Der Wetterfürst

Paul Scheerbart

Revolutionäre Theater-Bibliothek Band II


Der Wetterfürst

Ein Schauspiel zwischen hohen Bergen

Personen


Jarrimo, ein alter Wetterfürst.
Lisabella, seine Tochter.
Roderich, ein Oberzwerg.

Erster Aufzug    
Altdeutsches Holzzimmer. Links – etwas weiter ab von der linken Seitenwand – ein grüner Ofen mit der Schmalseite nach vorn. Vor dieser ein Lehnstuhl mit Kopflehnen. Die hohe Rückenlehne links im rechten Winkel zur Schmalseite des Ofens. Hinter der Rückenlehne in der entsprechenden Entfernung Thüre in der linken Seitenwand. Vor dem Lehnstuhl grosser Tisch mit Kugelfüssen auch mit der Schmalseite nach vorn. Hinter der hinteren Schmalseite des Tisches ein zweiter Lehnstuhl in derselben Stellung wie der vordere, so dass seine Rückenlehne die halbe Breitseite des Ofens deckt. Hinter dem hinteren Stuhle breites, nicht sehr hohes Fenster mit Aussicht auf weisse Bergkuppen, Gletscher und blauen Himmel. Rechts hinten quer vor der hinteren Wand ein alter Diwan mit dunkelgrünem Tuch. Vorne rechts vor der rechten Seitenwand ein altdeutsches Buffet. Hinter dem Buffet in der rechten Seitenwand eine zweite Türe. Auf dem hellen Fussboden an einzelnen Stellen weisser Sand. Die Seitenwände rechtwinklig zur hinteren Wand.Im vorderen Lehnstuhl sitzt der alte Jarrimo vor einer alten, sehr grossen Chronik, im hinteren Lehnstuhl am Fenster sitzt seine Tochter Lisabella.
JARRIMO Heute ist es ruhig draussen.  
LISABELLA Ja – wenns doch so bliebe!  
JARRIMO Es ist aber die Ruhe vor dem Sturm.  
LISABELLA Väterchen! Du bist doch ein Wetterfürst! Kannst Du den Sturm nicht verhindern?  
JARRIMO Warum?  
LISABELLA  Es kommen dann wieder so viele Menschen um – und das tut mir so leid.  
JARRIMO Warum?  
LISABELLA Väterchen! Ich leide so mit  
JARRIMO Das solltest Du nicht, denn Du weisst, dass Alles seine Gründe hat. Das Unwetter muss sein – sonst verweichlichen die Menschen.  
LISABELLA Wenn ich aber höre, was die Menschen unter dem Unwetter leiden, so leide ich das Alles mit. Väterchen, bestell den Sturm ab!  
JARRIMO Du weisst: Ich handle auf höheren Befehl.  
LISABELLA Väterchen, hast Du mich nicht lieb?  
JARRIMO Ja.  
LISABELLA So bestell den Sturm ab – ich leide so sehr mit  
JARRIMO Ich will nicht, dass du leidest.  
LISABELLA So bestell den Sturm ab, liebes Väterchen!  
JARRIMO nach langer Pause. So hole den Roderich.  
Lisabella springt auf und geht hinten rechts ab und kommt gleich mit Roderich wieder, der sich auf den Diwan setzt.    
JARRIMO Lisabella, lass uns allein!  
Lisabella ab vorne links.    
RODERICH Was willst Du von mir?  
JARRIMO Ich will, dass der nächste Sturm verhindert wird.  
RODERICH Können wir tun – es kostet Dich aber das Leben.  
JARRIMO Tu, was ich will!  
RODERICH Gut! Ich werds besorgen.  
 Hinten rechts ab.    
Es wird ganz dunkel.    

Zweiter Aufzug    
Es wird wieder hell. Die Scene ist wie vorhin. Jarrimo sitzt im Lehnstuhl allein. Lisabella kommt von links.
LISABELLA  Nun, Väterchen, hast Du den Sturm abbestellt?  
JARRIMO Ich habs getan.  
LISABELLA Ach, Väterchen, wie dank ich Dir!  
Kniet vor ihm nieder und küsst seine Hand.    
JARRIMO Ich fühle, dass ich sterbe.  
LISABELLA Aber – Väterchen!  
JARRIMO Gieb mir noch ein Glas Wein.  
LISABELLA läuft zum Buffet und giesst ein Glas Wein ein. Hier, Väterchen! Aber sterben darfst Du nicht.  
JARRIMO Ich muss.  
Er trinkt das Glas halb aus.    
LISABELLA Warum?  
JARRIMO Weil ich Dir den Willen getan habe.  
Er sinkt zurück, das Glas fällt und zerbricht.    
LISABELLA Vater! Roderich! Roderich!  
Sie hebt des Vaters Kopf und hält ihn, Roderich kommt.    
LISABELLA Der Vater stirbt.  
RODERICH Das wusste ich. Er hats so haben wollen.  
LISABELLA Weil er den Sturm abbestellt hat? Deswegen?  
RODERICH Deswegen musste er sterben.  
Setzt sich auf den Diwan, Lisabella liegt wieder vor ihrem Vater auf den Knieen und streichelt seine Hände  
LISABELLA Väterchen, warum hast Du mir das nicht gesagt? Ich hab das doch nicht gewusst.  
Weint    
RODERICH Weisst Du, Kind, warum Dein Vater starb?  
LISABELLA Warum?  
RODERICH Er wollte Dir durch seinen Tod zeigen, dass es nicht gut ist, Mitleid zu haben – mit den Menschen.  
LISABELLA Und warum ist es nicht gut?  
RODERICH Weil den Menschen des Mitleid garnichts nützt.  
LISABELLA aufstehend Und um mir diese Weisheit beizubringen – dazu musste mein Vater sterben?  
RODERICH Er war Dir wohl zu gut; er hatte wohl Mitleid mit deinem Mitleiden.  
LISABELLA Und so bestrafte er sich selbst?  
RODERICH Vielleicht.  
LISABELLA setzt sich auf ihren Stuhl am Fenster. Ich habe kein Mitleid mehr – mit Keinem.  
Sieht starr hinaus.

Vorhang!

 

 

 

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