Der Kaiser von Utopia

Paul Scheerbart

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Der Kaiser von Utopia

Ein Volksroman


1. Schilda

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Die Sonne war untergegangen.
Und es regnete.
Und Herr Moritz Wiedewitt, der Oberbürgermeister von Schilda, saß vor seinem Schreibtisch und grübelte; die Lampe brannte trübe.
Frau Lotte Wiedewitt, die Gemahlin des Oberbürgermeisters von Schilda, saß auf dem Diwan – und ihre Augen funkelten.
Moritz hüstelte und sagte beklommen:
»Es ging heute mal wieder Alles schief.«
Da rief die Lotte gellend:
»Das halte der Deiwel aus. Mein Wirtschaftsgeld langt nicht. Ein solches Hundeleben ertrage ich nicht länger. Das muß jetzt anders werden.«
»Schrei blos nicht so!« sagte der Oberbürgermeister sanft.
Aber da schrie die Frau Lotte erst recht, daß die Wände dröhnten.
Und ihr Gemahl ward ebenfalls wütend.
Und da schrieen sie alle Beide.
Die Schildbürger, die auf der Straße vorübergingen, krauten sich hinter den Ohren und kamen auch in schlechte Stimmung.
»Wer weiß, wie das noch enden wird!« sagten sie mit Mienen voll echter Verzweiflung.
»Das haben wir nun davon«, rief die Lotte, »von der großen Emanzipation! Dazu haben wir uns also vom Volksgeiste emanzipiert! Hunger und Elend haben wir davon – und weiter garnichts. Ein neues Inlett für die Betten muß auch angeschafft werden. Ich ertrags so nicht länger. Ich schweige jetzt nicht mehr.«
»Du hast nie geschwiegen!« rief der Oberbürgermeister, und ein Lächeln erhellte sein Angesicht.
»Warte nur, es wird sich schon machen lassen!«
Also fuhr er fort.
Aber die Lotte rannte zum Zimmer hinaus und schmiß die Türe hinter sich zu, daß Alles krachte.
Die Lampe brannte wieder ganz trübe.
Und es regnete in Schilda.

 


2. Ulaleipu

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Philander der Siebente, der Kaiser von Utopia, saß vor seinem großen Fenster und blickte hinaus.
Drüben wurden die Schneezacken der himmelhohen Berge feuerrot und bekamen goldene Ränder. Es wurde Morgen.
Und der Kaiser sah seine Schneezacken heftiger glühen, und seine Augen schmerzten, sodaß sie bald die unteren Teile der Berge suchten, auf denen Ulaleipu, die Residenz des Kaiserreichs Utopia, erbaut war.
Ulaleipu war eine große Felsenstadt; sie umkränzte die Ufer des schwarzen Sees in Hufeisenform.
Der schwarze See in der Tiefe hatte auch Hufeisenform. Dort, wo das Hufeisen offen ist, reckte sich der Kaiserpalast aus den schwarzen Wassern heraus; der Palast war auf vielen steilen Felsenkegeln erbaut und zumeist so, daß die Felsen als solche nicht mehr zur Geltung kamen; die Architektur verdeckte die Felsen fast überall.
Und so wie sich der Kaiserpalast an die Felsen anschmiegte, so taten dies auch die andern Paläste der Residenz Ulaleipu, sodaß von den unteren Teilen der Berge, die auch den schwarzen See in Hufeisenform umkränzten, nicht viel zu sehen blieb; fast überall ward das Gestein verdeckt von der Architektur. Und da es nun allmählich immer heller wurde, sah sich der Kaiser von seinem großen Fenster aus seine gewaltige Felsresidenz an und freute sich über ihre Hufeisenform; viele Kettenbrücken und andere Brücken verbanden die einzelnen Stadtteile, und Alles war sehr reich und prächtig; Türme und Fahrstühle, weitüberkragende Erker und zurückgehende Terrassen, Tunnel und Spiralstraßen, Plätze mit vielen Hallen darunter – und tiefe Schluchten mit Säulengängen rechts und links – und wirklich hängende Gärten und ganz steile Parkanlagen mit Wasserfällen und Springbrunnen – so was gabs da alles in schwerer Menge, daß das Auge sich nicht satt sehen konnte an all der fabelhaften Pracht.
Unten im schwarzen See spiegelten sich die roten und goldenen Schneezacken der hohen Gebirge, und auch der dunkelblaue Himmel spiegelte sich im schwarzen See.
Und dann ging die Sonne hinter den Bergen auf, und es wurde ganz hell in Ulaleipu, wenn auch die Sonne vorläufig noch unsichtbar blieb.
Der Kaiser öffnete sein großes Fenster, langsam gingen die Spiegelscheiben runter, sodaß die frische Morgenluft des Kaisers Stirne kühlte.
Und die Residenzler ringsum auf den Bergabhängen öffneten auch ihre Fenster.
Alle ließen die frische Morgenluft in ihr Haus hinein.

