Mikosai

Paul Scheerbart

Münchhausen Geschichten


Mikosai

Eine Geschichte aus Grönland


Im März des Jahres 1908 saß der alte Baron Münchhausen in Grönland bei den Eskimos und erzählte ihnen eine lustige Geschichte. Neben dem Baron, der schon hundertvierundachtzig Jahre alt war, saß wie immer in den letzten Jahren die Gräfin Clarissa vom Rabenstein. Beide hatten dicke Pelze an. Die Tranlampe flackerte.

Der Häuptling der Eskimos hatte erklärt, daß er furchtbar gerne was Näheres vom Nordpol hören möchte.

»Mein lieber Freund«, sagte darauf der Baron freundlich, »auf dem Nordpol der Erde bin ich noch nicht gewesen. Aber ich habe einen Nordpol auf dem Kopfe gehabt.«

»Wie ist das möglich?« fragten alle Eskimos und auch die Eskimofrauen, während sich Alle neue Pfeifen stopften.

»Das war doch möglich«, fuhr nun Münchhausen fort, »allerdings —  so ganz einfach gings nicht. Es sind schon zwanzig Jahre her.1888 wars. Mir kam das Leben auf der Erde herzlich langweilig vor, und ich hätte viel dafür gegeben, wenn es mir möglich gewesen wäre, auf einem andern Sterne zu leben. Aber das ging nicht so ohne weiteres. Das wußte ich. Und ich klagte mein Leid einem alten Freunde. Mikosai hieß dieser Freund. Er lebte auf Neu— Guinea, und ich war bei ihm zu Besuch. Mikosai lachte, als er von meiner Weltmüdigkeit hörte.

›Wie‹, sagte er, ›Du willst auf einem andern Stern leben? Mehr willst Du nicht? Du bist bescheiden. Ich wollte mal mehr. Ich wollte mal selber ein kleiner Stern sein. Und ich kann Dir verraten, daß es mir schon gelungen ist, als kleiner Stern im Weltraume herumzusausen. Aber —  Du siehst mich hier wieder als Mensch. Ich gabs auf, als Stern zu leben; ich hielts einfach nicht aus. Willst Du vielleicht die Geschichte noch einmal probieren? Es wäre so übel nicht. Ich könnte Dir schon dazu verhelfen. Aber Du mußt Dich verpflichten, alles das zu tun, was ich Dir sagen werde. Mindestens gewöhnt man sich die Weltmüdigkeit ab —  oder vielmehr: die Erdmüdigkeit, denn die ganze Welt kann man doch nicht so leicht langweilig finden, dazu ist die ganze Welt doch zu groß.‹

Kurzum: ich erklärte mich einverstanden und bekam von Mikosai ein Schlafpulver und schlief ein. Und dann weckte mich dieser Zaubrer, und er rieb gleich meinen Leib mit vielen Ölsorten und vielen scharf riechenden Essenzen. Und dabei wurde mein Leib immer leichter. Und schließlich umhüllte mich dieser Zaubrer mit einem ganz leichten Tuchstoff. Und ich fühlte, daß dieser Tuchstoff sich ballonartig aufblies. Und dann gab mir Mikosai einen Klaps mit der rechten Hand oben auf meinen Kopf und sagte ganz freundlich:

›Lieber Münchhausen, wundre Dich nicht, daß Du jetzt nichts sehen kannst. Du bist jetzt ein kleiner Kugelstern, und dort, wo Du den Klaps meiner Hand gefühlt hast, da ist dein Nordpol. Nun werde ich Dich ins Weltall hinausbringen. Ich spritze Dich jetzt mit einem besondren Schlafmittel an; Du wirst wieder einschlafen und sehr lange schlafen. Und wenn Du erwachst, so bist Du weit fort von hier —  hinter unserm Mond. Den wirst Du allerdings gar nicht sehen. Dafür wirst Du viele andere Dinge wahrnehmen. Wenn Du wieder zurück willst, so denke an mich und sprich zehntausendmal hintereinander meinen Namen. Du brauchst nicht zu zählen. Es wird schon gehen. Vergiß meinen Namen nicht. Sonst kann ich Dir nicht helfen. Jetzt lebe wohl. Ich spritze jetzt mit dem Schlafmittel.‹

Ich gab mir Mühe, mir den Namen Mikosai zu merken, dachte noch an Mücken, Kosen und Eier und schlief dabei ein. Ich muß dann sehr lange geschlafen haben. Als ich erwachte, fühlte ich auf meinem Kopfe etwas Eiskaltes, sagte mir aber gleich:

›Ach so, lieber Münchhausen, da oben ist ja jetzt Dein Nordpol, darum ist es Dir oben auf dem Kopfe so kalt. Unter den Fußsohlen ist wahrscheinlich Dein Südpol, denn unter den Fußsohlen empfindest Du auch eine große Kälte.‹

Die Augen konnte ich aber noch nicht auftun; ich fühlte nur, daß ich mich mit ungeheurer Schnelligkeit weiter bewegte und mich dabei langsam um mich selber drehte. Sie werden sich, meine Damen und Herren, schwerlich eine Vorstellung von meinem damaligen Zustand machen können. Ich fühlte mich als Stern.«



Nach diesen Worten goß die Gräfin Clarissa ihrem Baron ein neues Glas Grog ein, und die Eskimos mit ihren Frauen sahen mit ihren großen Augen unverwandt den Baron an, und der fuhr nun fort in seiner Erzählung.

