Tempel!
Paul Scheerbart
Die wilde Jagd
Tempel!
aus: die wilde Jagd
Geister, die lange starr waren und nicht weiter konnten, bemerken wieder, wie sich was in ihnen bewegt; es durchrieselt sie eine feine Substanz, die so freudig macht.
Und gewaltige eiserne Flügeltüren knarren in ihren Angeln – und öffnen sich.
Und zehntausend Geister blicken in ein neues Reich, in dem ein stilles Licht so weich anschwillt wie warme Luft.
Und durch die vielen Flügeltüren werden die Geister hineingetragen in das neue Reich.
Die Geister bemerken, daß sie in kostbaren seidenen Sänften liegen; viel Elfenbeinschnitzerei ziert die Ränder der Sänften.
Und unsichtbare Hände tragen die Sänften durch die Luft, daß die Getragenen sich freuen.
In einem allmächtigen Saale sind die Geister; eine hohe Topaskuppel läßt gelbes Licht von oben herunter. Die dunkelgrünen Wände sind durchsichtig, und es sieht überall so aus, als bewege sich was hinter den Wänden – in dunklen gedämpften Farben.
Auch oben hinter der Topaskuppel scheint sich was zu bewegen – wie Wolken.
Und durch schimmernde Kristallpforten schweben die Sänften mit den Geistern in einen Saal, der beinahe ganz so wirkt, als wenn er aus Rubinglas bestünde – nur im oberen Teile sind verschiedene Luken mit türkisblauen Gläsern gefüllt-, und an den Wänden schimmert viel fein geschliffenes wasserhelles Kristall.
Und die Geister bemerken, daß die ganze Architektur durchsichtig ist – wie Glas; sie sind in den transparenten Tempelhallen, von denen sie oft gehört zu haben glauben; wie eine lange bekannte Sache kommt ihnen die transparente Architektur vor – und doch ist nur ein kleiner Teil von Glas – die größeren Wandteile bestehen aus anderen Stoffen.
Seltsame Musik dringt aus den Tiefen der rubinglasroten Tempelhalle herauf – es klingt, als käm’s von unzähligen neuen Instrumenten.
Während die Geister verwundert horchen, sehen sie viele Kristallschalen an den Wänden, und in die Kristallschalen fallen Tropfen aus verschiedenen Höhen hinein. Und durch diese Tropfen bildet sich die neue Musik; es sind allerdings noch andere Töne dabei, die den Schalen nicht gut entspringen können – doch hierüber werden die Geister im nächsten Saale aufgeklärt.
Da setzen sich die Wände aus unzähligen Säulen verschiedenster Konstruktion zusammen – und die bilden kolossale Nischen. Hinten in den Nischen geht’s fensterartig hinaus in ein weiteres Säulenreich; da draußen im Freien stehen durchsichtige Säulen, die farbige Lichtsäulen sind, mit großen Wassermassen in einem architektonischen Zusammenhange – bunte rauschende Wasserfälle und bunte durchsichtige Springbrunnen sind untereinander in ähnlichen Rhythmen gehalten wie die farbigen Lichtsäulen.
Diese Wassermassen in der Ferne machen auch eine Musik – und die steht mit der Tropfenmusik der Tempelhallen in einem musikalischen Zusammenhange.
Und zu der Wassermusik gesellt sich noch eine Windmusik, die in den durchbrochenen Wänden bald leiser und bald stärker auftönt und sich immer milde den Melodien und Harmonien der Wassertonwelt anschmiegt.
Die zehntausend schweben in der nächsten Galerie, die sehr lang ist, auch an großen transparenten Standbildern vorüber, deren Inneres wunderbar leuchtet- wie flüssiges Edelgestein. Diese abenteuerlichen Gestalten spotten jeder Beschreibung; die Geister glauben, daß diese Standbilder lebendige Götter sind, obgleich Knipo dieser Behauptung lächelnd widerspricht.
Nun geht’s noch durch sehr, sehr viele Säle durch, und die Geister starren durch all die transparenten Wände durch – und sehen in eine Kaleidoskop-Architektur, in der die Farben so auf- und niederwogen wie die Regenbogenfarben in Seifenblasen.
Jede Säule ist, ob sie bunt, farbig oder wasserartig ist, durchsichtig wie Glas – und die Galerien sind ebenso und die Kuppeln auch – und die Wände auch.
Und alles ist so reich durch das, was hinter allem ist. Und wo durch eine Öffnung durchzusehen ist, da sehen die Geister immer wieder und wieder weitere transparente Architekturgebilde – und zwischen denselben Wasserwerke, die zumeist ebenfalls transparent wirken – und nur im Schaume was Kompaktes besitzen. Fernere Wasserstrahlen werden auch durch die Kuppelluken sichtbar, die hier und da offenstehen.
Oft sehen die Wandsteine so wie Sammet aus – und sind trotzdem durchsichtig.
Durch die stete Weiterbewegung der Sänften verändert sich die Wirkung dieser transparenten Tempelhallen in jedem Moment.
Diese Farben- und Bewegungsreize sind so groß an Zahl, daß einzelne Eindrücke von der Wirkung der ganzen rauschenden Bilderfülle keine Ahnung erzeugen.
