Der neue Abgrund

Paul Scheerbart 

Das Lachen ist verboten


Der neue Abgrund

aus: das Lachen ist verboten

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„Wer kann“, sagte der Herr Töpfer, „alI die Verwandlungen, die uns auf Erden beschieden sind, so ruhig ertragen! Täglich bekommen wir eine große Neuerung, Unsre Kultur entwickelt sich mit einer solchen Schnelligkeit, daß ältere Leute gar nicht mehr mitkönnen.“ „Trösten Sie sich durch Lektüre“, sagte Frau Malwine Pate, „wir müssen uns alle durch Lektüre zu trösten suchen. Wozu werden denn so viele Bücher geschrieben und gedruckt? Wir sollen sie eben lesen. Lassen Sie die Zeitungen liegen, wo sie liegen wollen – und lesen Sie Bücher.“ Also unterhielten sich zwei alte Leute im großen Anden-Hotel, das auf dem Gipfel des Chimborasso lag, im Frühling des Jahres 3300; draußen lag der Schnee meterhoch, aber im Gastzimmer des Hotels herrschte eine angenehme Wärme, Die Morgensonne glitzerte in den Eisblumen der großen Spiegel- scheiben, und Frau Malwine Pate frage den Herrn Töpfer, ob sie ihm was vorlesen dürfe. „Ja“, sagte der Herr Töpfer, „Iesen Sie nur, dabei kann man Europa und Amerika vergessen. Wir sind auch nicht verpflichtet, im- merfort über die Verwandlungen, die wir auf der Erdoberfläche erleben, nachzudenken, Dadurch wird ja doch nichts besser.“ „Auf andern Sternen“, sagte Frau Pate, „gibt es noch viel größere Verwandlungen, Ich werde Ihnen ein Romankapitel vorlesen, das von einer derartigen Verwandlung erzählt.“ Und die Frau Pate las das Folgende


Der Strich durch die Rechnung

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Der Stern Klips sah so aus wie ein rundes Brot, Und nun wollten die Langbeinigen in der oberen Mitte des Sterns einen großartigen Palast bauen. Sie begannen damit, riesig lange Pfähle in der Mitte einzurammen. Aber die Arbeit gelang ihnen nur zu gut, denn die Pfähle gingen ganz leicht in den Boden hinein und gingen immer tiefer und – fanden unten keinen Halt. Alle Versuche, die Pfähle gegen das Tiefersinken zu schützen, mißglückten – der ganze Boden gab nach, und die Langbeinigen mußten sich auf den Rand des Sterns zurückziehen. Den Baumeistern wurde ein Strich durch die Rechnung gemacht; sie mußten es aufgeben, in der Mitte ihres Sterns einen Palast zu bauen. In der Mitte entstand ein großes weites Loch – ein neuer Abgrund. Und dieser Abgrund wurde täglich tiefer, und auf der anderen Seite des Sterns entstand ein hoher Berg. Und der Berg wurde immer höher, während der Abgrund immer tiefer wurde. Da nun die Langbeinigen alle auf dem Rande des Sterns leben mußten, veränderten sich plötzlich alle ihre Lebensgewohnheiten. Auf den Berg, der sich auf der unteren Seite gebildet hatte, konnten sie nicht hinaufklettern, denn der Berg wurde täglich heißer. Da sah dann bald der Stern wie ein spitzer Hut aus, Und die Langbeinigen wandelten an ihrem neuen Abgrund auf und ab und blickten hinunter. Und sie konnten auch nicht in den Abgrund hinein, da er auch sehr heiß wurde. Mit den sechs langen Beinen, die jeder Bewohner des Sterns besaß, konnte man bald auf dem Rande nicht mehr viel herumgehen, da der Rand immer schmaler wurde. Das Schlimmste aber war, daß viele Wohnungen auf beiden Seiten des Sterns durch die Berg- und Abgrundbildung vernichtet wur- den. Man wußte gar nicht, wo man bleiben sollte. Alle siedelten sich dicht nebeneinander auf dem Rande an, Und da bauten nun die Langbeinigen ganz hohe Häuser mit hundert Stockwerken. Und dann sahen die Klipsianer aus ihren Fenstern raus in den neuen Abgrund hinein. Und sie wußten nicht, was das werden sollte. Da gab es eines Tages einen furchtbaren Knall ganz unten im Abgrund. Und der Abgrund riß in der Tiefe auseinander, so daß unten ein großes Loch entstand, durch das man andere Sterne des Him- mels sehen konnte. Keiner konnte sich die Ursache dieser ganzen Sternverwandlung er klären. Aber alle Sechsbeinigen wohnten jetzt eng nebeneinander und lernten sich gegenseitig kennen – früher hatte jeder den andern so viel wie möglich gemieden.

