Der Baron und die Religion

Paul Scheerbart

 Münchhausen Geschichten


Der Baron und die Religion

 
Der alte Baron wurde nun sehr bald in Amerika die Größe des Tages; seine Signalsprache und seine Signalstationen beschäftigten alle Welt. Und bald kannte jedermann die Farben- und Lichtsignale und konnte sie jederzeit entziffern – am Tage und in der Nacht.

Die Zeitungen erhielten unzählige Abbestellungen und selbst die größeren Tageszeitungen mußten sehr bald ihren Betrieb verkleinern.

Dadurch wurde nun auch die Glasarchitektur ein allgemeines Tagesthema; die Signalstationen wirkten wie Brillanten – stachen Allen in die Augen und erregten einen allgemeinen Licht- und Farbenbrand, sodaß sehr viele Leute in Glasvillen leben wollten und beim Baron immer mehr Bestellungen einliefen.

Die Lebensinteressen veränderten sich dadurch ganz erheblich; man wollte nicht mehr in Backsteinhäusern leben; die größeren Backstein-Hotels und -Restaurants verloren ihre Anziehungskraft.

Da wars nur ganz natürlich, daß auch die vielen religiösen Sekten auf den alten Baron aufmerksam wurden.

Und bald kamen Vertreter vieler Religionen zum alten Baron in die Glasfabrik hinter Milwaukee. Neben der Fabrik entstand sehr bald eine große Kolonie von Glasvillen und Glaspalästen.

In einem der größten Glaspaläste wohnte jetzt der Baron mit der Gräfin Clarissa wie ein Nabob und empfing täglich Besucher aus allen Gegenden der Welt; es ging sehr lebhaft bei ihm zu.

Merkwürdiger Weise drehte sich bald alles in diesem großen Glaspalaste des Barons um die Religion.

Die religiösen Fanatiker wollten einen Zusammenhang zwischen Religion und Glas entdecken, schrieben diesem magische übernatürliche Wirkungen zu und setzten den Baron nicht selten mit ihren merkwürdigen Fragen in Verlegenheit.

Der Baron nannte seine Kolonie nur das »Provisorium«. Dadurch erzielte er aber, daß jetzt sehr viele Leute von ihm noch mehr und ganz übernatürliche Dinge verlangten. Man brachte Kranke zu dem alten Herrn; er sollte alle möglichen Gebrechen heilen; er sollte Wundarzt und Nervenarzt spielen; er geriet schließlich in eine kleine Verzweiflung.

Dazu kam noch, daß sein hohes Alter immer mehr den Leuten zum Bewußtsein kam. Viele hielten den alten Herrn für eine übernatürliche Erscheinung. Und auch die Geldleute, die hinter der Glasfabrik standen, waren sehr geneigt, in ihrem Münchhausen übernatürliche göttliche Kräfte zu entdecken.

Münchhausen empfing zudem in einem Glassaale, der größer war als der Dom zu Köln. Und da in diesem Riesensaal alle Wände und die Decken nur aus Stahl und Glas bestanden, so wirkte das Ganze sehr bald so religiös, daß ein lautes Wort Niemand mehr zu sprechen wagte. Riesig imposant wirkten die großen Säulen, deren Glasumkleidung natürlich in der Farbe zu den Farben der Wände kontrastierte.

Der Boden des Saales war hügelig und mit vielen Pflanzen bedeckt. Man stieg auf Marmorstufen hinauf und konnte auf Terrassen sitzen – in der Tiefe gab es auch kleine Teiche mit Schwänen. Die großen Palmenhäuser der botanischen Gärten hätten hier im Arrangement viel lernen können.

Zunächst empfing der Baron familiär wie ein alter Hausvater.

Als aber die Audienzen immer feierlicher wurden, ging das nicht mehr an; man konnte auch nicht täglich ein paar hundert Gäste freundlich bewirten; das nahm doch zu viel Zeit in Anspruch und ermüdete auch den alten Herrn.

Somit gabs bald nur noch feierliche Empfänge, wie sie bei den großen Potentaten großer Staaten üblich sind.

