Der Regierungswechsel

Paul Scheerbart

Revolutionäre Theater-Bibliothek


Der Regierungswechsel

Ein politisches Drama


Personen.

Der grosse Napoléon, ein Kaiser.
Der grosse Zibólko, ein Künstler.
Susanne, ein Modell.

Zeit: Gegenwart.
Ort: Weisse Bühne.


Rechts eine weisse Wand – links eine weisse Wand – hinten eine weisse Wand.Und mitten auf der Bühne steht eine alte Trittleiter als einziges Möbel da.

Und auf der Trittleiter ganz hoch oben steht der grosse Napoléon. Er hat wie gewöhnlich die Arme über der Brust gekreuzt. Das mit dem bekannten Hut bedeckte Haupt ist sinnend nach vorn gebeugt. Die Stulpstiefel glänzen, und die Beinkleider des Kaisers sehen weiss aus. Der graue Sommerschlachtenmantel hängt, ohne zugeknöpft zu sein, schlaff herunter – wie ein altes schmutziges Handtuch.

Der grosse Schlachtendenker steht ganz ruhig eine gute Weile auf seiner alten Trittleiter wie ein Denkmal, während sonst Nichts vorgeht und sich Niemand weiter auf der weissen Bühne sehen lässt.

Plötzlich erscheint der grosse Zibólko im Hintergrunde.

Zibólko hat kolossal weite, nach orientalischer Manier dicht überm Fuss zugebundene, orangefarbene Beinkleider an. Eine breite hellblaue Schärpe umhüllt den Leib, ein dunkelblaues offenes Sammtjacket mit weiten Puffärmeln den Oberkörper. Ein weisser, oben ganz spitzer Riesenkalabreser krönt das blondgelockte Haupt. Das seidene Hemd ist natürlich schneeweiss.

In der Linken hält der Künstler eine kreisrunde, küchentellergrosse Palette und in der Rechten seinen berühmten armlangen Riesenpinsel.


ZIBÓLKO.

Wer steht da oben auf der Trittleiter?

NAPOLÉON.

Europas – Napoléon!

ZIBÓLKO.

Und was will Napoléon auf der Trittleiter?

NAPOLÉON.

Mein lieber Zibólko, Sie scheinen sehr kurzsichtig zu sein. Sehen Sie denn nicht, dass ich hier oben das zwanzigste Jahrhundert regiere?

ZIBÓLKO.

Was? Da oben auf meiner Trittleiter regieren Sie – das ganze zwanzigste Jahrhundert? Wie sind Sie blos da hingekommen?

NAPOLÉON.

Wundern Sie sich blos nicht so viel. Das ist ja lästig. Sie wissen doch, dass ich mich in meinem ganzen Leben niemals gewundert habe.

ZIBÓLKO.

Ich möcht‘ aber ausserdem sehr gerne wissen, wie Sie’s fertig bringen, da oben so ohne Weiteres zu regieren – gleich ein veritables Jahrhundert zu regieren. Brauchen Sie dazu nicht ein kleines Szepter?

Droht schmunzelnd mit dem Riesenpinsel.

NAPOLÉON.

Nein, mein lieber Zibólko. Ich stehe hier ganz einfach da und suggeriere den Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts meine Gedanken auf. So regier ich!

ZIBÓLKO.

Sie? So! Na – das begreif ich! Aber – was für Gedanken suggerieren Sie denn den Menschen auf?

NAPOLÉON.

Militärische – selbstverständlich! Fragen Sie nicht so dumm! Vergessen Sie nicht, wen Sie vor sich haben!

ZIBÓLKO.

Ach! Jetzt bin ich aber erst recht neugierig. Gibt’s denn auch »militärische« Gedanken? Das ist ja zu komisch! Herr, wie sehen die aus?

NAPOLÉON.

Frag Er doch nicht immer so wie ein alter Kammerdiener! Was für Gedanken soll ich denn haben? Ich kann doch nur militärische Gedanken haben. Ich denke an Flinten und Kanonen, an Säbel und Bajonnettes, an blanke Stulp-Stiebel und klirrende Sporen, an blanke Knöpfe und blanke Helme, an Epaulettes und Orden, an Granaten und Raketen, an Trommeln, Pfeifen, Pauken und Trompeten, an Pulver und Blei, Dynamit und Panzerschiffe, Hurrahgebrüll und Torpedos – na? – was noch? – zum Teufel! Ich denk ans Militär!

