Die kosmischen Postillione

Paul Scheerbart

Münchhausen Geschichten


Die kosmischen Postillione

Eine Marionettentheater-Geschichte



Als der alte Baron Münchhausen im Februar des Jahres 1905 in Wien war, kam er auch eines Abends mit vielen Schauspielern und Schriftstellern zusammen. Und da sprach man mit besonderer Lebhaftigkeit von einem neuen Marionettentheater.

Münchhausen, der damals schon über hundertachtzig Jahre alt war, hörte anfänglich nur zu – er schien ein wenig ermüdet zu sein, was ja bei seinem Alter nicht verwunderlich erschien.

»Ein wirklich bedeutendes Marionettentheater«, sagte da plötzlich Hermann Bahr sehr laut, »kann natürlich nur in Wien entstehen.«

Der alte Baron erhob sich nach diesen Worten, räusperte sich vernehmlich – und es ward mäuschenstill im weiten Saal.

Alle blickten gespannt den alten Herrn an.

Und der sagte nun ruhig:

»Was Hermann Bahr soeben gesagt hat, ist nicht richtig: das bedeutendste Marionettentheater befindet sich auf Celebes, und dieses Theater dürfte nicht so bald übertrumpft werden.«

Es entstand ein kleiner Tumult.

Und der Baron wurde nun bestürmt, von diesem Theater auf Celebes zu erzählen.

Er sträubte sich anfänglich, aber schließlich erzählte er doch – wie nun folgt:

»Sie kennen wohl alle«, sagte er langsam, »die kleine Villenkolonie Wisacrêbo auf der Insel Celebes. Dort lebte ich vor anderthalb Jahren. Und auch die bekannte Frau Wanda Neumann lebte in dieser Kolonie. Und wie das so in den Tropen ist – man war immer sehr vergnügungssüchtig und kam oft auf merkwürdige Einfälle. Man vermißte besonders das Theater. Und da auf Celebes weder Schauspieler noch Schauspielerinnen lebten, so hatte Frau Neumann ein Marionettentheater gegründet. Wenn Sie aber glauben, daß dieses Theater mit den europäischen Marionettentheatern so ohne Umstände verglichen werden könnte, so irren Sie. Frau Neumann hatte etwas Großartiges gegründet. Entschuldigen Sie gütigst, daß ich so langweilig erzähle, aber ich bin wirklich etwas müde.«

Alle Anwesenden rückten nun sofort zusammen und baten den alten Herrn, nur ganz leise zu sprechen – da ja das laute Sprechen sehr anstrengend ist.

Und der alte Herr fuhr nun ganz leise fort:

»Es waren«, sagte er, »zweihundert Herren und fünfzig Damen im Zuschauerraum versammelt. Fast alle waren Deutsche. Und diejenigen, die nicht Deutsche waren, verstanden die deutsche Sprache, so wie wir sie verstehen. Wände und Decke des Zuschauerraums waren aus straffgespanntem Segeltuch hergestellt. Nach hinten zu wurde der Zuschauerraum niedriger. Und dann ging ein knisternder, rotseidener Vorhang auf, und wir sahen – den großen Sternhimmel mit dem Kreuz des Südens. Der Sternhimmel war kein gemalter. Wir sahen die Sterne des Himmels, die wir auch sonst allnächtlich auf der Veranda unsres Klubhauses sehen konnten. Natürlich starrten wir alle mit unsern Opernguckern sehr interessiert die funkelnden Sterne des weiten Weltenraumes an und suchten überall nach einer neuen Erscheinung. Lange hatten wir auch nicht zu warten; wir bemerkten bald östlich vom Kreuz des Südens einen kleinen Kometen, dessen Schweif immer länger wurde. Und dann flogen ein paar Sternschnuppen vorüber. Und danach fiel ganz langsam eine grüne Feuerkugel vom Himmel herunter und wurde so groß wie zehn Monde zusammen. Und plötzlich blieb die Kugel in der Luft stehen, und die Kugel bekam in der unteren Hälfte eine mundartige Öffnung. Und wir hörten, wie sie zu uns in deutscher Sprache mächtig laut sprach. Es war eine helle Stimme, die einer Frauenstimme ähnelte. Aber die Stimme klang ganz anders, als menschliche Stimmen klingen. Was die Stimme sagte, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls teilte sie uns in umständlicher Form die Ankunft verschiedener Kometen mit, die sie »kosmische Postillione« nannte. Die grüne Feuerkugel schwankte dann hin und her und wurde allmählich kleiner und schließlich so klein, daß sie im Himmelsraum bald nicht mehr gesehen werden konnte. Hiernach kam aber der Komet, den wir neben dem Kreuz des Südens gleich anfangs bemerkt hatten, immer näher, und sein Schweif entwickelte sich immer prächtiger, bekam viele Nebenäste und fein geschwungene Haarlinien. Und der Kern des Kometen wurde auch so groß wie zehn Monde und bekam tausend Augen und auch eine mundartige Öffnung im unteren Teile. Und dann hörten wir eine furchtbare Baßstimme – die dröhnte, daß die Decke und die Wände des Zuschauerraumes zitterten. Vom fernen Andromedanebel erzählte der Komet. Und dem ersten Kometen folgten noch mehrere andere Kometen – und die unterhielten sich nun vor uns vom fernen Andromedanebel. Und die Unterhaltung der furchtbar lauten Stimmen war sehr lustig. Von vielen neuen Sternen erzählten die Kometen. Und die Kometen wurden bald wieder größer und dann wieder kleiner, so daß ihre Stimmen öfters so klangen, als kämen sie aus weiter Ferne. Natürlich veränderte sich auch fortwährend die Gestalt der Kometen. Und während diese »Postillione« nun im Weltenraume herum sausten, kam auch der große Jupiter näher. Und da hätten Sie die Stimme des Jupiter hören sollen – das war so, daß uns die Ohren gellten – daß man’s gar nicht aushalten konnte. Und dabei zitterten die Segeltuchwände so heftig, daß ein starker Windzug entstand, der die heiße Tropennachtluft sehr angenehm kühlte. Das war ein ganz famoses Marionettentheater.«