Allerdings: im sogenannten »Provisorium« wurde ganz anders verhandelt als bei den Staatsaktionen der Potentaten; bei diesen handelte es sich doch immer nur um geschäftliche, familiäre oder rein formelle Angelegenheiten – das fiel natürlich im »Provisorium« einfach fort. Und da man hier nur möglichst bedeutsam Angelegenheiten abhandeln wollte, so bekam Alles ganz naturgemäß sehr bald einen rein religiösen Anstrich.

»Jetzt könnte ich auch eine neue Religion gründen!« sagte der alte Herr zur Gräfin Clarissa.

Diese schüttelte dazu mit dem Kopfe, aber sie wohnte allen Andienzen bei und interessierte sich sehr lebhaft für die dabei stattfindenden Debatten.

Es würde nun natürlich zu weit führen, wenn wir hier ein großes Gesamtbild aller dieser höchst merkwürdigen Verhandlungen geben wollten.

Nur ein paar kleine Scenen mögen im Folgenden diese Provisoriums-Audienzen ein wenig illustrieren:

Eine theistische Gemeinde ließ sich eines Tages melden; es kamen über hundert Personen, zumeist Männer in den besten Jahren; sie erzählten mit großem Eifer, daß sie den Glauben an einen Gott wieder zu Ehren bringen wollten.

Der Baron ließ die Herren ausreden.

Danach aber sprach er das Folgende:

»Sie tun so, als wenn Sie das große Licht entdeckt hätten, indem Sie sagen, daß Sie nur an einen Gott glauben wollen. Und Sie kommen sich wahrscheinlich sehr aufgeklärt vor. Nun bitte ich Sie, mir eine Frage zu beantworten: Können Sie den großen Weltenraum, in dem wir leben und sterben, begreifen? Er ist nach allen Richtungen unendlich. Können Sie diese Unendlichkeit nach unendlich vielen Seiten begreifen? Oder – können Sie sich wenigstens eine Vorstellung von diesem unendlichen Raume machen?«

Die Herren Theisten wußten nicht recht, was sie darauf erwidern sollten; schließlich meinte der Älteste von ihnen:

»Davon können wir uns doch wohl keine Vorstellung bilden; das soll uns wohl ewig unverständlich bleiben.«

»Ja«, erwiderte der Baron, »wenn Ihr das aber nicht einmal könnt, so weiß ich nicht, warum Ihr nicht auch die Frage, ob es einen Gott oder mehrere gibt, für ewig unbeantwortbar haltet. Warum sagt Ihr nicht, auch dieses würde Euch wohl ewig unverständlich bleiben? Man zerbricht sich doch nicht den Kopf über unfaßbare Dinge. Wenn ich den unendlichen Weltraum nicht begreifen kann, so ist mir doch ein Wesen, das diesen ganzen unendlichen Weltraum erfüllt, erst recht total unverständlich.«

Acht Tage nach dieser Unterhaltung erhielt der Baron ein langes Telegramm von dieser Theisten-Sekte, in dem mitgeteilt wurde, daß sich die ganze Sekte einstimmig aufgelöst habe.

Das freute besonders die Clarissa in außerordentlicher Weise.

Dann kamen auch mal ein Dutzend Irokesenhäuptlinge und wollten von dem großen Baron wissen, ob der »große Geist« ein guter Geist sei.

Als das der Baron bejahte, schüttelten die braven Häuptlinge das federgeschmückte Haupt und sagten:

»Das können wir nicht mehr glauben, da es so viel Ungeziefer gibt.«

Hierauf der Baron:

»Also Ihr wißt nicht, warum Euch das Ungeziefer so plagt? Das wißt Ihr nicht?«

Die Antwort lautete:

»Nein!«


 
»Nun«, fuhr der Baron lächelnd fort, »die Geschichte ist doch sehr klar. Damit will der große Geist zu Euch sagen: wohnt endlich mal in Glasvillen, da gibts kein Ungeziefer mehr, da dieses im Stein und Glase keine Schlupfwinkel findet; es ist auch leicht mit dem Vacuumsauger zu entfernen.«

Da machten die Häuptlinge große Augen.