ZIBÓLKO.

Und das nennen Sie Gedanken?

NAPOLÉON.

Das nenne ich allerdings »Gedanken«. Jeder vernünftige Mensch nennt das »Gedanken«. Und Sie werden mir jedenfalls zugeben, dass die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts diese Gedanken ebenso gut kapiert haben – wie die des neunzehnten Jahrhunderts. Mir ist es eben gelungen, diesen Menschen diese Gedanken aufzusuggerieren – einzutrichtern – Sie verstehen wohl. Ich regiere eben das zwanzigste Jahrhundert auch. Wollen Sie das vielleicht bezweifeln?

ZIBÓLKO.

Nein – das kann ich nicht bezweifeln. Sie haben ja so Recht! Ich bewundere Sie! Wahrhaftig! Hand aufs Herz! Doch, Herr Napoléon, wissen Sie, was ich möchte?

NAPOLÉON herablassend.

Na, mein lieber Zibólko, was möchten Sie denn?

ZIBÓLKO.

Das zwanzigste Jahrhundert möcht ich regieren.

NAPOLÉON.

Sie leiden wohl – wie die meisten Künstler – an Grössenwahn.

ZIBÓLKO.

Herr – wenn Sie so anfangen – dann will ich Ihnen bald zeigen – wem die Trittleiter gehört. Die Trittleiter ist mein Eigentum.

NAPOLÉON.

Sie sind ein Narr!

ZIBÓLKO. Und Sie sind ein Wallross!

Dringt mit dem Pinsel auf Napoléon ein – die Palette als Schild benutzend. Der Kaiser zieht kaltblütig seinen Degen, und Zibólko zieht sich erschrocken zurück.

SUSANNE mit roter indianischer Federkrone und dünnen wallenden lilafarbigen Gewändern, stolz und feierlich in den Vordergrund schreitend.

Was ist denn hier los? Ein Duell?

ZIBÓLKO.

Ein Duell mit ungleichen Waffen.

Hustet.

SUSANNE.

Träum ich denn noch? Das ist ja der olle Napolium!

ZIBÓLKO.

Napolium! Stimmt!

Hustet wiederum.

SUSANNE.

Und was will der auf der Trittleiter?

ZIBÓLKO.

Regierte mal das neunzehnte Jahrhundert.

Stampft mit dem Fuss auf.

SUSANNE.

Und Zibólko – Du? Was gedenkst Du nun zu tun?

ZIBÓLKO.

Ich will das zwanzigste Jahrhundert regieren.

SUSANNE schüttelt mit dem Kopf.

Wir wollten hier doch rein machen – die Wände abfegen – und Du – Du willst jetzt wieder das zwanzigste Jahrhundert regieren?

ZIBÓLKO.

Kind, was verstehst Du davon?

SUSANNE.

Ach, zum Spassen bin ich nicht hergekommen, dazu ist das Leben viel zu ernst. Ich hole den Besen.

Ab.

ZIBÓLKO.

Ich bitte Sie – gehen Sie da runter und blamieren Sie sich nicht! Was soll die Susanne davon denken?

NAPOLÉON.

Sehr hübsches Kind – diese Susanne!

ZIBÓLKO.

Gefällt sie Ihnen?

NAPOLÉON.

Ausserordentlich.

Wendet den Kopf, die Susanne kommt mit einem grossen Haarbesen zurück.

ZIBÓLKO.

Dem Napolium gefällst Du, liebe Susanna. Sieh doch zu, dass Du ihn mit Güte herunterbringst.

SUSANNE.

Mit Güte?

ZIBÓLKO.

Schaf, mit Gewalt geht’s doch nicht.

SUSANNE listig und schlau.

Vielleicht mit einer grösseren Macht.

ZIBÓLKO.

Mit welcher denn?

SUSANNE.

Zibólko! Mit Liebe geht’s! Ich sage Dir: mit Liebe geht Alles! Ich schmacht ihn an!

Rührend.

Polli! Süsser Polli!

ZIBÓLKO.

Nun denn – man los! Lustig! Zeig, was Du kannst!

SUSANNE.