„Ah!“ sagte nun Herr Töpfer, „der Stern hat sich also nur ver wandelt, um die langbeinigen Herren näher aneinander zu bringen.“ „Ja“, sagte Frau Malwine, „das scheint wohl die Ursache der Verwandlung zu sein. Wenn bei uns auf der Erdrinde was verwandelt wird, so hat das wohl auch immer seinen guten Grund. Wir verstehen nur nicht jedes Mal, so schnell dahinterzukommen.“ Die Eisblumen an den Spiegelscheiben waren währenddem abgetaut, und die beiden blickten hinaus in die prächtige Gebirgslandschaft hinein. Als ihnen aber die Augen schmerzten von dem vielen Schnee, fragte die Frau Pate, ob sie noch ein Kapitel aus ihrem Klips-Roman vorlesen dfiürfte. Und der Herr Töpfer war einverstanden. Da las denn Frau Malwine noch das Folgende:


Das Teleskop

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Nun war der Blick in den neuen Abgrund für die Langbeinigen sehr interessant; sie wurden gar nicht müde, hinunterzublicken, denn daunten war’s sehr lebendig; immerfort stiegen Blasen auf – und dann bildete sich unten eine glasartige Masse – und die nahm Linsenform allmählich an. Und eines Tages sahen die Langbeinigen unten alle Sterne riesig groß; es hatte sich da unten ein natürliches Teleskop gebildet. Nun war man auf dem Stern Klips plötzlich selig, denn der Blick in die großen Sterne war viel großartiger als alles andre, was man bisher erlebt hatte, Man sah auch Kometen – so, als wären sie ganz in der Nähe. Und da sah man ganz deutlich, daß die Kometen kolossale Lichtschlangen waren mit Brillantenköpfen – ja, man sah, daß die Köpfe so funkeIten wie Brillanten. Und von den Brillantenköp fen gingen die seltsamsten LichtstrahIen aus – in vielfach gekrümmten Kurven. Und dann sah man in der nächsten Nähe noch viele kleine Sterne, die alle möglichen und denkbaren Formen hatten. Die ganze Umgebung des Klips schien plötzlich aufzuleben. Einzelne der Langbeinigen kletterten jetzt hinunter in den großen Kessel, und da merkte man, daß die Wände des KesseIs allmählich kühler wurden. Und da sah man unten noch viel mehr als oben; die ganze Welt wurde plötzlich lebendig für die Langbeinigen. Nun baute man Kettenbrücken, mit denen man die beiden Seiten des großen Trichters verband. Und man entdeckte so die Stellen, auf denen man den besten Blick durch die große Naturglaslinse hatte. Und da wurden denn so viele Brücken gebaut, dalß sich alle Klipsianer in der Mitte des großen Kraters ansiedeln konnten. Und da in der Mitte wohnten sie noch enger zusammen. Doch auch diese Verwandlung des Sterns bildete noch nicht den Schlußstein der Verwandlungen, Einzelne Rindenpartien des unteren großen Bergkegels lösten sich hautartig los und bogen sich langsam nach oben und bogen sich über den Rand, so daß sich hinter den Randhäusern mit den hundert Stockwerken hohe Wände bildeten, die schließlich aus dem ganzen Stern eine kolossale Röhre machten. Und dann bildeten sich im unteren Teil des Kraters noch andere Naturglaslinsen übereinander, so daß die Langbeinigen ihre Kettenbrücken wieder von den inneren Trichterseiten loslösen mußten. Man brachte danach die Kettenbrücken viel höher an und hatte nun von dem höheren Standpunkte aus einen noch besseren Btick durch die alles immer mehr vergrößernden Linsen. Und da sich noch weiter nach oben im Abgrund abermals neue Linsen bildeten – mußte man immer höher in dem großen Rohr hinauf, bis man schließlich hoch oben die Spitzen der neuen Wände durch Kettenbrüeken miteinander verband. Dieses Naturteleskop wuchs sich immer besser aus, und man konnte immer besser durch die Linsen sehen. Und man sah immer mehr – immer mehr. Und die Langbeinigen sagten ganz erstaunt: „Wer baute uns dieses Teleskop? Ist unser Stern so gütig, daß er sich, um uns zu gefallen, in ein Fernrohr verwandelte?“ Und sie wußten nicht, was sie davon denken sollten. Aber sie zweifelten nicht mehr daran, daß ihr Stern, den sie Klips genannt hatten, ein allmächtiger, lebendiger Riese sei; nur wußten sie sich gar nicht zu erklären, wie es kam, daß sich ein Riese in ein Teleskop verwandeln konnte. Da starrten sie aber immer aufmerksamer durch ihr Sternteleskop und entdeckten nun in vielen anderen Sternen noch so viele an- dere Verwandlungen, daß ihnen die Verwandlung ihres Sterns ganz natürlich vorkam. Um ihren Stern zu ehren, nannten sie ihn von jetzt an nur noch den Großen – und sprachen von ihm mit großer Ehrfurcht.

