Visionen

Paul Scheerbart

Regierungsfreundliche Schauspiele


Visionen

Schauspiel in einem Aufzug

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Personen:

Professor Neumann, Grubenmaler
Melitta Neumann, seine Tochter

Die Handlung spielt in einem Bergwerk.

Die Szene stellt eine Schluchtpartie in einem Steinkohlenberg­ werk dar. Melitta ist abgestürzt und liegt in der Mitte. Es genügt auch, wenn das Bergwerk durch eine Wand aus zerknittertem schwarzen Glanzpapier markiert wird.


Melitta ist weiß bekleidet und so schwach beleuchtet, daß das Gesicht kaum zu erkennen ist. Erst später, wenn über ihr das Licht der Scheinwerfer zu sehen ist, wird das Gesicht deutlicher.

Melitta: (müde): Das Schreien hat keinen Zweck. Hier hört man mich nicht. Die Wände sind ganz steil; ich kann nicht hinauf. Und ich muß hier liegen bleiben, da ich sonst noch tiefer stürzen könnte. Wie tut mir die linke Hand so weh. Wenn man mich mit Scheinwerfern suchen würde, dann könnte ich wohl gerettet werden. Aber man wird wohl nicht daran denken. Und dann werde ich nie wieder die Sonne sehen. (Sie erhebt sich mühsam) Vielleicht werde ich noch wahnsinnig werden – vor Angst. Ich werde immerzu sprechen, damit ich meine Stimme höre. Dann werde ich meinen Verstand behalten. Ich werde mir Mühe geben, ganz deutlich- zu denken- und zu sprechen .. Es ist nur -gut, daß ich noch sprechen kann.

Aber – mir wird jetzt alles schwarz vor den Augen. Ich kann mich nichtmehr halten.(Fällt wieder hin.Man sieht danach über ihr den dünnen Strahl eines Grubenscheinwerfers, dervon oben ihr Gesicht etwas erhellt, ohne es zu treffen. Der Scheinwerfer zittert auf dem schwarzen Stein auf und nieder und ver­ schwindet mehrmals im Folgenden)

Vater, Du hast ganz Recht: die letzten Augenblicke unsers Lebens müssen die intensivsten sein. Und das Intensivste ist natürlich das Stärkste. (Pause) Und das Stärkste ist das Groß­artigste. Ja, Vater! Ich weiß es, Du hast es ja so oft gesagt. Nur deswegen sterben auf der Erde immerzu so viele Tiere und Menschen, damit recht viele Augenblicke durchlebt werden, die sehr intensiv- sehr stark- sehr großartig sind. Ja, Vater! Wie kommst Du aber her? Bist Du denn hier? Nein! nicht gestorben? (Pause)

Hast wirklich keine Angst gehabt, als Du starbst? Wirklich nicht? (Pause) Ich habe Angst. Aber, Felix,

treten heraus. Gräßlich! Felix! 0 Gott, hilf mir! (Pause)

Jawohl, lieber Gnom! Es war aber so schrecklich. Ich sah ja, wie dem armen Felix der ganze Kopf platzte! Mußte er denn noch einmal sterben? Er ist doch schon vor einem Jahr gestorben. Man kann doch nicht immer wieder noch mal wieder sterben. (Pause)

Du hast auch einen so langen weißen Bart, lieber Gnom! Mein Vater ist größer als Du. Aber sein Gesicht sieht so aus wie Dein Gesicht. Warum bist Du so klein? Du bist ja noch kleiner als der Felix. Ich habe so furchtbare Angst vor dem Sterben. Und dann soll ich alles, was ich zu Hause hatte, nie mehr wiedersehen? (Pause)

Das ist das Grausige! Nfe soll ich wieder meinen Vater sehen? Und die Sonne soll ich auch nicht mehr sehen? Und meine Orchideen soll ich auch nicht mehr sehen? (Weint)

Was nützt mir das, daß meine Schmerzen so groß sind. Weißt Du, was Abschiednehmen heißt- für immer? Was hab ich von der Intensivität dieser Abschiedsempfindungen? Die großen Angstempfindungen soll ich nicht unterschätzen? (Pause. Weinen)

Ich unterschätze sie ja nicht. Ich weiß ja, daß die Schmerzen sehr intensiv – sehr kräftig – sehr großartig sind.
Wenn ich aber leben bleibe, hab ich die Empfindungen des Sterbens noch viel deutlicher. (Pause)

Das glaubst Du nicht? Da muß ich Dir doch rasch sagen, was mein Vater immer sagte. Ein Zeichen niedriger Natur ist es, sagte er immer, wenn man nur auf die schärfsten Reizmittel reagiert. Muß man denn gleich, um aufgerüttelt zu werden, Todesfurcht haben? Die Wesen, die sich noch gegenseitig totquälen, sind ganz rohe Wesen. 0, so furchtbar roh. (Pause)

Es gibt so rohe Frauen? Ich will aber nicht so roh sein. Verstehst Du mich nicht? (Pause)

Ich hasse diese furchtbare Stärke der Empfindungen. Für die niedern Tiere mögen sie notwendig sein. Für Melitta, ach, Du alter Gnom, für Melitta sind so starke Reizmittel nicht nötig. (Pause)

Ich will Dir sagen, mir fällt noch etwas ein. Ich weiß, wie man die Todesfurcht überwindet. Jetzt weiß ichs ganz genau. Mein Vater hats mir ja so oft gesagt. Daß ich das auch vergessen mußte. (Pause)

Du willst es wissen? Komm näher! Du weißt doch, daß wir alle von einem Größeren in die Welt gebracht wurden. Ein großer Geist war- früher nannte man ihn Gott- jetzt nennt man ihn nicht mehr so – jetzt gibt man ihm keinen Namen mehr – er ist wie ein großer, großer Riesenbaum – und wir sind die kleinen Aeste an diesem Riesenbaum. Und wenn wir uns losgelöst haben, so müssen wir nachher wieder zu ihm zurück – durch seine großen, starken Wurzeln durch. Und wenn wir (der Scheinwerfer trifft jetzt voll ihr Gesicht) wieder zu ihm kommen- ich fühle ja- Du Kleiner- ich fühle ja, daß ich jetzt wieder in ihn, den Großen, hineinfließe. Ich fühls. Jetzt bin ich glücklich. Jetzt leb ich mit ihm zusammen. Ich komme in die große Baumkrone hinein – hinauf!
Du, Kleiner, komm mit! Jetzt bin ich selig. Jetzt hab ich nicht mehr Furcht vor dem Tode. (In der Ferne hört man leise den Vater: Melitta! rufen) Sich an den Großen anlehnen- das macht alle Furcht tot. (Der Vater ruft noch einmal, lauter: Melitta!)

Wer rief da meinen Namen? Bin ich nicht schon tot? Warum höreich noch meinen Namen rufen? (Der Vater ruft zum dritten Mal: Melitta!) Das war ja meines Vaters Stimme! Vater! Vater! (Eine Strickleiter kommt über Melitta am Stein herunter, so daß die Leiter Melittas Kopf berührt. Sie erwacht und schlägt die Augen auf und erfaßt die Strickleiter) Oh! Ich bin gerettet! Soll ich nun fröhlich sein? Das Sterben war so köstlich! So sterben müßte jeder! (Sie steht auf und steigt auf die Strickleiter) Vater! Vater! Ich komme! Ich erzähle Dir! (Der Vater ruft jetzt sehr freudig und ziemlich nahe: Melitta!) Vater, ich habs erlebt!

(Vorhang)


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Revision 31-12-2022