Die drei Baumstaaten

Paul Scheerbart

Münchhausen Geschichten


Die drei Baumstaaten

Eine Staatsgeschichte

ngg_shortcode_0_placeholder
Als der alte Baron Münchhausen im März des Jahres 1905 in Constantinopel lebte, veranstaltete eine alte Dame, um den alten Herrn ganz besonders zu ehren, ein Gartenfest, zu dem nur Damen und Herren geladen wurden, die das sechzigste Lebensjahr bereits überschritten hatten.

Nun befand sich aber, wie ja schon längst überall bekannt ist, die achtzehnjährige Gräfin Clarissa vom Rabenstein als unzertrennliche Begleiterin des hundertundachtzigjährigen Barons ebenfalls in Constantinopel.

Der Baron wollte daher dieses Gartenfest der alten Leute anfänglich gar nicht besuchen, um seiner verehrten Clarissa keinen Ärger zu bereiten. Als diese jedoch von der Einladung erfuhr, erklärte sie ihrem Baron, daß sie sich als alte Dame aufputzen würde.

Da nahm denn der Baron die Einladung an, und die Clarissa begleitete ihn.

Der Garten, in dem alle die alten Leute zusammenkamen, lag am Meere, und auf dem Meere wurde natürlich sofort ein Feuerwerk abgebrannt, als der alte Münchhausen erschien.

Nach dem Feuerwerk wurde der ganze Garten elektrisch erleuchtet; sämtliche Lichter befanden sich unter farbigen Gläsern, die auch auf dem Erdboden dicht neben den Fliesenwegen angebracht waren.

Durch einen sinnreichen Mechanismus ließen sich alle farbigen Gläser mit einem Ruck verschieben, so daß andere Farbenteile der Gläser sich über das elektrische Licht legten. So kams, daß alle fünf Minuten der Garten ganz anders erleuchtet wurde als bisher. Die elektrischen Lichter saßen in ungeheurer Zahl auf allen Bäumen, auf allen Kiosken und Zelten und auch auf den Teichen, auf denen große weiße Schwäne herumruderten; sämtliche Schwäne trugen elektrische Flammen am Halse – so, als wärens Brillanten.

Der Garten wurde im Volksmunde der Seegarten genannt. Und in der Ferne sah man, wie die Haremsdamen des Sultans die Lichtwunder des Seegartens mit Opernguckern bewunderten.

Der Baron fand natürlich alles entzückend und superb, die Gräfin Clarissa fiel beinahe aus ihrer Großtantenrolle; das ward aber glücklicherweise von der Gesellschaft nicht gesehen.

Nach dem Abendbrot, das des Kontrastes wegen nur aus türkischem Lagerbier mit belegten Stullen bestand, sollte der alte Baron selbstverständlich was erzählen; man bat ihn aber um eine ganz ernsthafte Geschichte für alte Leute.

Münchhausen ließ sich nicht lange nötigen, steckte sich einen türkischen Tschibuk an und erzählte – umgeben von Millionen Lichtwundern, die sich immer schneller veränderten und verschönerten – eine Staatsgeschichte.