 


3. Das Frühlingsfest

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Die Zylinderwagen und die Fahrstühle sausen bergauf und bergab, durch die Tunnel und über die Kettenbrücken flitzen die langen Packetwagen, und dazwischen drehen sich die langen Züge der Spiralbahnen hinunter und in die Höhe – ganz Ulaleipu ist in Bewegung – und Alles glitzert dabei – und die glitzernde Bewegung kann der Kaiser vom großen Fenster aus sehen und sich darüber freuen; seine Residenz feiert heute das große Frühlingsfest – der Tag ist so lang wie die Nacht – in frühster Morgenstunde beginnt es – und am nächsten Tage in den späteren Morgenstunden hört es erst auf.
In den Fremdenpalästen geht es am lebhaftesten zu – nur für geladene Gäste aus den Provinzen hat heute die Residenz ein offenes Tor – die andern Fremden müssen hinter den Bergen bleiben, denn die Stadt Ulaleipu kann sich nicht so leicht nach oben und unten hin ausdehnen – die Bautätigkeit ist beinahe zu Ende.
Auf den Terrassen und in den Gärten gibts jetzt das berühmte Frühlingsfrühstück und dazu ein Frühkonzert von fünfzig Kapellen, die an fünfzig verschiedenen Stellen mit Benutzung der Echos teils zusammen teils vereinzelt – aber immer einander ergänzend – das Meisterwerk eines utopianischen Komponisten vortragen.
Aus allen Fenstern sind jetzt bunte Stickereien herausgehängt, und aus den Türmen ragen unzählige lange Stangen heraus, die sich immerzu um sich selber drehen, was einen Glanzeffekt erster Güte erzeugt, da die Stangen sämtlich von oben bis unten mit bunten, zum Teil prismatisch geschliffenen Gläsern verziert sind.
Die Frühlingsmusik rauscht über den schwarzen See hinweg in das große Fenster des Kaisers hinein – und dann klingt es bald da – und bald dort – bald oben in den Bergen – und bald unten im See.
Und Ulaleipu frühstückt dabei – aber ganz vorsichtig ißt man – klappert nicht mit Messer und Gabel – kein Kind darf ein lautes Wort sagen. Und auch die kleinen Jungen mit den Festschriften auf den Bahnstationen reichen vorsichtig das Papier hin, daß es nicht knistert. Wer noch gehen muß, geht auf den Zehen und langsam.
Der Kaiser sieht seine Stadt an – sieht, wie die Stangen auf den Türmen unaufhörlich glitzern und farbig funkeln – und wie die bunten Stickereien die ganze Stadt ganz bunt machen. Und das Frühkonzert der fünfzig Kapellen tönt harmonisch in das Frühlingsfest hinein, sodaß der Kaiser doch lächeln muß.
Unten auf dem schwarzen See stehen auch die Ruderboote und die Motorboote ganz still, damit kein Mißton hineinklinge in das Frühkonzert der fünfzig Kapellen.

