Der gute König

Paul Scheerbart

Meine Tinte ist meine Tinte


Der gute König

Eine Klostergeschichte

aus: Meine Tinte ist meine Tinte! 

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In dem sattsam bekannten Heibranenlande, das südöstlich von Europa zu finden ist, lebte vor vielen Jahren ein alter lustiger König, der sich Iwan nannte. Er hatte sich in seiner Jugend diesen Namen gegeben, um seinem Volke mehr zu imponieren; er dachte dabei an Iwan den Schrecklichen und glaubte, man würde ihn auch des Namens wegen für einen schrecklichen König halten. Doch daraus wurde nichts, denn der Iwan war gut und blieb gut. Und das gefiel auch den Heibranen, die er beherrschte, so gut, daß dem guten König kein Mensch seines Namens wegen böse war.

Unter Iwans Regierung nahm der Wohlstand tüchtig zu; die Zahl der dicken Untertanen wurde täglich größer. Handel und Industrie blühten wie im Treibhause. Die Staatseinnahmen schwollen mächtig an. Und die Üppigkeit wucherte im Öffentlichen wie im Geheimen.
Iwan sagte öfters zu seinen Räten: »Jetzt muß doch eigentlich mein ganzes Volk sehr vergnügt und glücklich sein. Jetzt muß es doch.«
Nach diesen und ähnlichen Worten nahm der Herrscher gewöhnlich eine große Prise aus seiner mit vielen Diamanten besetzten goldenen Schnupftabaksdose.

Und wenn der König dann öfters niesen mußte, so sagte er zu seiner Umgebung mit Tränen in den Augen: »Sehen Sie, meine Herren, das muß ich beniesen; demnach ist es wahr.«

Widerspruch gab’s nach solchen Worten nicht, da sich der gute König den Widerspruch ein für alle Male verbeten hatte.
Nun gab’s aber trotzdem im Heibranenvolke viele Leute, die keineswegs mit den wohlgenährten Zuständen des Landes zufrieden waren; diese Unzufriedenen behaupteten, daß dem Volke die geistige Regsamkeit ganz und gar abhanden gekommen sei — und daß der Teufel Stumpfsinn überall eingekehrt und nicht wegzukriegen sei.

Die dieses behaupteten, waren nicht gerade die Männer der Wissenschaft, denn sie sind an eine große Menge Stumpfsinn gewöhnt — es waren zumeist solche Leute, die mit der Feder auf Papier ihre Gedanken und Einfälle aufzeichneten und hernach drucken ließen. Außerdem gab’s auch viele Bildhauer, Maler, Musiker und Baumeister unter den Unzufriedenen. Man konnte diese wohl die Dichter und Künstler des Landes nennen, wenn man diese beiden Bezeichnungen im weiteren und weitesten Sinne hinnimmt.

Kurzum: die Dichter und Künstler sagten: »Nee — so geht’s nicht weiter. Dieses Volk versteht gar nichts mehr. Wenn man ihm den größten Unsinn vorsalbadert, so hört es ebenso großäugig zu, als wenn man ihm die lustigsten Einfälle vorträgt. Wenn man sagt, sie sollen lachen, so lachen sie wohl. Und wenn man sagt, sie sollen weinen, so weinen sie auch. Aber sie wissen nicht mehr, warum sie lachen und weinen; sie können eben nicht mehr nachdenken — das gelingt ihnen nicht mehr. Wahrscheinlich werden sie von den vielen Geschäften ganz und gar in Anspruch genommen, so daß in ihrem Innern für sogenannte geistige Interessen kein Raum mehr ist. Solchem oberfaulen Volk aber immerzu köstliche Kunstwerke und verblüffende Dichtungen vorzusetzen — das wird allmählig langweilig. Deshalb wollen wir, die wir jenseits von Geschäft und Appetit auch noch was Anderes vom Leben haben wollen, uns zurückziehen — und zwar so zurückziehen, daß wir von dem dämlichen Volk nicht weiter berührt werden. Es ist immer sehr peinlich mit solchen Leuten, die uns nicht folgen können, zusammenzukommen — wie leicht kann man dadurch ebenso dumm werden — wie die Dummen.«