Und die Wassermusik mit der Windmusik ist ebenso reich und überwältigend schon in wenigen Augenblikken, daß ans Ganze kaum zu denken ist.
Alles ist in seifenblasenartiger Bewegung, so daß die Geister annehmen, Lebendiges sei draußen hinter den Wänden – und die Bewohner dieser transparenten Räume seien ebenfalls draußen.
Und die zehntausend möchten so gern wissen, ob’s Wurmgeister oder Sterngeister sind, die da draußen noch mehr Bewegung und Farbenspiel in die vielen Wände, Galerien und Säulen hineinzaubern.
Und die Götterbilder wirken so geheimnisvoll – mit ihren abenteuerlichen Gliedern, ihren durchsichtigen Prunkgewändern und ihren durchsichtigen Köpfen.
In der Tiefe sehen die Geister viele Kronen nebeneinander liegen und glauben daher, daß die Zahl der Standbilder in der Tiefe noch größer sei.
Der Weg durch die vielen Tempelhallen, in denen die Musik oft nur leise flüstert, als wenn sie verbergen und nicht verkünden möchte, geht bald rechts und bald links – oft in großen Bogen und auch im Zickzack – labyrinthisch.
Und dann sind die Sänften mitten in einem Raume, der viel größer ist als alle anderen zusammengenommen.
Die Musik tönt hier so leise wie stille Gebete, doch die Stimmen der Geister tönen sehr laut, so daß die meisten erschrecken, wie sie den lauten Ton ihrer Stimme vernehmen. Und so schweigen bald alle.
Der Knipo findet sich jedoch am schnellsten mit dem Schallwunder ab, und es überkommt ihn eine so große Redewut, daß er nicht mehr schweigen kann – und er redet – wie ein Erleuchteter – seine Stimme donnert durch den weiten Raum: »Wir wissen nicht, daß es eine Welt gibt, und trotzdem können unzählige Welten lebendig sein. Es können unzählige Welten schon tot sein – sie können auch noch geboren werden. Sie können auch nie geboren sein und dennoch lebendig sein. Was wissen wir, was Leben heißt! Können wir behaupten, daß wir leben? Es lebt der Baum ein andres Leben als der Stein. Mit dem Wort ›Leben‹ können wir jedesmal was andres meinen. Wir wissen aber nicht, was unser Leben heißt, und wissen nicht, was unser Sterben heißt. Wenn wir nun nicht wissen, ob wir leben oder sterben – tot oder lebendig sind – so muß es uns doch ziemlich gleichgültig sein, ob wir die Geister, die hier wohnen und doch nicht hier sind, für Wurmgeister oder für Sterngeister zu halten haben. Wenn wir so wenig mit unsern Worten anzufangen wissen, so dürfen wir doch nicht annehmen, daß das uns räumlich größer Erscheinende bedeutender ist als das uns räumlich kleiner Erscheinende. Vielleicht sind grade die Wurmgeister die wirklichen Götter. Was aber sind denn die Wurmgeister mehr, wenn sie sich Götter nennen dürfen? Stern und Wurm und Gott, Wurm und Gott und Stern – das sind doch schließlich bloß Worte! Laßt die Worte doch laufen – laßt sie ans Ende der Welt laufen – dann haben die Worte doch was zu tun und stiften kein Unheil.«
Laut dröhnten Knipos Worte durch den weiten transparenten Raum, der wie eine allmächtige Hohlkugel wirkte. Und die ganze Kugel war im Innern doch köstlich gegliedert.
Die Sänften schwebten auf und nieder, und die Geister reckten sich in den weichen seidenen Kissen. Ein Oben und Unten gab’s für die Geister in diesem Hohlkugelraum nicht, so daß sie das herrliche Tempelgebiet nach allen Seiten durchschauen konnten.
Auch hier wirkte die reich mit Säulen, Nischen, Galerien und Luken durchbrochene Wandung durch die ins Jenseits führende Transparenz; hier hatten die Geister so recht die Empfindung, in einer ungeheuren Seifenblase herumzuschweben.
Aber es gibt verschiedene Seifenblasen, und die Kugel, in der Knipo so laut sprach, verdient nicht, daß man sie Seifenblase nennt.
Die Kugelwandung war vom Mittelpunkt so weit entfernt wie ein ferner, ferner Sternhimmel.
Auch diese Hohlkugel war ein Sinnbild der Unendlichkeit.