Oh, mein Napolium, ich bin eine indianische Prinzessin! Mein Herzblut schäumt wie der Niagarafall. Fall nicht um, Napolium! Ich liebe Dich! – denn Du bist gross. Und ich liebe alle grossen Männer. Das ist ja mein Beruf. Komm runter an mein Herz! Steck aber zuvor Deinen Degen ein!

Napoléon steckt den Degen ein und steigt vorsichtig die Stufen hinab. Susanne breitet mit dem Besen in der Rechten ihre beiden nackten Arme aus. Pathetisch schreitet der Kaiser mit durchgedrückten Knieen auf das freundliche Modell los und legt ihm feierlich die Rechte auf die Schulter. Das Mädchen fällt ihm natürlich um den Hals und wirft ihm mit dem Besen, dessen Haare oben sind, den Hut vom Kopf. Zibólko steigt währenddem schleunigst auf die Trittleiter hinauf und setzt sich ruhig auf die höchste Stufe – hält die Palette wie einen Reichsapfel, den Pinsel wie ein Szepter.

SUSANNE.

Napolium, schenk mir Deinen Hut! Ja? Bitte! Bitte! Mein lieber guter Polli!

Fällt beim Aufheben des Hutes vor dem Kaiser auf die Kniee.

NAPOLÉON mit weit ausgestreckter Rechten.

Susanne, ich schenke Dir den Hut!

SUSANNE.

Nimm meine Federkrone dafür!

NAPOLEON.

Mit Wonne!

Susanne setzt dem Napoléon die Federkrone auf und wirft den Napoléonshut nach hinten an die weisse Wand.

SUSANNE.

Hol mir den Hut zurück! Schnell! Wirds bald?

Napoléon stampft wütend mit dem Fuss auf, folgt aber dem Befehl. Susanne rennt ihm nach, entreisst ihm den Degen und gibt ihn dem Zibólko, der sich behutsam auf den Degen raufsetzt.

NAPOLÉON.

Susanne, was erlaubst Du Dir?

SUSANNE.

Komm, Du dummer Polli, ich will Dir Märchen erzählen! Wirst Du wohl kommen!!

Beide hinten rechts oder links ab.

ZIBÓLKO allein.

Die Susanne hat offenbar den Napolium besiegt! ohne Frage! Susanne ist tatsächlich ein Genie! Die hat die Taktik und Diplomatik mit Löffeln gefressen. Während sie mich liebt, liebt sie den Napolium! Und ich kann ruhig regieren – kann ruhig das ganze zwanzigste Jahrhundert regieren. Spass! Ich regiere mit Pinsel und Palette! Jetzt will ich der Welt was aufsuggerieren!

Fächelt sich mit der Palette frische Luft zu, hält den Pinsel nach unten wie einen Säbel.

Die Geschichte wird einfach grossartig!

Tiefsinnig – fast murmelnd.

Die Uniform verfiel in Grössenwahn und schuf sich einen Apostel, den die Welt Napolium nannte. Jetzt soll die Kunst in Grössenwahn verfallen und – und –

Unheimlich langsam aufstehend.

Zibólko soll der Kunst-Apostel sein!

Während er sich fest auf zwei Mittelstufen der Trittleiter stellt.

Huh! Man staune! Zucken da drüben nicht bunte, glitzernde Glanzlichter auf! Das ist ja wirklich das zwanzigste Jahrhundert! Na natürlich! Ein glänzendes Zeitalter: Strahlende Riesenpaläste öffnen sich! Hei! Das ist ein Künstlerreich!

Mit verklärten glänzenden Augen.

Die Welt wird nicht mehr hypnotisiert durch die Farbenpracht der Uniform – nein – fürderhin hypnotisiert nur noch die Farbenpracht der allein selig machenden Kunst.

Tiefsinnig – sehr geistreich.

Die blanken Kunstknöpfe sind tausend Mal heller und feuriger als die blanken Soldatenknöpfe, die alle Tage blind werden. Donnerwetter! Wer das nicht einsieht, kann sich begraben lassen.

Sich lachend hinter den Ohren krauend.

Der Glanz der Kunst wirkt wie sieben Mal hundert siebzig tausend Milliarden ganz heisser Riesensonnen mit dicksten Milchstrassen – ach was! – noch viel stärker – viel – viel stärker!

