Die feine Haut

Paul Scheerbart

Ja..was.. möchten wir nicht Alles!


Die feine Haut

Sensible Waldgeschichte

aus:  „Ja..was.. möchten wir nicht Alles!


Glühwürmer schwebten durch das geheimnisvolle Waldesdunkel. Die hohen Buchen rauschten leise. Welke Blätter fielen langsam in das weiche Moos. Fledermäuse flogen eilig vorüber. Hoch in den Kronen der Bäume saßen große Vögel; sie schlössen die Augen und schliefen ein.

Durch das säuselnde Waldesdunkel ging ein einsamer Wandrer in feinen weißen Gewändern schweigend dahin. Er tastete vorsichtig mit den Händen in die Luft, er konnte nicht sehen, wo ein Baumstamm im Wege stand, wo ein Zweig zu tief hing, wo ein Stein lag und wo’s hinan ging einen Hügel hinauf.
Kein Schuh bedeckte die Füße des einsamen Wandrers im weißen Gewande, das sich wie ein Gespenst durch den dunklen Wald bewegte – wie ein Toter, der auferstanden.
Und die nackten Füße des Wandrers wurden mit Tautropfen bedeckt, die der Abendnebel sanft sprühend über das weiche Moos verwehte.
Der Wandrer bleibt vor einem leise murmelnden Bach stehen. Krähen fliegen aufgescheucht krächzend empor, sie haben sich erschrocken beim Anblick der weißen Gewänder.
Ein Glühwurm erleuchtet voll Mitleid den kleinen Bach, und der Wandrer schreit auf und setzt den Fuß eilig in das kühle Wasser…
Aber die Kieselsteine ritzen die feine Haut der Füße mitleidlos auf. Die nackten Füße bluten, und der weiße Mann eilt den Hügel hinan. Da schlagen ihm die Zweige heftig ins Gesicht, ein Spinngewebe bleibt ihm hängen im langen Haar. Mit der Stirn prallt der Arme gegen einen festen Ast, und die Hände reißt er sich wund an den harten Baumrinden. Über einen Maulwurfshügel stolpert der Wandrer und fällt.
Die Knie bluten ihm, die Hände bluten ihm, über das Gesicht rinnen die Blutstropfen. Die ganze Haut ist zerschrammt und schmerzt so furchtbar, daß der Gefallene klagend aufschreit und daß seine Klagen widerhallen im leise säuselnden Waldesdunkel. Aber der andrer im weißen Gewände darf nicht liegen bleiben. Er ist zum ewigen Wandern verdammt
Und es ist kein Lebendiger, der da blutend dahinschreitet wie ein Gespenst Ein Toter geht durch den Wald,
Er wandert dort durch die einsame Nacht zur Strafe für eine große Sünde.

Er hat einst, als er noch lebte, die Wesen, die er nicht liebte – verachtet Und nun werden diese Wesen, die er einst verachtet – gerächt. Er ist gezwungen, allnächtlich im Walde herumzuirren – wie ein Gespenst – als ein Toter, der auferstanden.
Und wieder stößt er an harte Steine, wieder schlagen ihm Zweige heftig ins Gesicht, wieder zerreißen ihm die Baumrinden die Hände, garstige Spinngewebe umnetzen sein Haar, und das Blut rieselt über die feine Haut, daß sie schmerzt überall, wie wenn sie mit Nadeln zerstochen würde. Mitleidige Glühwürmchen leuchten zuweilen wie gute Geister vor dem weißen Mann auf.
Aber die Eulen schreien, und das schmerzt in den Ohren des Wandrers, es schmerzt jedes fallende Blatt sein empfindliches Ohr. Und der Wald säuselt, und es klingt so wie klagende Laute, klingt wie:

„O verachte nicht!
0 verachte nicht,
Was der ewige Weltgeist erschaffen.“

Der Wandrer hört es und leidet, er geht und geht durch das nächtige Dunkel immerfort. Und sein weißes Gewand ist voll Blut, und seine feine Haut schmerzt
Doch still ergeben in sein Schicksal ist, der da wandelt unter ewigen Qualen.
Er weiß, daß er leiden muß, wenn er wandern muß.
Seine feine Haut trägt die Schuld an Allem. Hätte der Arme keine feine Haut gehabt, so wäre dem sonst so Guten nie eingefallen, andre Wesen zu verachten.
Der Wald säuselt wie zur Beruhigung.
Nur die Eulen schreien so laut, und die Käfer zirpen immerfort, und die Steine sind so hart und die Baumäste so fest, und jeder Schritt bringt neuen Schmerz…
Und der Wandrer wandelt dahin und leidet -leidet ewig, wohin ihn auch führen mag – sein unendlicher Pfad.


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