Und eines Tages trug man dem König Iwan diese hübschen Gedankengänge in feinster Form mit zierlichen Redensarten köstlich überzuckert in langer Audienz würdevoll mit gebeugtem Rücken und delikaten Handbewegungen ehrfurchtsvoll vor.
Der König schmunzelte, klopfte dem Redner freundlich auf die Wangen, ließ sich Alles umständlich noch mal vortragen und dann wieder noch mal — und dann noch zum vierten Male. Und da verstand er dann plötzlich und rief lachend: »So sag ich Dir, Mensch, wie Hamlet zu Ophelia sagt: Geh in ein Kloster! Geh in ein Kloster!«

Alle lachten natürlich sehr. Und der König lachte gleichfalls, daß ihm die Tränen über die dicken Wangen rollten.
Dann aber rief er ganz ernst mit schrecklich dröhnender Stimme und mit erhobenen Armen: »Ihr müßt allesamt in ein Kloster!«
Widerspruch gab’s nicht, denn den hatte sich ja der König ein für alle Male verbeten.

Indessen — jetzt stellten einzelne Redner fest, daß sämtliche Klöster auf der Erdrinde festsäßen und daher leicht von den anderen Menschen zu erreichen seien; diese, sagte man, würden bald aus Neugierde die Klöster aufsuchen, um die eingeklosterten Dichter und Künstler näher in Augenschein nehmen zu können. Die Klöster würden demnach die gewünschte Isolierung nicht hervorbringen.

»Ich will«, versetzte da der König Iwan, »nicht annehmen, daß in diesen Worten ein Widerspruch steckt.«

»Nein! Nein!« riefen die Versammelten ängstlich.

»Nun gut«, fuhr darauf der gute Iwan fort, »Ihr wollt also Alle in ein Kloster gehen. Ihr habt an dem Kloster nur auszusetzen, daß es an der Erdrinde festsitzt; Hm! Ich aber, der ich ein guter König bin, will Euch gar nicht in ein Kloster stecken, das an der Erdrinde festsitzt; ich will Euch in ein Kloster stecken, das mit Luftballons hoch in die Lüfte hinaufgetragen werden kann. Dadurch werdet Ihr doch wohl genügsam isoliert sein. Auch Ihr sollt vergnügt und glücklich sein. Ich wünsche, daß mein ganzes Volk vergnügt und glücklich ist. Donnerwetter noch mal! Weh dem, der mir widerspricht!«

Alle waren ganz verblüfft — dann aber sahen sie ein, wie gut es der König mit ihnen meinte — und da riefen sie mit einem Male wie aus einer Kehle: »Hoch lebe der gute König Iwan! Hoch! Hoch!«

Iwan setzte sich auf seinen Diwan und lachte und sagte lachend: »Nee, nee, Kinder! Ihr sollt hoch leben.«

Darauf nahm er eine Prise, und nachdem er geniest hatte, sagte er wieder: »Sehen Sie, meine Herren, das muß ich beniesen; demnach ist es wahr.«

Na — Widerspruch gab’s nicht, und so wurde das fliegende Kloster gebaut.

Und das ganze Heibranenvolk jubelte, als es die Dichter und Künstler in die Lüfte emporsteigen sah.

Natürlich — so leicht auch das fliegende Kloster gebaut war — allzu hoch konnte es nicht steigen, da es ja der vielen Insassen wegen einen ziemlich großen Umfang besaß.

Die Eingeklosterten freuten sich nun anfänglich über die Isolierung und über die prächtige Aussicht ganz außerordentlich. Und auch die Erneuerung der dünnen Luft in den Luftballons, die alle Sonnabend vorgenommen wurde, machte Allen recht vielen Spaß.