 

 


4. Der Staatsrat

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Beinahe den ganzen Tag – schier zwölf Stunden hindurch – war die Stadt Ulaleipu ein großes Theater gewesen. Sämtliche Residenzler hatten bei den großen Festspielen mitgespielt.
Im Mittelpunkte der Aufführungen stand »Der Zank der Berggeister und der Wasserdrachen«. In dieser Komödie hatten sich die kolossalsten Ungeheuer präsentiert – auf den Bergen einerseits und unten im schwarzen See andrerseits; die Größe der Riesenleiber und die kolossale Stimmkraft der Riesen hatten die allgemeinste Bewunderung erregt; selbst der Kaiser hatte zum Zeichen der Anerkennung gelächelt und, wies Sitte ist, mit der Spitze des linken Zeigefingers die Nasenspitze berührt, und die Provinzler waren fast närrisch vor Begeisterung geworden. Aber es ließ sich auch nicht ein einziger Tadel aussprechen – so vortrefflich nahm sich Alles aus. Und des Abends sprach man in den Gärten und auf den Terrassen immer wieder davon und erklärte immer wieder, daß die Theaterkunst doch wahrlich keine so üble Kunst sei – besonders dann nicht, wenn ein ganzes Volk mitspielt und mittätig ist.
Am Abend ruhten sich Alle aus, sodaß die Stadt so still erschien wie sonst – nur die glitzernden Turmstangen und die bunten Stickereien erinnerten daran, daß die Stadt Ulaleipu ihr Frühlingsfest feierte.
Und als nun die Nacht hereinbrach, blieb es zuerst überall so dunkel wie sonst; nur die kleinen Lampen brannten in den Häusern. Dann aber flammten hoch oben auf dem großen Seebalkon der Kaiserburg rote Pechfackeln zum Himmel empor; auf dem Seebalkon hatte sich der Staatsrat versammelt.
Der Staatsrat bestand aus hundert Herren, die mit dem Kaiser zusammen das Land Utopia regierten; diese hundert Herren bildeten jetzt einen Kreis und sprachen leise flüsternd über die nächsten Regierungsgeschäfte.
Dann aber ertönten feierliche Glocken, die das Nahen des Kaisers verkündeten. Fünfzig der Mitglieder des Staatsrates traten nach rechts und stellten sich in einer Reihe auf, und links taten die andern fünfzig dasselbe. Jedes Mitglied des Staatsrates hatte auf jeder Schulter eine zehn Meter hohe künstliche Feder, die sogenannte Schulterfeder, die in Form und Farbe der Gala-Uniform entsprach; jede Uniform war anders und bezeichnend für die Tätigkeit jedes einzelnen Herrn.
Als nun der Kaiser kam, verbeugten sich die Herren – und zwar so, daß sich die Spitzen der hundert Schulterfedern von rechts mit denen von links oben berührten. Und unter diesem Federdach schritt der Kaiser langsam gradaus dem See zu; der Kaiser trug einen langen weißen Bart, einen einfachen roten Purpursammetmantel mit goldenem Gürtel und eine einfache goldene Zackenkrone auf den langen weißen Haupthaaren.
Der Kaiser ging zum Rande des Seebalkons und setzte sich dort auf seinen Thron; die zweihundert Schulterfedern gingen langsam wieder in die Höhe und standen nun wieder steil und still da.

 