Und sie bestellten gleich in der Fabrik ein paar Glasvillen.

Und der Baron sprach nachher zu Clarissa:

»Man kann doch überall feine Zusammenhänge entdecken, die auf das Wirken von guten Geistern hindeuten. Jede Unbequemlichkeit ist ein Druckmittel, das Energie erzeugt. Und jeder Schmerz will dasselbe. Perpetuirlich in Luft leben, führt zu garnichts, ist tierisch und erschlafft, macht auch dumm. Wer überflüssiges Geld hat, gehört selten zu den Klugen. Es gibt wohl eine höhere Gerechtigkeit.«

Die Clarissa erwiderte:

»Das Provisorium wird aber allmählich zum Orakel. Wer weiß, wonach Du morgen gefragt werden wirst. Ich hätte Lust, wie die Pythia zu Delphi aufzutreten. Da rede ich dann nur, was Münch mir souffliert.«

Sie lachten.

Aber am nächsten Tage kamen viele Leute, die alle wissen wollten, ob sie nicht recht daran täten, aus der christlichen Kirche auszutreten; sie wandten sich dabei sehr heftig gegen die nach ihrer Meinung unverständliche Dreieinigkeit.

Der Baron sprach, und es klang feierlich in dem weiten Hallenraum:

»In religiösen Dingen soll man doch sehr vorsichtig mit der sogenannten Aufklärungsarbeit vorgehen. Man verdammt sehr oft Dinge, die man garnicht verstanden hat. Man denkt, daß Idioten sich das große Wort in der Weltgeschichte eroberten. Das ist nie der Fall gewesen; wohl aber sind die Worte der Weisen oft von Idioten so verstümmelt, daß man allerdings aus den Verstümmelungen garnicht mehr klug werden kann. An diesen ist oft aber blos die Unwissenheit der Verbreiter einer Lehre schuld. Ich glaube, daß im Ursprünglichen immer etwas enthalten ist, das man wohl als Erkenntnis bezeichnen kann; nur die Erklärer machen nachher sehr oft eine ganz verworrene Geschichte daraus. Hauptsache ist, daß wir selber nicht verworren werden. Ich weiß wohl, daß mans werden kann, wenn man zu viel auf einmal sich klar machen will. Dann wird man anfänglich so klar, daß man sich simpel vorkommt – und nachher, wenn man zuviel beantworten muß, so kann man oft, wenn man nicht ehrlich gegen sich ist, zum Phrasendrechsler werden, der immer wie ein Seiltänzer aussieht, der bald vom Tau fallen muß.«

»Zur Sache!« rief da die Gräfin Clarissa.

Der Baron aber fuhr fort:

»Das wollte ich mir schon selber zurufen. Die Dreieinigkeit ist eine Sache, die über 5000 Jahre alt ist. Die babylonischen Priester sahen immerzu zum Himmel empor, was sehr löblich ist. Sie hatten noch keine Fernrohre und Teleskope, dachten ganz einfach, sahen die Sterne nur als Punkte – drei Sterne aber waren kleine Scheiben: Sonne, Mond und Venus. Diese Drei wurden bald zu einer Dreieinigkeit. Die babylonischen Priester sahen, daß sich alle Fixsterne um die Erde drehten, sie erfanden darum die 12 Tierkreisbilder, in denen sich die fünf Planeten, Sonne und Mond bewegten. Nun entdeckten sie, daß sich immer drei Punkte, wenn sie nicht in einer Graden liegen, durch eine Kreislinie verbunden werden konnten. Dadurch wurde die Dreieinigkeit weiter ausgebildet. Aus dieser, nur auf Sternbetrachtung gegründeten Spekulation, entstand dann alles Dreieinige. Dieses hat also ein großes Alter und ist ehrwürdig – nicht nur des Alters wegen – sondern weil es auf der Sternbetrachtung beruht, aus ihr hervorgeht. Was aus dieser hervorgeht, ist gewissermaßen immer gut. Darum seien Sie vorsichtig bei Ihrer Aufklärungsarbeit. Bedenken Sie, daß wir heute mit allen unsern Teleskopen nicht viel mehr von der Sternenwelt begreifen, als die alten Priester in Babylon. Und darum seien Sie jeder Religion gegenüber freundlich; ein guter Kern steckt in allen Religionen.«

Darüber sprachen sie noch sehr viel.