Der alte Baron Münchhausen hielt erschöpft inne und zog sein blauseidenes Taschentuch vor und fächelte sich Luft zu.

»Mir ist bei der Erzählung so warm geworden«, sagte er jetzt ganz laut, »daß ich fast die Empfindung habe, als säße ich immer noch vor dem Tropenhimmel der Frau Neumann auf Celebes in der bekannten Villenkolonie Wisacrêbo.«

Nun sprachen alle Zuhörer lebhaft durcheinander und wollten vom alten Baron Näheres von diesem Theater wissen; man wollte hauptsächlich wissen, was die Kometen, die großen Postillione des Himmels, gesagt hatten.

Der alte Herr erklärte jedoch, daß er sich beim besten Willen nicht mehr ordentlich darauf besinnen könnte.

»Sehen Sie«, sagte er wieder ganz leise, »so ganz einfache Geschichten erzählten die kosmischen Postillione nicht. Sie kamen sämtlich vom Andromedanebel her, und sie sprachen, soviel ich mich erinnern kann, nur vom Andromedanebel. Dort sollten, wie sie berichteten, in einer einzigen Äonennacht nicht weniger als 60 Trillionen neuer kristallförmiger Sterne entstanden sein. Die neuen Sterne, sagten die Kometen, sähen so wie riesige Diamanten aus und bewegten sich so wie Schneeflocken, durch die ein paar Wirbelwinde von verschiedenen Seiten durchfahren. Diese Nachrichten vom Andromedanebel brachten sie zunächst dem Jupiter, der natürlich gleich erklärte, daß er ja längst von der Existenz der neuen Sterne durch seine besonderen Wolkenorgane erfahren habe. Aber danach wollte er nun von den Kometen mehr über die Diamantsterne hören. Und davon erzählten die Kometen mit ihren ungeheuren Stimmen sehr viel. Die Damen und Herren auf Celebes tragen alle sehr viele Diamanten, und daher war ihnen die Entstehung der Diamantsterne sehr interessant. Nun fragen Sie mich aber zuviel, wenn Sie von mir mehr über die rätselhafte Geburt der 60 Trillionen Diamantsterne wissen wollen.«

Der Baron schwieg wieder und fächelte sich wieder mit seinem blauseidenen Taschentuche Luft zu.

Hierauf wollten nun alle Näheres über die technischen Einrichtungen des tropischen Marionettentheaters hören. Der alte Baron ließ sich aber sehr lange bitten und schützte immer wieder Müdigkeit vor.

Schließlich sagte er ganz leise:

»Die Heranführung der Kometen ist ja natürlich auf einem freien Gartenterrain in dunkler Nacht, wenn der Mond nicht scheint, nicht so schwierig. Die Täuschung der Zuschauer war jedenfalls eine vollendete. Und ich möchte auch glauben, daß jeder Pyrotechniker ein derartiges Kometenschauspiel arrangieren könnte. Das ist doch nicht so was Ungeheures. Man könnte sich beinahe wundern, daß so was in Europa noch niemals versucht ist. Aber wir wissen ja alle, wie weit Europa in künstlerischen und technischen Dingen zurück ist. Und dann: daß sich die Stimmen der Menschen durch Schallröhren und andere Instrumente ganz gewaltig verstärken lassen, das wissen wir doch zur Genüge. Und so dürfte ja wohl ein Optimist behaupten, daß demnächst in Wien ein kosmisches Marionettentheater entstehen könnte, das weit bedeutender ist, als das der Frau Neumann auf Celebes. Indessen – mich werden Sie nicht so leicht dazu verführen, an die Unternehmungslust europäischer Theaterdirektoren zu glauben. Es müssen doch auch erst die größeren Stücke für das kosmische Marionettentheater geschrieben werden.«

Nach diesen Worten entstand abermals ein kleiner Tumult; alle anwesenden Schriftsteller erklärten lachend, daß nichts so einfach sei – wie das Schreiben von derartigen Stücken.

Der Baron schüttelte jedoch wehmütig den Kopf und sagte dann noch leise: »Das Beste wäre wohl, Sie veranlaßten die Frau Neumann, nach Wien zu kommen; die könnte Ihnen wohl ein Marionettentheater so einrichten, wie Sie’s haben wollen.«

Mit diesen Worten verließ der Baron sehr schnell die Gesellschaft.

Als der Baron fort war, fragte Hermann Bahr einige Schauspieler:

»Kennen Sie vielleicht die Frau Wanda Neumann?«

Aber Niemand kannte die Dame.

Man beschloß, den alten Baron am nächsten Tage nochmals zu befragen.

Indessen – der alte Baron war am nächsten Morgen schon abgereist.


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