5. Die bunte Nacht

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Die Pechflammen auf dem Seebalkon verlöschten allmählich.
Und auch die Lampen in den Häusern der Stadt wurden ausgemacht, sodaß es dunkle Nacht wurde in ganz Ulaleipu.
Nur die Sterne leuchteten oben am Himmel – und die Mondsichel oben in der Mitte des Himmels.
Ganz still war die Nacht.
Dann aber kam eine Lichtgestalt oben aus den Bergen heraus und schwebte langsam hernieder und wurde immer größer, während sie herniederschwebte; aus riesigen innerlich erleuchteten schlauchartigen Ballons war die Lichtgestalt gebildet – und bunt war sie – sehr bunt.
Und brennende Augen hatte die Lichtgestalt und wunderliche wulstige Gliedmaßen, die aber immer wieder anders leuchteten, da die elektrischen Lichter im Innern der Ballons in ständiger Bewegung waren; von den Stricken, an denen die Lichtgestalt heruntergezogen wurde, sah man nichts, da ja die Nacht ringsum ganz dunkel war.
Und die Lichtgestalt lagerte sich über der Stadt an den Bergabhängen, und eine feierliche geisterhafte Musik begrüßte sie.
Danach ward wieder Alles ganz still, und der ersten Lichtgestalt folgte nun eine zweite – und der eine dritte – und jede war immer abenteuerlicher als die andere.
Und es kamen immer mehr Lichtgestalten aus den Bergen herunter, sodaß bald der ganze Talkessel, in dem die Stadt Ulaleipu lag, von lagernden und schwebenden Lichtgestalten erfüllt war.
Ein geisterhaftes Schauspiel!
Und ein Farben- und Lichtschauspiel, dessen unheimliche Großartigkeit gradezu erdrückend wirkte, sodaß die Musik der fünfzig Kapellen, die nur immer für ein paar Augenblicke zu hören war, doch zuweilen wie ein Erlösendes hineinklang.
Wie ein überirdischer Alb schwebten und lagerten die ungeheuren Lichttiere über der Stadt.
Als nun aber alle Ungeheuer unten waren, da wurde plötzlich der schwarze See zu einem großen Lichtkaleidoskop – und das funkelte und glühte und floß und flutete und bildete Spiralen und Ecken und Kanten und Diamantenspäße und Quallenwunder, daß das Auge ganz geblendet wurde.
Danach sangen alle Residenzler zusammen das Frühlingslied des Dichters Itambara.
Und dann wurde eine Lichtgestalt nach der andern dunkel – und der schwarze See wurde auch dunkel.
Und dann wurden oben wieder die Berge rot – und sie bekamen wieder ihre goldenen Ränder.
Der Morgen kam.
Und der Kaiser stieg von seinem Thron herab und ging wieder durch das Dach der Schulterfedern in seine Burg hinein – so wie er gekommen war.

 


6. Der Morgenwitz

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Als nun Philander der Siebente, Kaiser von Utopia, wieder in seiner Kaiserburg war, da ging er mit raschen Schritten in seinen großen Bibliothekssaal, und der Staatsrat folgte dem Kaiser – ebenfalls mit raschen Schritten, daß die Schulterfedern wackelten.
Im Bibliothekssaal brannten nur ein Dutzend elektrische Lampen in rotem Rubinglase, und die fünfzehn Meter hohen Spiegelscheiben der Fenster sahen ganz blau aus.
Durch die hohen Flügeltüren kamen nun die Mitglieder des Staatsrates feierlich mit ihren zehn Meter hohen Schulterfedern herein; es wurde Kaffee getrunken und ein stärkender Kognak dazu. Dabei gab der Kaiser den Dienern ein Zeichen, und die Diener verschwanden.
Nun war der Kaiser mit seinem Staatsrat in seinem Bibliothekszimmer allein. Es war nun die Pflicht des Kaisers, dem Zeremoniell entsprechend einen Witz zu machen.
Philander der Siebente stellte sich vor einen großen Spiegel, nahm seine weißen Augenbrauen ab und auch den weißen Bart und die Krone und das weiße Haupthaar – und drehte sich um und zeigte seinem Staatsrat sein glattrasiertes Gesicht mit den kalten blauen etwas müden Augen und dem rötlichen kurzgeschnittenen Haupthaar. Die Mitglieder des Staatsrates lächelten und verbeugten sich; diese Entkleidungsszene entsprach dem Zeremoniell. Auch der rote Purpurmantel fiel, und der Kaiser stand nun in einfachster schwarzer Kleidung da und sagte leise:
»Meine Herren! Sie wollen den Morgenwitz hören. Sie sollen ihn hören. Ich erkläre Ihnen hierdurch, daß ichs müde bin, Kaiser von Utopia zu sein; ich werde ein Jahr pausieren und mich vertreten lassen. Denken Sie über eine geeignete Persönlichkeit, der man meine Kaiserrolle übertragen kann, ordentlich nach. Ich lege mich zu Bett. Schlafen Sie wohl! Guten Morgen!«
Der Staatsrat zitterte vor Erregung, und der Zeremonieenmeister sprach mit heftig wackelnden Schulterfedern:
»Grandiosität, ist dieser Scherz ernst gemeint?«
Der Kaiser Philander sagte dazu lächelnd:
»Der Kaiser von Utopia pflegt stets im Ernste zu scherzen. Denken Sie über meinen Stellvertreter nach – aber ordentlich!«
Und der Kaiser verließ seinen Bibliothekssaal, begab sich in seine Schlafgemächer, ließ sich rasch auskleiden und war nach fünf Minuten fest eingeschlafen.
Der Staatsrat aber befand sich in fieberhafter Aufregung; der Morgenwitz des Kaisers hatte den Staatsrat ganz aus der Fassung gebracht.
Der Kaiser träumte währenddem von ganz feinen Geistern, die sehr groß waren – aber dabei so dünn – wie Spinngewebefäden.