„Das ist ja“, sagte Herr Töpfer, als Frau Pate ihr Buch zugemacht hatte, „eine recht tröstliche Geschichte. Wenn auf anderen Sternen derartige Verwandlungen mit derartigen Resultaten stattfinden, so brauchen wir uns über die Verwandlungen, die unsre Erdober fläche zu erleiden bestimmt ist, eigentlich gar nicht mehr zu beunruhigen.“ „Ja“, erwiderte Frau Malwine, „die neuen schwimmenden Inseln, die sich im Großen Ozean gebildet haben, werden wohl auch unser Leben schließlich nur noch reicher machen.“ „Und die große Hochebene in Nordasien“, sagte Herr Töpfer, „wird wohl auch bald etwas ganz Neues hervorbringen.“ In diesem Augenblick kam der Hotelwirt ins Gastzimmer und rief ganz atemlos: „Meine Damen und Herren, soeben erhalte ich ein Telegramm, in dem steht, daß sich in der Hochebene Nordasiens große Spaltbildungen zeigten. Und aus diesen Spaltbildungen sind ganz neue feuerrote Drachen herausgeflogen. Und diese Drachen sind ganz intelligente Lebewesen; sie behaupten, daß sie viele Jahrtausende im Innern der Erde gelebt haben – und daß sie froh sind, jetzt endlich mal das große Sonnenlicht zu sehen.“ „Das klingt ja wie ein Märchen!“ sagte Frau Pate, aber sie las das Telegramm und schlug dann die Hände über dem Kopf zusammen. „Wie soll man nur“, sagte Herr Töpfer, „all diese Verwandlungen ertragen?“ „Aber“, rief der Wirt, „das ist doch kein Unglück! Jetzt brauchen wir nicht nur mit Menschen zu verkehren. Ich lade die roten Drachenleute ein, ein paar Jahre in meinem Andenhotel zu wohnen. Dann hab ich immer ein volles Haus.“ Und acht Tage später waren auch schon zwei Dracheuleute im Andenhotel – und der Wirt war außer sich vor Vergnügen – und der Herr Töpfer auch – und die Frau Malwine Pate – ebenfalls –


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