Jagdgesellschaft

Paul Scheerbart

Regierungsfreundliche Schauspiele


Jagdgesellschaft

Schauspiel mit den neusten Entdeckungen


Personen:

Ludmilla Mandel
Dr. Merseburg
Dr. Magdeburg
Carl Miesnick
Ein Ungeheuer

 

Die Handlung spielt in der höhern Erdatmosphäre am Ende des zweiten Jahrtausends christlicher Zeitrechnung.

Das Innere eines Luftmotorwagens. Hinten rechts und links, hinter den Seitenwänden, Eingänge. An den Seitenwänden Stühle oder Bänke. Ludmilla vorne links, Dr. Merseburg vorne rechts.


Dr. Merseburg: Wir befinden uns vierzig Meilen über der Erd­ oberfläche. Draußen ist die Luft so dünn und so kalt, daß wirs da ganz bestimmt nicht drei Sekunden aushalten würden.

Ludmilla: Ach, die Menschenhabens doch schon riesig weit gebracht.

Dr. Merseburg: Aber es ist den Menschen doch noch nicht gelungen, eine einzige Sternschnuppe in diesen Höhen zu fangen.

Ludmilla: Lassen Sie nur: soweit bringen wirs auch noch einmal. Man darf nur nicht die Geduld verlieren.

Dr. Merseburg: Unser Luftmotorwagen ist mit den allerneusten Fangapparaten ausgerüstet. Vielleicht gelingt es uns doch, eine Sternschnuppe zu fangen.

Ludmilla: 0, das wäre ja herrlich.

Dr. Merseburg: Der Herr Miesnick behauptet ja, daß er schon als Sternschnuppenjäger unten auf der Erde Steuern zahle.

Ludmilla: Na, dann muß ihm doch mal ein Fang gelingen. Es wäre himmlisch, wenn wir solch ein Ungeheuer hier bewirten könnten.

Dr. Merseburg: Sie meinen: wir sollen uns von ihm verspeisen lassen?

Ludmilla: Glauben Sie wirklich, daß diese himmlischen Luftwesen Menschenfleisch verdauen könnten?

Dr. Merseburg: Nein- eigentlich nicht! Wir flögen ja dann in einem Kannibalen-Himmel herum.

Ludmilla: Ja – mir würde eine Sternschnuppe, die mich auffräße, nicht imponieren.

Carl Miesnick (von hinten rechts): Na- mir auch nicht, mein sehr gnädiges Fräulein.

Dr. Magdeburg (von hinten links): Warum nicht, Herr Jagdkollege? Meinen Sie, Fräulein Ludmilla Mandel schmeckt so schlecht?

Carl Miesnick: Wer wird so ungezogen sein und das behaupten?

Ludmilla: Malen wir den Teufel nicht an die Wand. Wer weiß, was uns noch alles bevorsteht.

Carl Miesnick: Mein gnädiges Fräulein, Sie waren im vorigen Jahre im Motorwagen des Herrn Schreibein, nicht wahr?

Ludmilla: Ja – ich habe mit Herrn Schreibein im vorigen Jahre den berühmten Schaukelstern entdeckt.

Dr. Magdeburg (hinten sitzend): Wollen Sie uns nicht erzählen, wie die Entdeckung vor sich ging?

Ludmilla: Gerne, aber werden wir auch nicht verabsäumen, eine Sternschnuppe zu fangen?

Carl Miesnick: Die Fangapparate funktionieren sämtlich automatisch. Wir fangen, auch wenn wir uns nicht weiter um die Apparate bekümmern.

Dr. Magdeburg: Aber merken werden wirs wohl, wenn wir was fangen.

Carl Miesnick: Na- ja! Doch- die Wände unsers Wagens sind ja aus Gummi.
Ludmilla: Meine Herren, hören Sie nur zu! Ich fuhr im vorigen Jahre mit Herrn Schreibein achtzig bis nunzig Meilen über der Erdoberfläche. Und wir studierten dort die elektrischen Wolken und sahen in ihnen prachtvolle bewegliche Farbenkomplexe, die sich kaleidoskopisch ineinander schoben und mächtig leuchteten und auch grelle bunte Blitze aussandten. Und bei solchem Farbenblitzen sah ich plötzlich unter uns einen kleinen Stern, der aus lauter dunkeln Balken gerüstartig zusammengesetzt war. Die Balken gingen so durcheinander, daß ich sofort an mehreren Stellen durch den ganzen Stern durchsehen konnte. Und überall sah ich an langen Stricken kleine Kerle hängen, die sich schaukelten.
Carl Miesnick: Haben Sie photographische Aufnahmen von dem Stern gemacht?
Ludmilla: Leider war dazu keine Zeit. Kaum hatte ich Herrn Schreibein auf den kleinen Schaukelstern aufmerksam gemacht – so kam von der nächsten elektrischen Wolke plötzlich eine Art Sturmwind- unser Motorwagen drehte sich mehrmals rasend rasch um sich selbst – wir flogen gegen die Gummiwände und verloren das Bewußtsein. Und als·wir wieder zu uns kamen, war vom Schaukelstern nicht mehr eine Spur zu sehen.
Dr. Magdeburg: Schreibein hat ja das, was Sie erzählen, auch in der Luft-Revue mitgeteilt.
Dr. Merseburg: Es ist ganz unglaublich, was man alles auf diesen Luftfahrten erleben kann. Ich habe schon vor drei Jahren, als ich allein in meinem Wagen saß, eine riesige Röhre gesehen, die wohl eine halbe Meile lang und nur in der Mitte etwas gebogen war. Diese Röhre schwebte ganz ruhig in der Atmosphäre, zeigte eine feuchte, glitzernde Oberfläche, und ich wollte auf der einen Seite in die Röhre hinein. Aber mein Motor versagte – das heißt: ich kam nicht weiter und sah nur das große Loch – und wollte photographieren. Und da verschwand plötzlich die Röhre.