 


7. Schilda

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Der geheime Regierungssekretär Käseberg hatte an dem Morgen, der dem Frühlingsfeste folgte, sehr zaghaft sein Bett verlassen und sah nun, während er seinen Morgenkaffee schlürfte, sehr zaghaft hinaus auf die Hauptstraße von Schilda; der geheime Regierungssekretär fürchtete, und nicht mit Unrecht, daß man ihm bald die Fenster einwerfen würde mit schweren, kantigen Steinen; die Tätigkeit der Herren, die in dem dreieckigen Rathause zu Schilda fest angestellt waren, hatte der Stadt Schilda noch keinen Vorteil gebracht, und die Geschäfte standen still.
Die alte Stadt Schilda war vor vielen Jahrhunderten zu Grunde gegangen, aber die neue Stadt Schilda war vor ein paar Jahren von Originalen erbaut worden – von Originalen, die sich vom Volksgeist emanzipiert hatten. Anfänglich brachte diesen Originalen der Humor manchen Vorteil, dann aber zog der Humor nicht mehr, da es den Utopianern viel zu gut ging, sodaß das neue Schilda bald in Vergessenheit geriet. Nun waren die neuen Schildbürger nicht sehr fleißig, sie waren sehr querköpfig und unpraktisch, und da sie zudem vom Kaiserreich Utopia wirtschaftlich losgelöst waren – so ging in Schilda bald Alles bergab, und die Lotte Wiedewitt hatte ganz recht, als sie sagte:
»Die ganze Emanzipation vom Volksgeiste hat uns blos Jammer und Elend gebracht – und weiter Garnichts – Garnichts – Garnichts.«
Herr Käseberg dachte, als er bei seiner Morgenzigarre den Schildaer Generalanzeiger durchblätterte, grade wieder über die Bedeutung des Volksgeistes nach – da ward er durch Eilboten zum Oberbürgermeister Wiedewitt gerufen.
Herr Moritz Wiedewitt saß im Rathause mit Herrn von Moellerkuchen zusammen; Käseberg und von Moellerkuchen, die beide geheime Regierungskräfte waren, bildeten die rechte Hand des Oberbürgermeisters. Und dieser setzte nun seinen Geheimen eifrigst auseinander, wie es komme, daß in der Residenz alle Leute dick und fett seien: Uniformen hätten sie alle – und darum müßte ein »Allgemeiner Uniform-Verein für Schilda und Umgegend« gegründet werden. Außerdem hätten die Ulaleipuaner sämtlich hochtrabende Titel wie – Tambourmajor, Feldmarschall, Rechnungsrat, Kriegsminister, Professor, Kanzleivorsteher usw. – demnach müßte auch ein »Allgemeiner Titular-Verein für Schilda und Umgegend« gegründet werden.
Und Beides geschah, und Abends war der General-Anzeiger ganz voll von diesen beiden Gründungen.
Im Kaiserreich Utopia hatten sich die Titulaturen im Laufe der Jahrhunderte sehr verändert; da es Kriege und Heeresorganisation eigentlich nicht mehr gab, so waren die militärischen Titulaturen auf andere friedliche Beschäftigungszweige übergegangen – so wurden die Agrikultur-Chemiker Feldmarschälle, die Rechtsanwälte Tambourmajors, die Standesbeamten Kriegsminister usw. usw. tituliert. Jedenfalls sollte der Titel immer nur die Tätigkeit charakterisieren – und da war oft aus Scherz Ernst geworden. Und nun wollten die Schildbürger wieder aus dem Ernste einen Scherz machen; allerdings taten sie Alles mit saurer Miene, daß sie schließlich selber nicht recht wußten, wo ihr Ernst aufhörte und ihr Scherz anfing.
Der Schildaer Generalanzeiger aber – der hatte jetzt Stoff in Hülle und Fülle.
Und auch Philander der Siebente, der Kaiser von Utopia, las von den neuen Gründungen – und er las lange daran – und er lächelte schließlich sehr lange und berührte zum Zeichen des Beifalls mit der Spitze des linken Zeigefingers seine Nasenspitze – sehr lange ließ er die beiden Spitzen zusammen.