Und Knipo redete zum anderen Male: »Liebe Brüder! Es ist schon viele Billionen Jahre her – da erlebten wir was, worüber wir heute noch lachen könnten. Damals wollten wir mal unser liebes sogenanntes Ich erweitern und mit diesem Ich die ganze Welt durchdringen – und auch alles das, was nicht in der Welt ist. Nicht bloß selbständig wollten wir werden, wir wollten sogar weltumspannende Persönlichkeiten – ganze Allwesen – werden. Wie klein muß uns damals die Welt vorgekommen sein! Heute halten wir die Welt nicht für klein und nicht für groß – wohl aber für eine so übergewaltige Sache, daß wir uns belächeln müßten, wenn wir uns einbilden wollten, wir hätten heute schon ein Recht, uns über die Bedeutung dieser Allumfassenden ein Urteil zu bilden. Und daher wollen wir fürderhin nicht mehr bloß mit unserm Stern zusammen einen guten Ton zu bilden suchen – wir wollen mit dem uns Unbekannten auch einen guten Ton erzeugen. Wir wollen ruhig weiterschweben, ohne was zu wollen. Ich glaube, unsre Willenlosigkeit ist unsre ganze Stärke – obgleich diese Worte so alt klingen wie die Ruinen eines Götterlebens.«
Da rauschte wunderliche Musik durch viele Luken in die transparente Hohlkugel hinein, und die Sänften schwebten einer fernen Rosette zu.
Und viele Geister wiederholten Knipos Worte: »Ich glaube, unsre Willenlosigkeit ist unsre ganze Stärke!«
»Ja, ja!« rief Knipo »,wenn wir willenlos sind, so kann eine andre Kraft – ein Jenseitswille – in uns lebendig werden. Und es ist doch so seltsam, daß wir trotzdem unsre Selbständigkeitssucht für die Dauer nicht unterdrücken können.«
Rauschend klangen die Wassermelodien um Knipos Ohren – und er vergaß seine Rede.
Und die Geister schwebten durch die Rosette aus der Hohlkugel raus in andre Säle – wieder ging’s teils im Zickzack, teils in großen Bogen weiter.
Und so gelangten die Geister nach langer, langer Zeit in den Zorntempel.
Dort wurde die Stimme der Geister gleich ganz rauh; kaum hatte Knipo ein paar Worte gesprochen, so merkte er schon den Hohn im Ton, daß er vor sich selbst zusammenschrak wie ein Verfolgter.
Im Zorntempel wurden alle sehr zornig – da sahen auch die Fenster wie rotglühende Augen herunter – und die durchsichtigen Säulen waren gewundene Schlangenund die Musik donnerte – und die Götterbilder ähnelten griffsicheren Raubtieren.
Und Knipo mußte wieder sprechen – und er sprach, als wenn ein Geist in ihn gefahren wäre, der ihm so lange fremd blieb, mit rauher bebender Stimme: »Das wahre Glück besteht nur in der langsamen rachsüchtigen tückischen Vernichtung alles dessen, was da lebt. Den einzigen Schmerz, den wir für den wahren halten müssen, bildet die Empfindung, daß es doch leblose Dinge geben dürfte, die wir vielleicht niemals vernichten könnten, da sie ja infolge ihrer Leblosigkeit auch unsterblich sein könnten.«
Ein wieherndes wahnsinniges Gelächter durchbraust den vieleckigen Zorntempel.
Und die Sänften drehen sich alle so fix um sich selbst, daß den Geistern ganz schwindlig wird.
Knipo brüllt aber aus vollem Halse: »Nur die Zerstörung kann die Entwicklung fördern.«
Eine Götterfratze tut ihren Rachen auf und spricht mit hohler Metallstimme: »Ich bin der gebändigte Tiefsinn dieser Welt – ich bin der Gott des unsterblichen Augenblicks.«
Da steigt den Geistern etwas Unbekanntes im Leibe empor und bleibt ihnen in der Kehle stecken – wie eine kalte Faust. Und sie fürchten sich.
Jetzt erhalten die roten Luken, die wie glühende Augen ins eckige Innere des Zorntempels hinunterglotzen, eine heftige Anziehungsknick sind alle zehntausend Geister draußen.
Und sie fliegen aus ihren Sänften raus auf ein schräges glattes Glasdach. ——————-
Auf dem Glasdach genießen sie einen weiten Rundblick über die gesamten transparenten Tempel und Wasserwerke.
Die Sänften sind verschwunden.
Schräg ist das Glasdach, und die Geister rutschen langsam runter – doch sie sehen drüben eine große Kugel – einer bunten riesigen Seifenblase ist sie nicht unähnlich. Und von der Kugel gehen unten mehrere schlauchartige Gebilde heraus, von denen eines im nahen Zorntempel endigt. Und die Geister sehen auch die durchsichtigen Wasserwerke und hören die Musik, die jetzt so wenig durchsichtige Melodien hat.
Und die Geister sagen sich, daß die schlauchartigen Gebilde, die transparent sind und zur Mittelkugel führen, die Saalreihen vorstellen, die sie in den Sänften durchschwebten – und sie wundern sich, daß von den Bewohnern dieser Tempel auch draußen keine Spur zu entdecken ist.
Die Geister staunen alles an und rutschen auf dem schrägen glatten Glasdach immer weiter runter dem Rande zu.
Und schwarze ungeheure Kapuzen sinken hernieder und bedecken die Architektur nebst den Wasserwerken, der Krallenrand der Kapuzen hakt sich unten schnell fest und die Geister sehen nicht mehr die transparente Welt.
Alles Licht ist fort, und die Musik ist mit einem Male zu Ende.
Die Geister rutschen immer weiter – und fürchten sich – vor einem großen Fall.
Raserei! Index: Erzählungen – Die wilde Jagd
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