»Sie wissen ja Alle«, begann er leutselig, »daß hinterm Neptun noch mehrere andre Planeten zu finden sind, die auch unsre große Sonne bewundrungsvoll umkreisen. Dort also – über achthundert Millionen Meilen hinter dem Neptun – fand ich einen seltsamen Planeten, dessen Körper aus drei kolossalen Bäumen bestand; das Wurzelwerk hatte sich dermaßen um einander geknotet, daß die drei Bäume unzertrennlich zusammengewachsen waren. Unter diesen Bäumen dürfen Sie sich aber nicht Bäume denken, die denen ähnlich sehen, die wir hier im Garten bewundern können. Die drei Bäume auf jenem fernen Planeten bestehen aus steinharten Stämmen und Ästen. Und diese Stämme und Äste haben an vielen Stellen einen Umfang von vielen Meilen. Und das, was unsern Erdbaumblättern, Erdbaumblüten und Erdbaumfrüchten entsprechen könnte, ist nun so ganz anders, daß die Beschreibung dieses Anderen zweifellos hier zu weit führen würde. Sie müssen sich schon damit begnügen, wenn ich Ihnen erkläre, daß die drei Bäume von oben bis unten bewohnt sind – und zwar von Lebewesen, die einen ziemlich langen, schlangenartigen Körper besitzen und viele Arme mit sehr geschickten Fingern. Wenn Sie, meine Herrschaften, hier in diesem Garten diese Erdbäume betrachten, die mit so vielen elektrischen Lichtern geschmückt sind, so können Sie sich leicht auch eine Vorstellung von den Baumbewohnern jenes fernen Planeten bilden, denn diese Baumbewohner mit ihren Schlangenleibern sind auch elektrischen Flammen gleich, da die ganzen Baumbewohner elektrisch leuchten – und zwar in allen Körperteilen. Nur wenn diese Baumbewohner schlafen, vergeht auch das Licht, das sie ausströmen. Weitere Schilderungen dieser seltsamen Lichtwesenwelt führen aber, wie gesagt, zu weit ab von dem, was ich ganz besonders schildern wollte. Jeder der drei Planetenbäume unterscheidet sich von dem andern so gewaltig, daß man die drei, obschon sie zusammengewachsen sind im Mittelpunkte des Sterns, nicht mit einander verwechseln kann. Nun kommt noch Folgendes hinzu: Die Lebewesen, die auf den drei Bäumen wohnen, unterscheiden sich ebenso von einander, wie die Bäume, auf denen sie leben. Wir haben somit drei Rassen auf jenem fernen Planeten. Und diese Rassen sind allmählich zu drei großen Baumstaaten geworden.«

Hier wurde der Baron durch das Geschrei der Dienerschaft unterbrochen. Alle Gäste blickten zum großen Teich und sahen dort ein gräßliches Schauspiel: Die Schwäne hatten, durch ihren elektrischen Halsschmuck verführt, einander gebissen – und plötzlich gingen immer zwei und zwei Schwäne wütend auf einander los; sie umschlangen sich mit ihren starken Hälsen – so daß sich Hals um Hals wand. Und dabei zerbrachen natürlich die elektrischen Blüten und verwundeten die Hälse der Tiere dermaßen, daß alle Schwäne in ein paar Minuten sich gegenseitig getötet hatten. Als die Diener schreiend auf den Kähnen herbeieilten, waren die großen Tiere bereits verendet. Das furchtbare Schauspiel hatte nur ein paar Minuten gedauert.

Das war nun ein rechter Mißton.

Die Diener weinten und schleppten die toten Tiere, an denen einzelne elektrische Lichter noch hell leuchteten, ans Ufer. Viele Damen fielen in Ohnmacht.

Und der Baron wurde sehr mißgestimmt.

Der große Teich war bald ganz dunkel.

Und viele Gäste wollten gleich nach Hause fahren. Man schützte Nervenerschütterung vor.

Da jedoch erst die Damen, die in Ohnmacht gefallen waren, wieder zum Bewußtsein gebracht werden mußten, so konnte Niemand so schnell fort.

Nun aber stieg der Baron Münchhausen, während er die Hand der Gräfin Clarissa als Stütze benutzte, auf einen Stuhl und schrie mit gewaltiger Stimme – er hat bekanntlich eine sehr tiefe Baßstimme – so laut in den Garten hinein, daß alle Damen mit einem Ruck aus ihrer Ohnmacht erwachten.

Als nun alle wach waren, sagte der Baron:


ngg_shortcode_1_placeholder
»Meine Damen und Herren, das Unglück mit den Schwänen ist natürlich sehr beklagenswert. Daß Sie aber deshalb gleich nach Hause gehen wollen, finde ich unerhört. Wollen Sie denn nicht meine Geschichte zu Ende hören? Glauben Sie, ich sei nur hierher gekommen, um eine halbe Geschichte zu erzählen? Glauben Sie, daß Schwäne, wenn sie sich selber umbringen, dadurch auch meine Geschichte von den drei Baumstaaten umbringen können? Ich glaube: Sie werden das nicht glauben. Und darum bitte ich Sie, wieder Platz zu nehmen und den zweiten Teil meiner Staatsgeschichte anzuhören – sonst beleidigen Sie mich, und ich erzähle Ihnen nie wieder eine Geschichte.«