 


8. Der Volksgeist

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An dem ersten Sonntag Vormittag nach dem Frühlingsfeste saß Philander in seinem großen Bibliothekssaale wie ein einfacher Privatmann ohne Greisenhaar vor seinem zehn Meter breiten Schreibtisch und las in der neusten Ausgabe des utopianischen Konversationslexikons unter »Volksgeist« u. A. das Folgende:
»Als es vor vier Jahrhunderten unter Kaiser Kasimir dem Ersten modern wurde, den Volksgeist immer höher einzuschätzen und ihm schließlich eine göttliche Verehrung entgegenzubringen, da dachte natürlich Niemand daran, die einfachen tierischen Instinkte eines unentwickelten Volkes als göttliche Angelegenheit zu bezeichnen und einzuschätzen. Überall – in den ersten wie in den späteren Grundlagen unserer utopianischen Religion, die dem Volksgeiste göttliche Verehrung entgegenbringt, wird der Volksgeist immer als ein »Geist« aufgefaßt, der nicht blos in dem Volke, sondern auch über dem Volke lebt – gleichsam eine ätherische Bildung, die Alles durchdringt und Allem die Richtschnur gibt, ohne die Einzelerscheinungen in ihrem Individualisierungsbestreben wesentlich zu behindern. Der von den Utopianern göttlich verehrte Volksgeist ist im Grunde genommen ebenso gut ein unbekannter allmächtiger Gott – wie die gesamten Götter der Vorzeit. Wir haben überall Volk und Volksgeist als zwei wesentlich von einander unterschiedene Begriffe aufzufassen und zu behandeln.«
Philander hielt mit dem Lesen inne, schüttelte den Kopf und telephonierte nach seinem Zeremonieenmeister Kawatko.
Kawatko kam sofort, der Kaiser bot ihm eine Zigarre an und rauchte selber auch und zeigte dem Kawatko einen Brief, den er an den Oberbürgermeister von Schilda geschrieben hatte.
Kawatko las und lachte und sagte:
»Ja – willst Du denn den Schildbürgern wirklich so heftig auf den Kopf hauen – blos dafür, daß sie einen Titularverein und einen Uniformverein gegründet haben?«
»Ich«, erwiderte Philander, »habe etwas mehr mit den Schildbürgern vor. Ich las hier im Konversationslexikon so viel vom Volksgeiste – und halte es doch für sehr bemerkenswert, daß sich die Schildbürger so kühn vom Volksgeiste emanzipierten, obgleich sie dadurch doch blos Kummer und Elend geerntet haben.«
Kawatko rauchte in langen Zügen und bemerkte dann leise:
»Willst Du vielleicht auch ein Schildbürger werden?«
»Ich werde«, versetzte Philander, »ein Jahr nicht Kaiser sein – und da könnte sich Manches ereignen.«
Da sprang der Zeremonieenmeister auf und drehte sich sechs Mal um sich selbst und schrie:
»Himmel! Wetter! Donner und Hagel! Ich sehe Dich schon – Dich, den Kaiser von Utopia, den die hundert besten Utopianer zu ihrem Kaiser machten – Dich, der Du auch zu den hundert besten Utopianern zähltest – als Oberbürgermeister von Schilda – von Schilda – die Sache kann lieblich werden – lieblich – lieblich.«
Philander stand auf und ging wortlos in seine Privatgemächer; Kawatko starrte ihm wortlos nach und faßte sich langsam an seinen alten Kopf.

