Der gläserne Schrecken

Paul Scheerbart

Meine Tinte ist meine Tinte


Der gläserne Schrecken

Aus: Meine Tinte ist meine Tinte!


Morgens um 5 Uhr fuhr der Chemieprofessor Kuno Pohl in sehr guter Stimmung mit seiner Gattin im Automobil nach Hause. Sie waren auf einem Berliner Maskenball gewesen.

»Halt!« rief da Herr Pohl, »wir wollen noch im Cafe Bauer einen Eisgrog trinken. Das ist die neueste chemikalische Komposition — die muß ich noch studieren — es geht nicht anders.«

»Dieser Eisgrog!« rief Frau Frida Pohl. »Du kannst ihn ja gar nicht vertragen. Ich will endlich nach Hause. Und bei einem Topf bleibt’s ja doch nicht. Es ist schon fünf Uhr. Man muß doch an seine Gesundheit denken.«

Das eheliche Gespräch im Automobil wurde sehr lebhaft. Aber schließlich geschah doch, was der Herr Gemahl wollte, obschon sich die Gemahlin in sehr heftiger Weise widersetzte. Vor dem Cafe sprang der Herr Kuno schnell aus dem Wagen raus, befahl dem Portier, seiner Gemahlin beim Aussteigen behilflich zu sein, und eilte ins Cafe. Kaum hatte sich Herr Pohl an einen Tisch gesetzt und einen Eisgrog bestellt, so entsteht draußen vor der Tür ein furchtbarer Tumult. Der Portier stürzt kreideweiß herein und schreit — »Ein Unglück!« — Alles rennt zur Tür. Herr Pohl steckt sich ruhig eine Cigarre an und streichelt seinen Topf mit dem Eisgrog. Danach wird aber das Geschrei vor der Tür so fürchterlich, daß der kaltblütige Professor doch seine Ruhe verliert.

»Was ist denn da draußen?« fragt er heftig, »warum kommt denn meine Frau nicht?« Da kommt der Portier und brüllt: »Ihre Frau ist verglast, Herr Professor!« — »Sie sind wohl verrückt geworden!« brüllt der. Dann aber läuft er auch hinaus. Und draußen sieht er auf dem Fahrdamm drei Automobile in einer Glasmasse, und ein Schutzmann steht dazwischen — auch unbeweglich, in derselben Glasmasse. Kellner werfen den Schutzmann um und versuchen, ihn von der Glasmasse mit Messern zu befreien.

»Das ist gar kein Glas!« sagt der Portier. Herr Pohl sieht jetzt auch sein eigenes Automobil und davor seine Frau — auch wie eine Bildsäule dastehend — von einer durchsichtigen Masse fest an den Boden geklebt. Herr Pohl geht zu seiner Frau und berührt die Masse — sie ist sehr dick und weiß wie Gelatine — läßt sich aber mit den schärfsten Messern nicht durchschneiden. Man bringt Frau Pohl ins Cafe und versucht, die Gelatine zu erwärmen. Das ist sehr unheimlich, denn Frau Frida Pohl blickt starr gradaus und bewegt sich nicht. Die Erhitzung verändert die Gelatine nicht im mindesten. Herr Pohl sagt ruhig: »Das geht offenbar gegen alle Naturgesetze. Aber ich habe ja immer gesagt: Wir haben von den Naturgesetzen keine blasse Ahnung. Es gibt auf der Erde Sauerstoffkompositionen, die uns gänzlich unbekannt sind. Was ist denn aber nur passiert!« Der Portier erwiderte eifrig: »Die Räume sind auch überglast. Und auf der anderen Seite der Straße sind die ganzen Hausfronten verglast, so daß niemand raus kann.«

Im Laufe der nächsten drei Stunden wurden nun im Cafe die neuesten Depeschen bekannt. Drei Schutzleute und Frau Professor Pohl lagen regungslos auf dem Fußboden, und niemand vermochte, die durchsichtige Masse zu sprengen — auch war sie gegen jeden Hitzegrad gänzlich unempfänglich.

Aus den neuesten Depeschen ging hervor, daß diese »Verglasung« nur auf einem länglichen Erdstreifen stattgefunden hatte, der allerdings in der Länge wohl auf 6oo km geschätzt wurde, in der Breite aber nur 300 Meter in der Mitte hatte, nach beiden Enden zu wurde der Streifen, auf dem die »Verglasung« stattfand, immer schmaler. Durch drahtlose Telegraphie war auch gegen 8 Uhr bekannt geworden, daß drei Schiffe teilweise unter der »Verglasung« gelitten hatten. Ein fahrender Eisenbahnzug war durch die »Verglasung« plötzlich zum Stehen gebracht worden.