»Sie sehen also«, sagte er, »jetzt ein, daß ich einen Nordpol auf dem Kopfe gehabt habe. Ich aber konnte damals nicht die Augen öffnen, und das erschien mir sehr fatal, denn ich wollte doch wissen, in welcher Weltgegend ich mich befand. Es kam mir vor, als sauste ich immer schneller durch den großen Weltenraum. Ich befürchtete einen Zusammenstoß mit anderen Sternen. Und da entdeckte ich, daß es mir sehr wohl möglich sei, wahrzunehmen, was um mich her vorging. Ich sah nur nicht mit meinen menschlichen Augen; ich sah mit meinem ganzen kugelrunden Körper. Nur Nordpol und Südpol erschienen mir vorläufig noch ganz unempfindlich und ganz kalt. Ich wollte feststellen, ob ich meine Arme in Bewegung setzen konnte, doch Arme und Beine fühlte ich nicht mehr. Ich wußte einfach nicht, wo sie hingekommen sein könnten. Dafür konnte ich den Weltenraum mit ganz neuen Hautorganen durchblicken. Es war mir, als umgäbe mich eine große Atmosphäre auf allen Seiten, und mit dieser Atmosphäre konnte ich mehr wahrnehmen als mit Augen; ich konnte aber dieses Wahrnehmen nicht einfach Fühlen nennen. Dazu wars zu kompliziert. Und mehr als Sehen wars ganz bestimmt. Ich bemerkte in meiner Nähe viele andere solche Kugelsterne, wie ich einer war. Und die drehten sich auch ganz langsam um sich selbst. Viele flogen jedoch viel schneller dahin als ich. Und in der Ferne fühlte ich einen sehr großen Kugelstern. Der drehte sich rasend rasch um sich selbst, daß nur alles so schnurrte. Und während ich mich zu ihm hingezogen fühlte, bemerkte ich, daß mein ganzer Körper zu einem einzigen Auge wurde. Und da sah ich nun auch den großen Kugelstern. Und ich hielt ihn für den Jupiter. Was aber sah ich da alles! Das wurde immer mehr. Und gleichzeitig fühlte ich diesen Jupiter mit meiner ganzen Atmosphäre, obschon er viele tausend Meilen von mir entfernt durch den Raum dahinschnurrte. Ich sah auch bald seine Monde. Es waren aber über dreißig Monde. Und ich zweifelte, daß dieser Stern der Jupiter sein könnte. Nun drangen immer mehr Eindrücke auf mich ein. Ich sah immer mehr kleine Sterne in meiner Nähe —  und viele waren gar nicht kugelförmig —  viele waren sehr zackig, und einzelne hatten lange Gliedmaßen —  wie Tintenfische. Und dann wurde alles farbig —  aber es waren viel mehr Farben da, als wir auf der Erde kennen. Und dann empfand ich ein Prickeln und Stechen in meinem großen Körper— Auge. Und alle diese Empfindungen vermehrten sich immerfort, und sie wurden immer stärker. Ich sah große Kometen und riesige Nebelwolken, die sich in meinem Körper als etwas Feuchtes bemerkbar machten. Und die Kometen warfen feine Blitzstrahlen aus und trafen mein Körper— Auge, daß ich hätte aufschreien können. Ich konnte aber nicht aufschreien. Ich konnte nur immerzu denken. Plötzlich empfand ich eine riesige Helligkeit —  ich sah die große Sonne —  aber so, als wenn ich ganz in ihrer Nähe schwebte. Und da drang so furchtbar viel Neues auf mich ein, daß ichs nicht mehr aushalten konnte. Alles drehte sich in meinem Körper— Auge, und meine Atmosphäre wurde so empfindlich wie ein kranker Zahn —  und immer empfindlicher —  bis ich nur noch einen großen furchtbaren Schmerz empfand. Und ich wollte wieder schreien und konnte nicht. Und ich dachte plötzlich, ohne es so recht zu wollen, nur noch den Namen Mikosai —  und wiederholte den Namen Mikosai immerfort —  immerzu —  bis ich das Bewußtsein verlor.«

Der Baron trank abermals ein Glas Grog; Allen war jetzt die Pfeife ausgegangen.

Und die Gräfin Clarissa sagte:

»Nachher ist dann der Baron Münchhausen wieder in Neu— Guinea erwacht. Und dieser Zaubrer Mikosai hat herzlich gelacht, daß der Baron das neue Leben auch nicht aushalten konnte.«

»Wir sind eben«, sagte Münchhausen, »für ein Sternleben noch lange nicht reif.«

»So was aber«, rief nun der Häuptling der Eskimos, »möchte ich auch mal erleben. Und wenns mich das Leben kosten sollte! Ich glaube, ich halts aus.«

Und da behaupteten plötzlich alle andern Eskimos ebenfalls, daß sie es aushalten könnten.

Und die Eskimofrauen sagten ebenfalls:

»Wir haltens auch aus. Geben Sie uns die Adresse dieses Mikosai. Wir wollen ihm gleich einen Brief schreiben, daß wir hinkommen.«

»Er ist«, sagte Münchhausen, »vor fünf Jahren gestorben. Ich habe selber gesehen, wie er in die Grube gesenkt wurde.«

Da wurden Alle sehr traurig.

Und sie gingen hinaus in die Polarnacht hinein und sahen über ihren Köpfen die unzähligen Sterne funkeln.

Und im Norden zitterte ein Nordlicht mit vielen bläulichen Strahlenbüscheln, die sich emporreckten —  immer höher empor.

Und die Clarissa sagte zum Münchhausen:

»Diese Leute verstehen uns!«

Münchhausen nickte.


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