Dr. Magdeburg: Ja, sind Sie nun auch ganz fest davon überzeugt, daß Sie nicht geträumt haben?

Dr. Merseburg: Davon bin ich überzeugt.

Carl Miesnick: Sie hätten sich mit einer Harpune in die Röhre festhaken müssen.

Dr. Merseburg: Haben wir denn eine Harpune?

Carl Miesnick: Wir haben eine. Ich werde mal gleich nachsehen, ob wir nichts fangen könnten. (Geht ab)

Ludmilla: Ich glaube, wir fangen was. (Es gibt einen Ruck, und die Drei fliegen umher – gegen die Wand und fallen wieder herunter – großes Geschrei)

Carl Miesnick: Meine Herrschaften, erheben Sie sich schnell­schnell. (Es geschieht allmählich) Wir haben eine Sternschnuppe entdeckt und gefangen. Es ist ein Ungeheuer. Es ist ein Ungeheuer. Ich bringe es gleich aus dem Fangapparat heraus und hierher.

Ludmilla: Das war ja ein ordentlicher Stoß. Das muß ja ein ungeheures Ungeheuer sein. (Es erscheint – krokodilsartig mit großem Ballonleib und riesigem Rachen, in den alle vier Menschen hinein können)

Ungeheuer: Sie haben mich gefangen?

Ludmilla: Sind Sie eine Sternschnuppe?

Ungeheuer: Wenn ich will, kann ichs sein – ich brauche dann nur meine Haut zum Phosphoreszieren zu bringen – dann erscheine ich den Erdbewohnern als Sternschnuppe.

Ludmilla: Daß Sie aber auch Deutsch sprechen können.

Ungeheuer: Das kommt von meinen vorzüglichen Ohren und von meinen großartigen Augen her – ich habe das menschliche Leben seit vielen Jahrtausenden angehört und angesehen.

Carl Miesnick: Dann müssen Sie ja weiser als alle Menschen sein. Wir bauen Ihnen einen Tempel.

Ludmilla: Wir beten Sie an.

Ungeheuer: Ich danke für das Vergnügen. Ich fliege lieber in der Luft herum.

Carl Miesnick: Ich bitte Sie – Sie sind die erste Sternschnuppe, die wir eingefangen haben. Und ich bin jetzt in Wahrheit der erste Sternschnuppenjäger des Erdballs.

Ungeheuer: Wenn Sie mich nicht gleich wieder herauslassen, freß ich Sie sämtlich auf.

Dr. Merseburg: Wir können doch nicht annehmen, daß ein so gebild.etes Ungeheuer, das sogar sprechen kann, sich ein kannibalisches Vergnügen leisten möchte.

Ungeheuer: Kannibalisch wäre ich doch nur, wenn ich Sternschnuppen fräße.

Dr. Magdeburg: Da hat der Herr Ungeheuer freilich recht.

Ungeheuer (reißt das Maul auf): Steigen Sie mal ein, meine Herrschaften. Nur zum Spaß! Ich tu Ihnen nichts. Nach Menschenfleisch hab ich niemals Sehnsucht gehabt. In der höhern Erdatmosphäre gibts was Besseres. Sie kennen ja noch gar nicht die höhere Erdatmosphäre. Da sind noch viele, viele Entdeckungen zu machen. Steigen Sie ein, meine Herrschaften.

Ludmilla: Ich wag es! (Steigt ein – die andern folgen zappelnd)

Ungeheuer: Wenn Sie mir jetzt nicht versprechen, daß Sie mich gleich wieder freilassen wollen, so verdau ich Sie! Die vier Menschen (durcheinander schreiend): Wir versprechen! Wir versprechen! Hilfe! Erbarmen!

Ungeheuer: Na, dann kommt ‚raus. (Alle vier Menschen zappelnd herauskommend)

Carl Miesnick: Das war das größte Abenteuer meines Lebens.

Ludmilla: Verehrtes Ungeheuer, kommen Sie doch auf die Erde herunter. Die Menschen würden sich so schrecklich über Sie freuen.

Ungeheuer: Belästigen würden mich die Leute. Lassen Sie mich ‚raus.

Carl Miesnick: Interessieren Sie sich gar nicht für die Menschen?

Ungeheuer: Ich habs verlernt.

Ludmilla: Wir könnens Ihnen ja nicht verdenken.

Dr. Merseburg (schluchzend): Leben Sie wohl. (Die andern sagen auch alle »Leben Sie wohl«, und dann geht das Ungeheuer hinten ab)

Carl Miesnick: Jetzt wollen wir schnell hinunter nach Sankt Petersburg fahren, damit die Menschheit von unsrer neusten Entdeckung erfährt.

Die drei Anderen: Das wollen wir! Das wollen wir!

Vorhang


scheerbart-theater   Index: Theater

alle Texte von Paul Scheerbart – ein fognin Projekt – bitte unterstützen:

Bitte helfe mit diese Seite zu erhalten: der digitale Bettler Creative Commons-Lizenzvertrag Dieses Werk von fognin ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht-kommerziell – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz.  Weitere Infos über diese Lizenz können Sie unter hier erhalten

Revision 31-12-2022

image_pdfimage_print