Am nächsten Abend sagte die Clarissa, als sie an dem großen Teich ihres Saales vorübergingen – als da der Teich von den farbigen Lichtern der Säulen und Wände und Decken ganz bunt wurde – auch die weißen Schwäne wurden ganz bunt:

»Münch! Derartige Erörterungen wie die gestrige wollen wir jetzt nicht mehr ohne erhöhte Feierlichkeit zum Besten geben. Ich möchte Pythia spielen und dann orakeln. Du mußt soufflieren. Aber wir müssen uns zunächst die Fragen selber stellen, damit wir den Leuten auch etwas Handgreifliches und nicht nur Spekulatives bieten können.«

Der Baron war einverstanden.

»Wie«, fragte die Clarissa, »willst Du die erste Frage formuliert haben?«

»Sehr einfach«, sagte der alte Herr, »frage mich nach dem guten Kern, der in allen Mysterien des Altertums steckt. Dann werde ich Dir eine Antwort aufschreiben, die Du dann in bengalischer Beleuchtung ablesen kannst.«

»Bengalische Beleuchtung?«

Also die Gräfin.

»Freilich!« erwiderte der alte Herr, »Dein Gesicht wird durch grünen Scheinwerfer unheimlich gemacht. Ringsum dunkelviolette Finsternis. Das wollen wir wirkungsvoll herausbringen.«

Und der Text, den die Gräfin grün beleuchtet vorzulesen hatte, lautete:

»Die unverstandenen Mysterien, besonders die eleusinischen Mysterien im alten Hellas, wirkten vornehmlich durch ein großes Licht, das den ganzen Raum erfüllte. Und der Myste empfand die Wirkung dieses Lichtes so ungeheuerlich überwältigend, daß er auf die Kniee sank; wenn er auch anfänglich dem Zauber der Mysterien skeptisch gegenübergestanden hatte. Dieses große Licht ist der gute Kern der Mysterien. Ihn sollen wir auch heute noch fest halten und in unsern Glaspalästen wieder zur Wirkung bringen. Das große Licht macht den Menschen gut. Durch das große Licht werden große Gedanken im Menschen lebendig. Das große Licht beim Fronleichnamsfeste der katholischen Kirche stammt auch aus der Schatzkammer der alten Mysterien. Und der Weihnachtsbaum der gesammten Christenheit stammt ebenfalls daher. Darum baut Glaspaläste – damit Ihr das, was früher nur auf großen Festen geboten wurde, auch öfters zu Hause haben könnt. Die Glasarchitektur ist ein Kind der alten Mysterien. Nicht mit Unrecht hat man im farbigen Glase einen geheimnisvollen mystischen Zauber vermutet. Schon die alten Kirchen des europäischen Mittelalters zeigten sehr viele Glasfenster. Die wollen wir wieder haben, damit unser ganzes Leben kathedralenhaft wird. Heute können wir durch den Eisenbau noch größere Glaswirkungen hervorbringen – als im europäischen Mittelalter. Das große Licht soll der Erlöser der Menschheit sein.«

Das brachte nun die Clarissa vor großem Publikum machtvoll heraus.

Der Baron freute sich sehr.

Und die Zuhörer gingen gleich nachher in Scharen zur Fabrik und bestellten Glasvillen und Glaspaläste.

Das Provisorium aber wurde täglich größer.

Die Fabrikherren waren außer sich vor Seligkeit.

Einen solchen Baron hielten sie für unbezahlbar – und sie gewährten ihm einen unbeschränkten Kredit.

Sämmtliche religiösen Sekten in Amerika bestellten große Glas-Kathedralen.

Und so ward die Glasarchitektur durch die Verbindung mit der Religion immer größer.

Die Worte der Clarissa über Mysterien wurden auch von allen Scheinwerfern der Signalstationen feierlich in Licht- und Farbensprache durch die Lande getragen.


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