 


9. Die Priester

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»Er hat was gegen uns!« sagte der Oberpriester Schamawi.
»Er hat was gegen uns!« sagten bald alle Priester in Ulaleipu – aber sie sagtens leise und unter einander, wenn kein Laie dabei war.
Und der »Er« war Philander der Siebente, Kaiser von Utopia; der Zeremonieenmeister Kawatko hatte von der Audienz mit dem offenen Konversationslexikon – so bestimmte Andeutungen gemacht, daß die gesamte Priesterschaft in große Erregung geriet – und Schamawi wurde aufgefordert, mit Klugheit und mit List im Interesse der Priesterschaft vorzugehen.
Schamawi war ein alter Onkel des Kaisers und auch ein alter Oberpriester, der die Gemüter – auch die erregten – zu lenken verstand.
Nicht ohne Ironie sagte er da lächelnd:
»Meine Herren, wir sind lange Zeit zu sorglos gewesen. Es hat sich in der Tat im Laufe der Zeit die Meinung gebildet, daß das Volk dem großen Volksgeiste immer näher gekommen sei und daß diese Annäherung schließlich eine Verschmelzung hervorrufen dürfte. Schließlich klingt es nicht mehr so unsinnig, wenn Jemand behaupten möchte, wir beten das Volk an und nicht den Volksgeist. Und das ist es, was mein Neffe uns Priestern in die Schuhe schieben will. Wir haben sehr vorsichtig zu sein. Und wir müssen einsehen, daß wir viel versäumt haben – die Rechtspflege durfte nicht ein so populäres Gepräge bekommen – das hätten wir rechtzeitig verhüten müssen.«
Und dann sprach man über die Rechtspflege im Allgemeinen und Besonderen.
Die Rechtspflege lag nun folgendermaßen im Kaiserreich Utopia: Jeder Prozeß wurde nicht mehr endgültig durch die Richter bestimmt – es gab immer noch eine Berufung an das Volk. Auf Staatskosten wurde jeder Prozeß, sobald es von einem Kläger oder Beklagten verlangt wurde, in einer Broschüre eingehend geschildert – diese Broschüre wurde dann gratis verteilt – und dann konnte nach einer neuen Prozeßordnung schließlich das Volk in der Sache das entgiltige Urteil sprechen. In der großen Rechts-Zentrale am Schwantufluß standen sieben kolossale hundert Stock hohe Türme, in denen die juristischen Broschüren verfaßt wurden – und da konnte man leicht erkennen, wie heftig das Volk im Lande Utopia mitsprechen durfte – in allen Angelegenheiten. Und die Priester in Ulaleipu, die den großen Geist anbeteten, der in unserem Leben die entscheidende Führung hat, begannen traurig zu werden, daß sie diesen großen Geist grade »Volksgeist« nennen mußten; das gab immer wieder zu Mißverständnissen Veranlassung.
Und der Kaiser von Utopia sagte zu Kawatko am Sonntag Nachmittag:
»Ich bemerke, daß gerade die Priester versäumt haben, Volk und Volksgeist deutlich von einander zu trennen – es wird ihnen heute garnicht mehr gelingen, diese beiden Begriffe von einander loszulösen. Und daher bin ich geneigt, mich vom Volke zu befreien, und ich gestehe, daß ich mich auch vom Volksgeiste befreien möchte – und das ganz besonders dürfte den Priestern sehr unangenehm sein.«
Und das war auch den Priestern sehr unangenehm.

 


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