständigkeit der Kunstwerke glauben wir heute nicht mehr. Den ganzen Zauber dieser Felsen mit den unzähligen, ruhig dasitzenden Vögeln kann der Maler eben nicht geben – die Photographie – selbst die fertigste – kanns auch nicht. Darum sollte man aber vom Techniker ebenfalls nicht verlangen, daß er alles auf der Bühne kann. Der Techniker sollte sowas auch nicht mehr von der Technik behaupten. Trotz alledem geht aber heute der Techniker auch auf der Bühne in allen Dingen voran.«

»Aha«! sagte ich leise, »die Einleitung war aber ein wenig umständlich. Sie hätten auch noch von Wagners Lindwurm sprechen können. Der hat das Ansehen der europäischen Technik auch nicht viel gesteigert.«

»Schon richtig«, versetzte der Herr Hannemann, »aber trotz alledem bleibe ich bei meiner Überzeugung: auch auf der Bühne hat der Techniker heute das erste entscheidende Wort – wie auf allen anderen Lebensgebieten. Sie werden doch zugeben, mein Herr, daß die Bühnenwerke aus den verflossenen Jahrhunderten heute nicht mehr große Anziehungskraft besitzen. Man will doch etwas Neues. Nun – die Herren Dichter sind allein nicht in der Lage, wirklich etwas Neues zu schaffen. Das wissen Sie doch, mein Herr, noch viel besser als ich. Also: wer nur kann hier helfen? Sie werden doch zugeben, daß hier nur der Techniker helfen kann. Er muß eben das bislang auf der Bühne verwertete Darstellungsmaterial bereichern oder umgestalten, nicht wahr«?

»Wie denken Sie sich das«? fragte ich ganz leise und sah dabei, wie große Vogelschwärme plötzlich ihre Felsensitze verließen und rauschend zum Himmel emporstiegen. Herr Hannemann antwortete mir nach einer Weile, als das Flügelrauschen nicht mehr so laut zu hören war:

»Wie in der Textilindustrie die Ornamentik durch die Beschaffenheit der Webstoffe verändert wird, so gibt auch auf der Bühne die Wandlungsfähigkeit der Lichteffekte und der Kulissenkunst Veranlassung, neue Pfade in der dramatischen Kunst aufzusuchen. Zum Beispiel: ist der Techniker in der Lage, Wesen aus der vierten Dimension vorzuspiegeln, so werden sofort Stücke mit vierdimensionalem Wesen geschrieben werden. Augenblicklich sind wir ja in der Technik noch nicht so weit. Aber das Beispiel ist wohl einleuchtend. Wenn der Techniker Glaswände auf der Bühne einführt, mit denen man ganz neue Farben-, Licht- und auch Geistereffekte hervorbringen kann – so ist doch die große Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß bald diesen Glaswänden entsprechende Thea-
terstücke geschrieben werden dürften.«
»Sie wollen also ein Glastheater mit Licht- und Schattenspielen gründen, nicht wahr«?

Also fragte ich scharf und sah Herrn Hannemann durchdringend an.
Der aber sagte lächelnd:

»Wenn Sie zugeben, daß die Technik auch auf der Bühne den Vortritt hat, so bin ich gerne bereit, ein Glastheater zu gründen. Aber mit dem Glase allein ist es noch nicht getan. Es ist auch nötig, die Bühnen zu erobern. Es ist zu langweilig, daß man auf der Bühne immer noch nicht fliegende Personen auftreten läßt. Die Fliegenden treten natürlich nicht auf. Aber Sie verstehen mich wohl.«

»Ich verstehe«, sagte ich heiter, »Sie wollen die ganze Kulissenkunst revolutionieren. Sie haben sicherlich auch ein anderes Material für die Kulissen erfunden. Ist es so leicht wie
Wolken? Das wäre sehr leicht transportabel.«
»Alles«, versetzte nun sehr ernst der Ingenieur, »kann die Technik auch heute noch nicht. Aber sie kann viel viel mehr, als das Theaterpublikum ahnt.«

Er sprach noch viel mehr – aber alles will ich heute noch nicht verraten.


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