Nun blieb aber das fliegende Kloster den Heibranen alle Zeit sichtbar, und da nun die Dichter und Künstler daran gewöhnt waren, den Heibranen, obschon diese mit ihren großen Augen nicht sehr klug in die Welt hineinschauten, immer wieder was Neues vorzumachen oder vorzureden —so kamen die Dichter und Künstler darauf, auch von ihrem fliegenden Kloster herab die Aufmerksamkeit der Menge auf sich zu lenken.

Und so wurden allnächtlich prächtige Illuminationen mit kolossalen Scheinwerfern und vielen pyrotechnischen Explosionskörpern arrangiert. Und diese Nachtlichtarrangements hatten immer wieder einen neuen symbolischen Wert und wurden immer heller und leuchtender. Und das Heibranenvolk fand an dieser Kunstart immer mehr Gefallen, so daß alle Leute, die unten auf der Erdrinde lebten, bald nur noch am Tage schliefen und des Nachts zum fliegenden Kloster mit großen Augen emporschauten — natürlich nicht mit großem Verständnis — doch dafür mit um so größerer Begeisterung.

Diese Begeisterung gefiel aber nicht allen Klosterleuten, viele fanden, daß die Lichtspäße die Nachtruhe raubten und die Aussicht in die Sternenwelt unangenehm behinderte. Diese unzufriedenen Klosterleute waren aber die angesehensten; es kam daher bald so weit, daß man die Lichtspäße einschränkte und zuweilen ganz beseitigte.

Dafür arrangierten die Musiker des Klosters eine Kolossalmusik, in der unter anderem ganze Riesenbaiions als Pauken benutzt wurden, so daß diese Kolossalmusik über das ganze Land scholl.

Aber da oben im Kloster tönte die Musik — einfach ohrzerreißend.

Das ließen sich selbstverständlich die Nichtmusiker nicht gefallen, kletterten eines Nachts mit hurtiger Gewandtheit an langen Stricken zur Erdrinde hinunter und liefen zum guten König Iwan und klagten diesem ihr Leid.

Der gute Iwan saß gerade auf seinem Diwan und verzehrte ein kaltes Schneehuhn; es dauerte sehr lange, bis er verstand, was die erregten Dichter und Künstler wollten.

Als er aber begriffen hatte, was man ihm sagte, wischte er sich mit seiner Serviette den Mund ab und sagte feierlich: »Dann müssen wir eben ein zweites Kloster bauen. Ihr müßt eben in zwei Lager geteilt werden. Man kann nicht Allen zugleich gefallen. Entweder gefallt Ihr Euch untereinander und seid damit zufrieden — oder Ihr verzichtet darauf, einander zu gefallen, und gefallt nur dem Volke. Die Ersteren müssen in ein neues Kloster, in dem kein Volksklimbim gelitten wird. Und die Letzteren, die auch dem Volke gefallen und von diesem bemerkt sein wollen, bleiben in dem alten Luftkloster. Ich will, daß alle meine Untertanen vergnügt und glücklich sind. Donnerwetter noch mal!«

Da holte man den Dackel.

Und dann wurde das zweite Luftkloster gebaut, in dem Ilhunination und Riesenmusik nicht gelitten wurden. ^Das zweite Kloster ging bald ganz still durch die Luft, und nur nach unten fielen acht bewegliche Scheinwerfer herunter, die die Aussicht in die Sternenwelt nicht behinderten.

Die acht Scheinwerfer bewegten sich wie große Gespensterbeine, und die Heibranen, die unten auf der Erdrinde lebten, erschraken immer, wenn sie nachts die Gespensterbeine des »stillen« Luftklosters erblickten.

Die acht Scheinwerfer waren ganz weiß und bewegten sich rhythmisch wie Beine — wie Gespensterbeine.


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