»Das Merkwürdigste ist«, sagte Professor Pohl, »daß sich dieses weiche Glas gar nicht mit menschlichen Instrumenten bearbeiten läßt. Es ist somit zum ersten Male konstatiert, daß sich auf der Erdoberfläche Stoffkompositionen bilden können, die allen ändern Stoffen der Erde gegenüber unempfindlich sind. Allerdings — bis zu einem gewissen Grade unempfänglich. Eisen sowohl wie Diamant bringen keinen Eindruck in diesem weichen Glase hervor. Dagegen gibt der Stoff dem leisesten Fingerdruck nach. Was man auch alles in diesem Jahrhundert erleben muß! Vor 30 Jahren stellten die Männer der Wissenschaft fest, daß sie die meisten Naturgesetze ganz richtig erkannt hatten. Heute können wir das Gegenteil feststellen. Unser Wissen ist nur noch ein Wissen von Nichtwissen. Wir wissen gar nicht, wie dieses weiche, biegsame Glas entstanden ist. Und wir wissen nicht, ob wir’s jemals durchdringen können. Das Undurchdringliche ist hier Ereignis geworden. Kellner, bringen Sie mir noch einen Eisgrog und eine Browning—Pistole dazu!« Beides wurde umgehend vom Kellner gebracht, und Professor Pohl schoß in die Glasmasse hinein, die sich rechts unten um die seitwärts geschobenen Kleider seiner Frau gebildet hatte. Die Kugel drang tief ein und wurde dann mit mächtiger Gewalt zurückgeschleudert und fuhr tief in die Decke des Cafes. Auf dem Glase blieb nicht eine Spur des Kugeleindrucks zurück.

»Die zu spät nach Hause kamen«, sagte der Portier, »die hat’s getroffen. Die Liste der Verglasten zeigt, daß fast nur Maskenballbesucher von dem großen Unglück getroffen wurden. Die Häuser, die verklebt sind, lassen sich immer noch von einer anderen Seite durchbrechen, so daß ein weiterer Verlust von Menschenleben nicht zu befürchten ist.«

Währenddessen hatten sich in allen Cafes und in allen Unfallstationen, in denen die Verglasten untergebracht wurden, Kapazitäten der Wissenschaft eingefunden und besprachen den Fall. Um 22 Uhr war alle Welt darüber einig, daß wahrscheinlich ein unsichtbares Stück eines Kometen der Erdoberfläche zu nahe gekommen sei und auf dieser eine merkwürdige weiche Glasspur hinterlassen habe.

»Es ist nur höchst drollig«, bemerkte dazu Professor Kuno Pohl, »daß nur die allernächste Umgebung des Menschen und seiner Wohnstätten und die Umgebung der Bäume und der Tierwelt für diese Verglasung empfänglich gewesen ist. Es liegt eine partielle Atmosphärenverdickung vor. Und wir wissen nicht, ob der Mensch eine derartige Einkapselung vertragen kann, ohne zu ersticken. Ich sehe, daß meine Frau ganz so aussieht, wie sie ohne Verglasung aussah. Und ich kann mich nicht dazu entschließen, anzunehmen, daß sie erstickt sei. Jedenfalls ist es zweifellos nötig, daß wir nichts unversucht lassen, sie von diesem Mantel zu befreien!«

Hiernach wurden zunächst wieder die neuesten Depeschen an die Wand genagelt. Und da las man denn u. a. folgendes: In Breslau sind 30 Pferde zusammen verglast. Man hat mit Kanonen auf die Glasmasse geschossen, und man hat keine Spur vom Druck der Kanonenkugel nachher entdecken können. Darauf hat man unter den Pferden zwei Zentner Dynamit entzündet — die Pferde sind 100 Meter in die Luft geworfen worden, kamen aber ohne Verletzung der Glasmasse unten wieder an. Die Pferde sind im Museum für Erdkunde ausgestellt. Ihr Aussehen verändert sich nicht. Die weiche Glasmasse wird nicht einmal durch Rauch geschwärzt. Auch farbige Stoffe nimmt das neue Glas nicht an. Die Farbe rinnt einfach herunter. —

»Und alles dieses passiert«, sagte Professor Kuno Pohl, »im zweiten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts nach Christi Geburt. Und wir können mit diesem neuen Stoff, der doch sicherlich ganz vorzügliche Eigenschaften besitzt, eigentlich gar nichts anfangen.«

»Wenn Sie aber«, rief nun wieder der Portier des Cafes, »als Professor der Chemie nichts mit diesem neuen Stoff anzufangen wissen, so ist das wahrlich kein Beweis für die Bedeutung der Wissenschaft.«

»Wahrlich nicht«, versetzte Professor Pohl kleinlaut, »da aber sicherlich der Komet an die eiskalten Temperaturen der Ätherweltjenseits von unserer Atmosphäre gewöhnt ist. so dürfte ihm wohl nur mit sehr kalten Stoffen beizukommen sein. Gegen ein paar hundert Grad Kälte wird das neue Glas wohl nicht unempfindlich sein.«

Ein allgemeines »Ah!« und dann stürmisches Händeklatschen sehen und Bravorufen folgte diesen Worten.

Und um 15 Uhr waren die Apparate zur Herstellung einer fürchterlichen Kälte im Cafe — und Professor Kuno Pohl ließ die Kälte sofort auf die Glasmasse wirken, di( den Körper seiner Frau umgab. Anfangs merkte mär nichts. Dann aber schwoll die Glasmasse auf und wurde undurchsichtig. Und dann gab es plötzlich einen furchtba ren Knall — und die Explosion vernichtete das ganze Cafe mit allem, was darinnen war. Das ganze Haus stürzte eil und fiel zum Teil auf die Straße.

Diesem unvorhergesehenen Naturereignis stand die wis senschaftliche Welt ratlos gegenüber. Niemand wußte, was man dazu sagen sollte. Den Universitäten aber wurde von der Staatsregierung verboten, fürderhin von »Naturgesetzen« zu sprechen, da durch die weiche Glasmasse bewiesen sei, daß menschliches Denkvermögen zur Erkenntnis von »Naturgesetzen« nicht ausreiche..


ps_152    PCW* und Willem, Kaiser von Germanien

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