Nach diesen Worten reichten die Diener Wein herum, die Damen trockneten sich ihre Tränen von ihren Wangen ab, und der Baron fuhr fort:

»Auf jenem fernen Planeten waren die drei Baumstaaten auch drei Dinge, die vor einander scheuten und sich gegenseitig an den Hals fuhren, wie es unsre schönen Schwäne auf dem großen Teich soeben getan haben. Aber die drei Baumstaaten bekämpften sich in einer viel böseren tückischeren Art: sie machten große mit Sprengstoff gefüllte Blasen, setzten auf diese Blasen besonders gebildete Mannschaften rauf, schossen diese Blasen in die Atmosphäre des Sterns hinein und überließen es nun den besonders gebildeten Mannschaften, die Blasen so zu lenken, daß diese grade dann platzten, wenn feindliche, ähnlich konstruierte Blasen vom nachbarlichen Baumstaate auch in die Atmosphäre hineingeschossen wurden. Kurzum: Die Blasen mit dem Sprengstoff sollten einander bekämpfen, wie sich auf dem Erdrindenwasser die Kriegsschiffe bekämpfen.«

Der Baron ließ sich einen Krug Münchner Bier geben, trank ihn aus und sagte dann lachend:

»Jetzt wollen Sie wohl wissen, was jetzt folgt. Ja, das kann ich mir denken. Na – die Blasen mit dem Sprengstoff platzten anfänglich ganz nach Vorschrift, machten, daß die Blasen der Gegner auch platzten – und daß die besonders gebildeten Mannschaften, die die Blasen lenkten, auf beiden Seiten in der Luft verpufften. Die nun folgenden Lenker sahen, daß weder Feind noch Freund übrig blieb, und sie beschlossen daher, so vorsichtig in der Atmosphäre herumzurudern, daß ein Platzen nicht möglich würde. Und da sah man denn bald die ganze Atmosphäre mit Blasen angefüllt, in denen sich Sprengstoffe befanden, die nicht mehr explodierten.«

Der Baron schwieg und sah sich still um.

Die alten Herren dachten nach.

Die alten Damen putzten ihre Lorgnetten.

Die bunten Lichter des Gartens flammten mit einem Ruck wieder in neuen Farben auf. Und im Hintergrunde wurden die toten Schwäne von den wehklagenden Dienern begraben. Der Baron hörte das Schluchzen der Diener, und die Gäste hörten das Schluchzen ebenfalls.

Da fragte eine alte Dame leise:

»Wie gehts nun weiter?«

Da lachte der Baron und sagte:

»Aber meine Gnädigste, als die Lenker der Sprengstoffblasen das Explodieren ihrer Fahrzeuge verhinderten, lernten die Vertreter der drei Baumstaaten sich allmählich in ihrer Atmosphäre näher kennen – und dann schloß man Frieden – während die Blasen als kleine Monde den Stern mit den drei Baumstaaten immerzu in feinen Kurven umkreisten. Und so wird auch das Kriegführen der Menschenrassen dazu führen, daß sich alle Menschenrassen schließlich brüderlich um den Hals fallen – aber nicht so wie die verrückten Schwäne, die jetzt im Hintergrunde begraben werden.«

Nach diesen Worten sprang der Baron vom Stuhle runter, faßte den rechten Arm der Gräfin Clarissa und ging im Sturmschritt zum Garten hinaus.

Die Gäste waren durch diesen raschen Abgang dermaßen verblüfft, daß sie erst zur Besinnung kamen, als der Baron schon weit fort war.

Die alten Herren aber schüttelten zu dieser Staatsgeschichte sehr lebhaft mit den alten Köpfen.

Und in der Ferne bewunderten noch immer die Haremsdamen des Sultans die Lichtwunder des Seegartens mit Opernguckern.


ps_091     Index: Münchhausen     Der Humor als Lebenselixier 

alle Texte von Paul Scheerbart – ein fognin Projekt – bitte unterstützen:

Bitte helfe mit diese Seite zu erhalten: der digitale Bettler Creative Commons-Lizenzvertrag Diese Seite von fognin ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht-kommerziell – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz.  Weitere Infos über diese Lizenz können Sie unter hier erhalten

Revision 03-01-2023