Die Urgrossmutter

Paul Scheerbart

Revolutionäre Theater-Bibliothek


Die Urgrossmutter

Eine Tragi-Komödie in einem Aufzuge

Personen


Die Urgrossmutter
Constantin, der Enkel
Manella, seine Braut

Drei rechtwinklig zu einander stehende altfränkisch tapezierte helle Wände mit Blumenmuster und ovalen Familienporträts in verschiedener Grosse. In der rechten Seitenwand hinten kleine Türe. Vor der hinteren Wand ein Himmelbett mit hellblauem Rattunvorhang umzogen – weisses Blumenmuster auf dem Vorhange. Hinten links kleines Fenster mit Kanarienvogel, Nähtisch und kleinem Rorbsessel. Vorne links und rechts kleine Tische und Stühle mit Häkelarbeiten überdeckt und überzogen. Kleiner Teppich in der Mitte mit englischem Blumenmuster im schlechtesten Geschmack der siebziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts. Auf dem Teppich uralter Grossvaterstuhl mit Topflehnen. Auf diesem Stuhl sitzt die Urgrossmutter. Links von ihr, aber mehr nach vorne, ein Tisch mit Medikamenten, Goldschnittbuch, Taschentuch und Brille.
Constantin und Manella kommen schweigend herein und küsen der Urgrossmutter ehrfurchtsvoll die rechte Hand.

Urgrossmutter: (mit matter Stimme) Setzt Euch, Kinder! Du, Constantin, komm hier an meine rechte Hand – und die Ella kommt hier vor den Tisch, nicht wahr? (Beide nehmen zwei niedrige Hocker, rücken ein wenig am Tisch und setzen sich.)
Manella: Urgrossmutter, hast Du auch die Medizin schon genommen?
Urgrossmutter: Ja, mein Kind! Jetzt soll aber auch der Constantin seine Medizin bekommen.
Constantin: Liebe Urgrossmutter!
Urgrossmutter: Sprich nicht! Ich weiss Alles. Die Ella hat mir erzählt, dass Du ein sogenannter Weltverbesserer werden möchtest – das genügt ja.
Constantin: Liebe Urgrossmutter!
Urgrossmutter: Rede nicht! Höre zu! Ich kann mir ja denken, dass Du in Deinen jungen Jahren Dir leicht einbilden kannst, Du seist klüger als der liebe Gott und verstündest Dich aufs Weltenschaffen besser als Er.
Constantin: Liebe Urgrossmutter!
Urgrossmutter: Lass mich ausreden! Ich weiss ja, was Du sagen willst. Du glaubst, diese Welt sei man sehr unvollkommen – die jungen Leute machen lauter dumme Streiche, und die alten Leute sterben altmählich ab. Ja, das sieht ja so von aussen nicht sehr erbaulich aus. Aber deswegen darfst Du doch nicht die Welt verachten. Denn – wenn man seinen inneren Frieden gefunden hat – so pflegt man den äusseren Unfrieden nicht mehr sehr ernst zu nehmen. Lass mich aussprechen – es fällt mir schwer, meine Gedanken zusammen zuhalten. Sieh nur an! Die gute alte Zeit war doch wirklich eine gute alte Zeit – das würdest Du einsehen, wenn auch Du Deinen inneren Frieden gefunden hättest. Und deswegen sollst Du Beamter werden, mein Kind! Lass das Weltverbessern ändern Leuten, die dazu verdammt sind, im innern Unfrieden ihre Erdentage dahinzuleben.
Constantin: Nein, Urgrossmutter! Beamter kann ich leider nicht werden.
Urgrossmutter: Gut! So werde ich Dir Dein Erbteil entziehen, und Du sollst nur so viel bekommen, wie Dir von Gesetzes wegen zusteht.
Manella: Urgrossmutter! Mach uns nicht unglücklich! Sei nicht zu streng gegen Constantin!
Urgrossmutter: Ich will Constantins Bestes – und da ist Strenge das erste Erfordernis.
Constantin: Liebe Urgrossmutter, ich werde Dich ebenso lieb haben wie bisher – auch wenn Du mich enterben solltest. Aber – Beamter kann ich nicht werden.
Urgrossmutter: Das dachte ich mir! Ich weiss ja, dass Du nicht so leicht zu biegen bist. Aber – wenn Du durchaus nicht Beamter werden willst – so versprich mir wenigstens, ein bestimmtes Studium zu ergreifen, das mit einer festen Stellung gekrönt wird.
Constantin: Liebe Urgrossmutter – das Studieren ist heute wirklich veraltet – und hat nur noch für Spezialforscher einen Zweck. Die Spezialforscher haben aber heute nicht mehr eine so grosse Bedeutung – jedenfalls nicht eine, die mir genügt. Ich will eben mehr. Wenn Ihr mich Weltverbesserer nennt – so nennt mich meinetwegen so. Aber – aus dem Studieren, wie Ihrs Euch denkt, wird auch nichts.
Urgrossmutter: Also so weit ist es nun schon gekommen? Du willst Dein Verderben. Du willst das Neue, das Nochnichtdagewesene – und weisst nicht, dass das blos Unfrieden bringt – während der innere Friede nur am Alten hängt – an alten Möbeln, alten Institutionen, an alten Leuten und alten Sitten, an alten Fürsten und alten – Urgrossmüttern.
  Also so weit ist es nun schon gekommen? Du willst Dein Verderben. Du willst das Neue, das Nochnichtdagewesene – und weisst nicht, dass das blos Unfrieden bringt – während der innere Friede nur am Alten hängt – an alten Möbeln, alten Institutionen, an alten Leuten und alten Sitten, an alten Fürsten und alten – Urgrossmüttern.
Constantin: Urgrossmutter! Vielleicht finde ich den inneren Frieden grade in dem Neuen, das ich suche. Wenn ich das Neue, das ich suche, gefunden habe, werde ich auch den inneren Frieden haben.
Urgrossmutter: Nein, den inneren Frieden findest Du nur beim Alten – er lässt sich von dem Alten nicht ablösen. Constantin, ich werde heute noch sterben.
Constantin: Aber Urgrossmutter!
Manella: Aber Urgrossmutter!
Urgrossmutter: Ich lebe kaum noch zehn Minuten – deswegen schwöre mir, Constantin, beim Andenken Deiner Mutter, dass Du eine feste Stellung annehmen willst.
Constantin: Aber Urgrossmutter!
Urgrossmutter: Willst Du mir den letzten Wunsch in meinem Leben nicht erfüllen?
Constantin: Ja! Ja!
Urgrossmutter: So schwöre!
Constantin: Ich – ich – schwöre.
Urgrossmutter: (leise) beim Andenken meiner Mutter
Constantin: beim Andenken meiner Mutter
Urgrossmutter: (leise) eine feste Stellung anzunehmen und alle Weltverbesserungspläne in den Ofen zu stecken.
Constantin: (spricht das zögernd und schliesslich lächelnd nach.)
Urgrossmutter: (laut) Um meines inneren Friedens willen.
Constantin: (hart) Um meines inneren Friedens willen.
Urgrossmutter:  Jetzt sterbe ich! Ich – segne – Euch!
  (Fällt zurück und ist tot. Die Beiden springen erschrocken auf, behorchen sie und befühlen sie und fangen dann zu weinen an und sinken sich schluchzend in die Arme.)
 

Langsam fällt der Vorhang.

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