SUSANNE hinter einer der drei weissen Wände sehr laut.

Napolium, ich sage Dir: ich bin Susanna, eine sagenumwobene indianische Prinzessin, die sich Nichts weiss machen lässt! Du musst mir gehorchen.

ZIBÓLKO.

Susanne, was schreist Du da so? Sei endlich still! Hörst Du denn nicht, dass ich jetzt schon das zwanzigste Jahrhundert regiere? Bist Du taub geworden?

NAPOLÉON stürmt wütend mit der Federkrone auf dem Kopfe nach vorn. Susanne mit Napoleonshut folgt mit hocherhobenem Haarbesen.

Herr!! Was fällt Ihnen eigentlich ein?

ZIBÓLKO setzt sich schnell.

Sie – Sie – Sie gänzlich veralteter Napolium – machen Sie sich nicht länger mausig! Das rat ich Ihnen in allem Ernst. Helfen tuts Ihnen doch nichts. Ich regiere hier! Sehen Sie das nicht? Sind Sie auch kurzsichtig geworden?

NAPOLÉON.

Zibólko, mach Er, dass Er da runter kommt.

ZIBÓLKO. Susanne, nimm den Besen und feg den Napolium raus!

SUSANNE fegt den Napolium raus. Marsch, Napolium! Es hat zum Abschied geblasen! Du hast hier lange genug Komödie gespielt!

Napoléon stolpert ab. Man hört im Folgenden, wie er hinten viele Treppen runterfällt.

ZIBÓLKO steht wieder auf.

Napoliums Ende und Zibólkos Anfang! Jetzt setzt es Künstlergedanken! Neue Geister kommen Flügel schlagend hell lachend heran. Wir können Alle lachen! Gewaltige Weltbilder mit neuen Sternen und neuen Sonnen steigen schon im Hintergrunde drollig leuchtend in die Höh‘. Neue »lustige« Raketen mit ganz bunten Diamanten funkeln und zischen rechts und links! Jetzt haben wir endlich – Farben – Paläste – echten Weltrausch – Welten – Welten! Wunder entzündende magische Lichter flackern überall! Und alle Menschen denken und empfinden jetzt wie ich! Das ist eine Lust. Weihrauch! Weihrauch! Jubelt mir zu! Ich bin ja der »Künstler an sich«! Habt Ihr das nicht gleich mir angemerkt? Kinder, lasst Euch küssen! Weihrauch! Weihrauch! Ich suggeriere! Ich regiere!

Schluchzt und agiert furchtbar mit den Armen.

SUSANNE kommt langsam ohne Besen mit gefalteten Händen wieder nach vorn – weinend.

Zibólko! Napolium brach das Genick. Er fiel all‘ die vielen Treppen runter. Die langen Sporen tragen an Allem die Schuld!

ZIBÓLKO Napoléons Degen mit dem Fuss auf den Fussboden herunterstossend.

Schmeiss dem Napolium auch den Degen nach! Spute Dich! Die barbarische Waffe beleidigt mein Künstlerauge!

SUSANNE hebt den Degen auf und stürmt mit ihm fort.

ZIBÓLKO Steigt, während der Degen des Kaisers hinter der hinteren Wand laut klirrend die Treppen runterfällt, auf die höchste Stufe der Trittleiter und hebt den Pinsel mit steifem Arm steil wie Arminius empor – schreit laut.

Der Degen fällt,

Und ich regier die Welt!

Susanne erscheint wieder im Hintergrunde mit dem Napoliumshut auf dem Kopfe, faltet still die Hände, geht langsam an die Trittleiter und sinkt neben derselben auf ein Knie. Zibólko bleibt unbeweglich in seiner Denkmalsstellung stehn – starrt kühn in die Zukunft.

Vorhang!


scheerbart-theater   Der Schornsteinfeger

Index: Theater

alle Texte von Paul Scheerbart – ein fognin Projekt – bitte unterstützen:

Bitte helfe mit diese Seite zu erhalten: der digitale Bettler Creative Commons-Lizenzvertrag Dieses Werk von fognin ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht-kommerziell – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz.  Weitere Infos über diese Lizenz können Sie unter hier erhalten

Revision 31-12-2022

image_pdfimage_print